Kurzbeschreibung

Am 31. Mai 1869 wurde für den Reichstag des Norddeutschen Bundes ein neues Wahlgesetz verabschiedet. Es führte allgemeines, gleiches, direktes und geheimes Wahlrecht für alle männlichen Einwohner ein. Tatsächlich bestätigte dieses Gesetz Stimmrechte, die für die Reichstagswahlen 1867 bereits gewährt und (zweimal) ausgeübt worden waren. Es wurde später vom Deutschen Reich nach der Reichseinigung von 1871 übernommen. Die unten in Auszügen wiedergegebene Rede wurde genau am Tag der Verabschiedung des Wahlgesetzes im Jahr 1869 gehalten, und zwar auf einer öffentlichen Versammlung des demokratischen Arbeitervereins Berlin. Der Redner ist Wilhelm Liebknecht (1826–1900), der zusammen mit August Bebel (1840–1913) die Sächsische Volkspartei (1866) und im August 1869 den Eisenacher Flügel der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung gründete. Wenngleich Karl Marx häufig darüber klagte, dass Liebknecht seine Lehre nicht gänzlich verstünde, erklärt Liebknecht, weshalb und wie im Plenarsaal des Reichstags gehaltene Reden der revolutionären Sache dienlich sein könnten. Zuvor hatte sich Liebknecht skeptisch über die Partizipation an einer konstitutionellen Monarchie geäußert, deren Parlament so weit entfernt vom Angelpunkt der Macht läge. Er stand außerdem einer anderen frühen Leitfigur des Sozialismus, Ferdinand Lassalle (1825–1864), ablehnend gegenüber, weil dieser einen Fetisch aus dem allgemeinen Wahlrecht gemacht habe. Folglich bemerkt er in der folgenden Rede, „dass die Wahlurne nicht die Wiege des demokratischen Staates werden kann“. Doch Liebknecht wägt das Für und Wider des Themas ab und folgert, dass Wahlen eine wichtige Funktion im anbrechenden Zeitalter der Massenpolitik erfüllten.

Wilhelm Liebknecht zu den Parlamentswahlen als Mittel zur Agitation (31. Mai 1869)

  • Wilhelm Liebknecht

Quelle

Da es mir im Reichstag diesmal nicht gelungen ist, zum Wort zu kommen, habe ich mit doppelter Freude diese Gelegenheit zur Darlegung meines sozial-politischen Standpunkts ergriffen.

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Aber die neue Gesellschaft steht in unversöhnlichem Widerspruch mit dem alten Staat. Im Feudal-, Polizei- und Militärstaat kann sie sich nicht entwickeln. Wer die neue Gesellschaft will, hat daher vor Allem auf Vernichtung des alten Staates hinzuwirken.

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Damit ist die Stellung der Sozialdemokratie zur „Neugestaltung Deutschlands“ gegeben. Die „Tat“ des Jahres 1866 ist für Deutschland, was für Frankreich der Staatsstreich des 2. Dezember 1851 war. Der Staatsstreich Bismarcks, gleich dem Napoleons, richtete sich gegen die Demokratie. Nicht das Gewaltsame dieser Taten ist es, was sie uns verdammenswert macht – denn wie der Fürsten, so ist auch der Völker letztes Wort die Gewalt – sondern daß sie in Frankreich zu Gunsten einer Schar von verworfenen Abenteurern, in Deutschland zu Gunsten eines nicht mehr existenzberechtigten Standes, des Junkertums, begangen wurden.

Der sogenannte „preußische Verfassungskonflikt“ war ein Versuch des Volks, voran der Bürgerklasse, durch parlamentarische Mittel die Staatsmacht zu erlangen. Das Jahr 1866 hat das parlamentarische Ringen zu einer Spiegelfechterei herabgewürdigt, den wahren Kampfplatz auf ein anderes Gebiet verlegt. Der norddeutsche „Reichstag“ hat trotz des allgemeinen Stimmrechts absolut keine Macht, er hat keine beschließende, nur eine beratende Stimme, und kann, weil machtlos, von der Demokratie nicht als Schlachtfeld zur Gewinnung der Macht benutzt werden.

Ebenso wie die französische Demokratie dem Kaiserreich, hat die deutsche Demokratie dem Norddeutschen Bund, mit Allem was drum und dran hängt, negierend, feindlich gegenüber zu stehen. Tritt sie aus dieser negierenden Haltung heraus, so gibt sie nicht bloß ihr Prinzip und damit sich selbst auf, sondern verstößt auch gegen die einfachsten Regeln der Praxis.

