Kurzbeschreibung

Zwischen Bismarcks Rücktritt im März 1890 und der Veröffentlichung dieses Aufsatzes durch den Historiker und Publizisten Hans Delbrück (1848–1929) im Jahr 1912 waren allmählich Beweise für Bismarcks Pläne aufgetaucht, eine Krise zu schüren – eine parlamentarische, konstitutionelle und möglicherweise auch militärische Krise –, die seinen Verbleib im Amt für den jungen Kaiser Wilhelm II (1859–1941) unabdingbar gemacht hätte. Die Veröffentlichung persönlicher Memoiren führender politischer Persönlichkeiten dieser Zeit, darunter die des dritten deutschen Kanzlers Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst (von Delbrück erwähnt), machte deutlich, welche extremen Maßnahmen Bismarck damals ins Auge fasste. Seine Pläne, das allgemeine Männerwahlrecht abzuschaffen (oder zumindest zu revidieren), sich eines oppositionellen Reichstags zu entledigen und die Sozialdemokraten zu gewalttätigen Straßenprotesten zu treiben, waren nur die aufsehenerregendsten Intrigen, die sich hinter den Kulissen abspielten. Noch in den 1960er und 1970er Jahren diskutierten Historiker über Bismarcks angebliche Staatsstreichpläne von 1890.

Hans Delbrück, „Bismarcks letzte politische Idee“ (1912)

Quelle

[] In welcher Art hat der Kanzler [1890] das Wahlrecht zum Reichstag reformieren wollen?

[]

Bismarck stand im Jahre 1890 jener ihm von Grund aus feindlichen Reichstagsmajorität gegenüber, die ihm schließlich [1895] sogar den einfach-menschlichen Glückwunsch zum 80. Geburtstag versagte. Noch am Schluß seiner „Gedanken und Erinnerungen“ charakterisiert er das Zentrum als die Partei, die „berechnet sei auf die Zerstörung des unbequemen Gebildes eines Deutschen Reichs mit evangelischem Kaisertum“, und die Freisinnigen als „Krypto-Republikaner“. Im Jahre 1887 war es ihm noch einmal gelungen, die Majorität, die jene Parteien zusammen mit den Polen und Sozialdemokraten bildeten, zu zerbrechen, aber es war keine Aussicht, daß das noch einmal gelingen konnte. Der Turm des Zentrums war unerschütterlich, Eugen Richter an der Spitze der Freisinnigen unnahbar und die Sozialdemokratie wuchs und wuchs. Bitter beklagte sich der Schöpfer des allgemeinen Stimmrechts über den Mangel an nationaler Gesinnung im deutschen Volk, aber was sollte er tun? „Get you home, you fragments“ ruft er auf dem Schlußblatt seiner „Gedanken und Erinnerungen“ mit Coriolan den Fraktionen zu und wendet sich vom Volke zu den Dynastien, denen er „Abbitte leiste“.

Er hat von Rückkehr zum alten Bunde gesprochen[1] von einer Reduzierung des Reichs auf ein bloßes Zoll- und Kriegsbündnis ohne Reichstag, von Kaltstellung des Reichstages unter Anlehnung an die Landtage, aber unter den mannigfachen herüber- und hinüberfliegenden Gedanken, in denen Bismarck die „reichsfeindliche Mehrheit Windhorst-Richter-Grillenberger“ niederzuringen gedachte, blieb er, wie ich schon im Jahre 1908 darlegte, schließlich bei einer Aenderung des Wahlrechts, als dem einzigen Modus, der nicht bloß einen provisorischen Notbehelf, sondern eine dauernde, brauchbare Machtverteilung in Aussicht stellte. Wie sollte diese Aenderung aussehen?

Weder ein Zensus, noch eine Klassenwahl, noch ständische Ordnungen, noch Delegationen aus den Landtagen sollten das allgemeine, gleiche, direkte, geheime Stimmrecht ersetzen. Aber ein Ausnahmegesetz sollte allen notorischen Sozialdemokraten, die, wie es im Sozialistengesetz formuliert war, den „Umsturz der bestehenden Staats- oder Gesellschaftsordnung bezwecken“, das aktive und passive Wahlrecht entziehen, und um das durchführen zu können und die gegebenen sozialen Abhängigkeiten voll zur Wirksamkeit kommen zu lassen, sollte an die Stelle der geheimen Abstimmung die öffentliche treten.