Ich komme nun zu der Frage: hat die Demokratie überhaupt zu dem „Reichstag“ zu wählen? Ob wählen oder nicht wählen, ist bei allgemeinem Stimmrecht nur eine Frage der Nützlichkeit, nicht eine Prinzipienfrage. Wir haben ein Recht zu wählen – der Umstand, daß das Recht oktroyiert worden, beraubt uns nicht unseres natürlichen Rechts – und wenn wir einen Vorteil dabei sehen, so wählen wir. Von diesem Gesichtspunkt aus faßten wir in Sachsen bei Berufung des „Reichstags“ die Sache auf. Ein Teil war aus Nützlichkeitsgründen gegen, ein anderer für das Wählen. Für das Nichtwählen wurde geltend gemacht, daß es dem Volk die Rechtlosigkeit klarer zum Bewußtsein bringen, für das Wählen, daß bei Enthaltung der Demokratie die Gegner in den alleinigen Besitz der Rednerbühne gelangen, allein das Wort haben würden, und so leichter das Rechtsgefühl des Volks verwirren könnten. Diese Erwägung schlug durch – man entschied für das Wählen. Meine persönliche Ansicht ging dahin, daß die von uns gewählten Vertreter mit einem Protest in den „Reichstag“ eintreten und ihn dann sofort wieder verlassen sollten, ohne jedoch ihr Mandat niederzulegen. Mit dieser Ansicht blieb ich in der Minorität; es wurde beschlossen, daß die Vertreter der Demokratie jede ihnen passend dünkende Gelegenheit benützen könnten, um im „Reichstag“ ihren negierenden und protestierenden Standpunkt geltend zu machen, daß sie sich aber von den eigentlichen parlamentarischen Verhandlungen fern zu halten hätten, weil dies eine Anerkennung des Nordbunds und der Bismarck’schen Politik einschließt und das Volk nur über die Tatsache täuschen kann, daß der Kampf im „Reichstag“ bloß ein Scheinkampf, bloß eine Komödie ist. An dieser Richtschnur haben wir in der ersten und zweiten Session des „Reichstags“ festgehalten. Bei Beratung der Gewerbeordnung, welche den Hauptgegenstand der gegenwärtigen Session bildete, glaubten einige meiner Parteigenossen im Interesse der Arbeiter und zu propagandistischen Zwecken eine Ausnahme machen zu müssen. Ich war dagegen. Die Sozialdemokratie darf unter keinen Umständen und auf keinem Gebiet mit den Gegnern verhandeln. Verhandeln kann man nur, wo eine gemeinsame Grundlage besteht. Mit prinzipiellen Gegnern verhandeln, heißt sein Prinzip opfern. Prinzipien sind unteilbar, sie werden entweder ganz bewahrt oder ganz geopfert. Die geringste prinzipielle Konzession ist die Aufgebung des Prinzips. Wer mit Feinden parlamentelt, parlamentiert; wer parlamentiert, paktiert. []

Wenn die Demokratie jetzt denselben Fehler begeht, wie vor 6 Jahren die Fortschrittspartei, dann wird die gleiche Ursache die gleiche Wirkung hervorbringen.

Doch auch ganz abgesehen von dem eigentlich politischen Standpunkt hat eine Beteiligung unsrer Partei an den Parlamentsdebatten nicht den mindesten praktischen Nutzen.

Daß bei der Zusammensetzung des „Reichstags“ nicht daran zu denken ist, prinzipiell wichtige Anträge in unsrem Sinn durchzusetzen, das wird mir von vornherein zugestanden werden.

„Aber“, meint der Eine oder Andere, „im Reichtstag haben wir die beste Gelegenheit, die Prinzipien der Sozialdemokratie zu entwickeln“. Gelegenheit dazu haben wir, allein sicherlich nicht die beste, nicht einmal eine gute.

Glauben Sie, daß der „Reichstag“ seine Rednerbühne als Katheder gebrauchen läßt? Nehmen Sie an, ein Marx wollte den Abgeordneten eine Reihe theoretischer Vorträge halten, wie lange, wie oft würde man ihn anhören? Vielleicht Einmal aus Neugierde, aber dann nicht mehr.

An eine gesetzgeberische Einwirkung, wie gesagt, ist nicht zu denken; welchen Zweck soll aber dann, um Himmels Willen, die Darlegung unserer Prinzipien im „Reichstag“ haben? Etwa die Bekehrung der Mitglieder? Diese Möglichkeit ins Auge zu fassen, wäre mehr als kindlich, wäre kindisch.

Eben so praktisch würde es sein, unsere Prinzipien den Meereswogen vorzuplaudern – und nicht so lächerlich. Die Braune und Konsorten wissen sehr gut, was wir wollen. Ihnen gegenüber, wie überhaupt den im Reichstag fast ausschließlich vertretenen herrschenden Klassen gegenüber ist der Sozialismus keine Frage der Theorie mehr, sondern einfach eine Machtfrage, die in keinem Parlament, die nur auf der Straße, auf dem Schlachtfelde zu lösen ist, gleich jeder anderen Machtfrage.

„Ja, an eine Einwirkung auf den ‚Reichstag‘ selbst denken wir auch nicht, was wir wollen, ist, daß die Tribüne des Reichstages dazu benutzt werde, um zu dem Volk da draußen zu reden“.

Recht schön. Auch ich habe die Tribüne des Reichstages seiner Zeit so benutzt, und werde sie seiner Zeit wieder so benutzen. Allein ist sie denn der geeignete Ort für theoretische Entwickelungen? Das Ablesen ist im „Reichstag“ verboten, und Sie werden mir Alle zugeben, daß der geübteste Redner – vorausgesetzt, was im „Reichstag“ nicht der Fall ist, man höre ihn ruhig an – nicht im Stande ist, eine wissenschaftliche Arbeit so vollendet aus dem Kopfe vortragen und den Stenographen zu diktieren, als er sie daheim an seinem Pulte schreiben kann.

„Aber im ‚Reichstag‘ kann er Manches aussprechen, was sonst verpönt ist“.

Das leugne ich. Ich kann im „Reichstag“ Angriffe auf die jetzige politische Ordnung der Dinge machen, die in keiner anderen preußischen Versammlung straflos bleiben würden, doch in sozialer Beziehung, namentlich auf theoretischem Gebiete, gibt es nichts, was nicht anderwärts mit der nämlichen Straflosigkeit gesagt werden könnte. Und sollen wir denn auch den Kampf mit den Gesetzen fürchten? Tatsache ist, daß jeden Tag ungehindert in Preußen weit Revolutionäreres geschrieben und gesprochen wird, als sämtliche Reichstagsreden über die soziale Frage enthalten haben.

Doch angenommen, es gelänge, irgend eine sonst unaussprechbare Wahrheit in den „Reichstag“ einzuschmuggeln – was wäre damit erreicht? Das Gesetz erlaubt unzweifelhaft den freien Abdruck der betreffenden Rede; allein das Gesetz macht auch die Presse, wenn sie bloß Auszüge aus einer Rede, oder eine einzelne Rede anstatt der ganzen Debatte bringt, für jedes Wort der vollständig oder auszüglich abgedruckten Rede verantwortlich. Und die ganzen Debatten nach dem allein berechtigten stenographischen Bericht mitzuteilen, ist selbst den größten Zeitungen aus räumlichen Gründen unmöglich, geschweige denn den kleinen sozialdemokratischen Blättern.

Um die pfiffig in den „Reichstag“ eingeschmuggelten Wahrheiten wieder aus dem „Reichstag“ in’s Volk herauszuschmuggeln, bleibt demnach kein anderes Mittel, als der amtliche stenographische Bericht, der aber wegen seines Umfanges und seines Preises den Massen nicht zugänglich ist.

Was die Arbeiter von Debatten über die soziale Frage erfahren, erfahren sie durch die Arbeiterblätter, und was diese in der Form von Parlamentsberichten bringen, können sie weit besser, viel sorgfältiger ausgearbeitet, in Form von selbstständigen Leitartikeln und Abhandlungen bringen.

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Ich will damit nicht behaupten, daß der parlamentarische Kampf immer und unter allen Umständen zu verwerfen sei. In Perioden chronischer Erschlaffung, wo das Blut schlammartig träg durch den politischen Körper schleicht, wo der niedergeschmetterte Volksgeist auf Jahrzehnte hinaus keine Rettung sieht, in solchen Perioden mag es von Nutzen sein, in irgend einem Parlament ein kleines Freiheitslämpchen zu pflegen, das hell hineinscheint in die umringende Nacht.

Und wenn das Volk, wenn die „Arbeiterbataillone“ gerüstet an den Toren des Parlaments stehen, dann kann vielleicht ein von der Tribüne geschleudertes Wort, zündend wie ein elektrischer Funke, das Signal zur befreienden Tat geben.

Aber jetzt sind wir, Gott sei Dank, nicht mehr in einer Zeit der chronischen Versumpftheit – leider noch nicht am Vorabend einer aus dem Innern des Volkes hervorquellenden Tat.

Ich unterschätze nicht die Bedeutung des mündlichen Wortes. Allein in Zeiten der Krise, in Zeiten, wo eine Welt im Absterben, eine andere im Entstehen ist, gehören die Vertreter des Volks unter das Volk. Ich für meinen Teil halte es nicht bloß für ehrenvoller, sondern auch für ersprießlicher, in einer Versammlung rechtschaffener Arbeiter zu reden, als in jener auf den Wink eines Recht und Menschen verachtenden Staatsmannes zusammengelaufenen Gesellschaft von Junkern, Apostaten und Nullen, die Norddeutscher „Reichstag“ genannt wird.

„Aber der ‚Reichstag‘ ist das Kind des allgemeinen Stimmrechts. Das allgemeine Stimmrecht ist der Wille des Volkes, und als Demokratie müssen wir den Willen des Volkes, folglich den ‚Reichstag‘ achten“.

In diesem Raisonnement, das ziemlich gewöhnlich ist, begegnet uns jene unverständige Überschätzung des allgemeinen Stimmrechts, die, hauptsächlich auf Lassalles Autorität sich stützend, zu einem förmlichen Götzendienst geworden ist. Namentlich in Norddeutschland halten Viele das allgemeine Stimmrecht für die wundertätige Springwurzel, welche den „Enterbten“ die Pforten der Staatsgewalt öffnet; sie leben in dem Wahne, sich mitten im Polizei- und Militärstaat an dem allgemeinen Stimmrecht, wie weiland Münchhausen an seinem Zopf, aus dem Sumpf des sozialen Elends herausheben zu können. Münchhausens Zopf sollte ihr Hinterhaupt schmücken.

Gewiß, das allgemeine Stimmrecht ist ein „heiliges Recht“ des Volkes, eine Grundbedingung des demokratischen, des sozialdemokratischen Staates. Allein vereinzelt, losgetrennt von der staatsbürgerlichen Freiheit ohne Preßfreiheit, ohne Vereinsrecht, unter der Herrschaft des Polizei- und Soldaten-Säbels – mit einem Wort: im absolutistischen Staate kann das allgemeine Wahlrecht nur Spiel- und Werkzeug des Absolutismus sein.

Als Bonaparte die Republik gemeuchelt hatte, proklamierte er das allgemeine Stimmrecht.

Als Graf Bismarck dem preußischen Junkerpartikularismus den Sieg verschafft, als er durch seine 1866er „Erfolge“ das liberale Bürgertum in Preußen überwunden und Deutschland zerrissen hatte, tat er, was sein Vorbild 15 Jahre vorher getan – er proklamierte das allgemeine Stimmrecht.

Bei beiden Gelegenheiten besiegelte die Proklamierung, die Oktroyierung des allgemeinen Stimmrechts den Triumph des Despotismus. Das allein müßte den naiven Schwärmern des Evangeliums vom allgemeinen Stimmrecht die Augen öffnen.

Auf die Motive Bonapartes einzugehen, ist hier nicht der Ort. Was den Grafen Bismarck anbelangt, so liegen seine Beweggründe klar zu Tage.

Das Dreiklassenwahlsystem, undemokratisch und antidemokratisch wie es ist, hat doch zugleich einen antifeudalen Charakter, weil es den Schwerpunkt der parlamentarischen Vertretung in die besitzenden Klassen verlegt, die, wenn auch stets bereit, mit dem Absolutismus Front zu machen gegen die Arbeiter, gegen die Demokratie, dennoch, mit Ausnahme der Großgrundbesitzer, Feinde des absolutistischen Staats, und bis zu einem gewissen Punkt „liberal“ sind. Das liberale Abgeordnetenhaus, das Produkt des Dreiklassensystems war der Junkerregierung unbequem. Es galt ein Gegengewicht zu schaffen, und dies fand sich im allgemeinen, direkten und gleichen Wahlrecht.

Wie Wenige sind in dem heutigen Polizeistaat, in dem Staat der geistigen und der militärischen Dressur geistig und materiell unabhängig? Macht doch die Bauernbevölkerung allein, die hier zu Land dem Wink der Behörden willenlos gehorcht und gehorchen muß, zwei volle Drittel der gesamten Einwohnerzahl aus.

Dies berechnete Graf Bismarck, und er verrechnete sich nicht. Durch das allgemeine Stimmrecht fegte er die Opposition der besitzenden Klassen aus dem Weg und erlangte eine fügsame Reichstagsmajorität, wie sie das Dreiklassenwahlsystem ihm nimmermehr gegeben hätte.

Also nicht als Hebel der Demokratie, sondern als Waffe der Reaktion wurde das allgemeine Stimmrecht oktroyiert.

Es steht unter der vollständigsten Kontrolle der Regierung – hier noch viel mehr als in Frankreich, wo das Volk politisch mehr geschult ist, wo es drei Revolutionen hinter sich hat und die vierte vor sich. Man kann mit Sicherheit behaupten, daß in Preußen kein Abgeordneter in den „Reichstag“ gewählt werden kann, dessen Kandidatur die Regierung ernsthaft bekämpft. [] Nehmen wir an, es tritt ein Kandidat auf, den die Regierung durchaus nicht in dem „Reichstag“ haben will: sie konfisziert die Zeitungen, die seine Wahl empfehlen – gesetzlich; sie konfisziert die Wahlaufrufe – gesetzlich; sie verbietet die Wählerversammlungen – gesetzlich; oder sie erlaubt die Wählerversammlungen und löst sie dann auf – gesetzlich; sie verhaftet die Fürsprecher des Kandidaten – gesetzlich; sie verhaftet den Kandidaten selbst – gesetzlich. Verhaftete man doch neulich sogar einen „Reichstagsabgeordneten“, und würde doch derselbe noch heut im Gefängnis sitzen, wenn die Nationalliberalen nicht durch ein Lächeln Bismarcks von der Harmlosigkeit des „Märtyrers“ überzeugt worden wären.

Aber angenommen, die Regierung mache von ihrer Macht aus Kraftgefühl oder Berechnung keinen Gebrauch, und es gelinge, wie das der Traum einiger sozialistischen Phantasiepolitiker ist, eine sozialdemokratische Majorität in den Reichstag zu wählen – was sollte die Majorität tun? Hic Rhodus hic salta. Jetzt ist der Moment, die Gesellschaft umzugestalten und den Staat. Die Majorität faßt einen weltgeschichtlichen Beschluß, die neue Zeit wird geboren – ach nein, eine Compagnie Soldaten jagt die sozialdemokratische Majorität zum Tempel hinaus, und lassen die Herren sich das nicht ruhig gefallen, so werden sie von ein paar Schutzleuten in die Stadtvoigtei abgeführt und haben dort Zeit, über ihr donquixotisches Treiben nachzudenken.

Revolutionen werden nicht mit hoher obrigkeitlicher Erlaubnis gemacht; die sozialistische Idee kann nicht innerhalb des heutigen Staats verwirklicht werden; sie muß ihn stürzen, um ins Leben treten zu können.

Kein Friede mit dem heutigen Staat!

Und weg mit dem Kultus des allgemeinen und direkten Wahlrechts!

Beteiligen wir uns nach wie vor energisch an den Wahlen, aber benutzen wir sie bloß als Agitationsmittel, und versäumen wir ja nicht, hervorzuheben, daß die Wahlurne nicht die Wiege des demokratischen Staats werden kann. Das allgemeine Stimmrecht erlangt seinen bestimmenden Einfluß auf Staat und Gesellschaft erst nach Beseitigung des Polizei- und Militärstaats.

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Quelle: Wilhelm Liebknecht, Über die politische Stellung der Sozialdemokratie insbesondere mit Bezug auf den Reichstag. Ein Vortrag, gehalten in einer öffentlichen Versammlung des Demokratischen Arbeitervereins zu Berlin am 31. Mai 1869, 3. unveränd. Ausg. Leipzig: Genossenschaftsbuchdruckerei, 1874, S. 3–16; abgedruckt in Peter Wende und Inge Schlotzhauer, Hrsg., Politische Reden II. 1869–1914. Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag, 1990, S. 9–27, hier 9–22.