Die Einschränkung des allgemeinen Stimmrechts wäre also [] keine generelle gewesen, sondern hätte bestanden in der Entrechtung einer besonderen Partei, nämlich der sozialdemokratischen, sofern man nicht schon in der Oeffentlichkeit der Wahl auch eine generelle Beschränkung des Wahlrechts sehen will, da sie den sozial Schwächeren allenthalben den Gebrauch des Rechts unterbindet.

Die Durchführung eines solchen Gesetzes kann man sich unschwer vorstellen. Die Behörden legen Listen der notorischen sozialdemokratischen Revolutionäre an, eine unparteiische richterliche Behörde entscheidet etwaige Beschwerden und bürgt dafür, daß das Gesetz nicht auf andere Parteien ausgedehnt wird. Wenn allen in dieser Art Proskribierten die politischen Rechte aberkannt sind, liegt es in der Hand der Regierung, ob sie die sozialdemokratische Partei ganz aus dem Reichstag verschwinden lassen oder sie auf eine kleine Gruppe von Harmloseren reduzieren will.

Den Rechtsgrund für die Ausschließung der Sozialdemokraten von den politischen Rechten [] hat Bismarck, der alte Deichhauptmann, öfter zum Ausdruck gebracht mit dem Satz „was nicht will deichen, das muß weichen“. Wer die Rechtsgrundlagen des Staates nicht anerkennt, kann nicht zu dessen Mitregierung berufen werden. Die Sozialdemokratie hat keinen moralischen Anspruch auf Stimmrecht und Sitz im Reichstag, da dieser bestimmt ist, für das Wohl des Reiches zu arbeiten, jene Partei aber nicht das Wohl, sondern die Zerstörung dieses Reiches will.

Bismarck hat diesen Gedanken schon im Jahre 1878 in einem Brief an Tiedemann entwickelt;[2] dann hat er ihn kurz vor der Krisis (am 15. Dezember 1889) gegen den Fürsten Hohenlohe ausgesprochen[3] und wiederum bald nachher, am 30. Oktober 1892 gegen den Direktor Kaemmel, der ihn in Friedrichsruh besuchte.[4] Diesem sagte er: „In Rom war aquae et igni interdictus, wer sich außerhalb der Rechtsordnung stellte, im Mittelalter nannte man das ächten. Man müßte die Sozialdemokratie ähnlich behandeln, ihr die politischen Rechte, das Wahlrecht nehmen. So weit würde ich gegangen sein.“

Wenn wir nun von [Otto von] Helldorff, dem ihm damals nahestehenden Führer der Konservativen, wissen, daß der Kanzler ihm in hoher Erregung und im höchsten Ernst einmal gesagt habe, „ich will die letzten Jahre meines Lebens daran setzen, den schwersten Fehler wieder gut zu machen, den ich begangen“, nämlich die Einführung des allgemeinen Wahlrechts,[5] so werden wir jetzt kaum noch zweifeln dürfen, daß das „Wiedergutmachen“ eben in der Oeffentlichkeit der Abstimmung und in der Entrechtung der Revolutionäre bestehen sollte.

In fast überraschender Weise kommt hier der alte Bismarck wieder in Harmonie mit dem werdenden, und aus dem anscheinenden Widerspruch, daß der Staatsmann, der das allgemeine Wahlrecht geschaffen, es wieder beseitigen wollte, steigt empor die Konstanz der großen Individualität. Hermann Oncken hat jüngst in diesen „Jahrbüchern“ (Oktober-Heft 1911) gezeigt, wie Bismarck in der Konfliktszeit den Gedanken gewälzt hat, in Preußen das Klassenwahlrecht durch Oktroyierung des allgemeinen, gleichen, direkten Stimmrechts zu ersetzen. Zwar hat Bismarck später in einer Reichstagsrede (17. September 1878) solche Pläne in den stärksten Worten abgeleugnet, aber die Beweise Onckens sind so deutlich, daß eine entgegengesetzte Aussage fünfzehn Jahre später unter einer völlig veränderten politischen Situation sie nicht wohl aus der Welt schaffen kann. Auch noch später, z. B. in einem Gespräch mit [Franz von] Rottenburg,[6] hat Bismarck sich positiv zum allgemeinen Stimmrecht bekannt und hat es keineswegs bloß als Kampfmittel 1866, um Oesterreich dadurch bei der Demokratie aus dem Sattel zu heben, opportunistisch in Gebrauch gesetzt. Wenn er es nun doch am Ende seiner Laufbahn als einen Fehler bezeichnete, so konnte das freilich sehr leicht damit begründet werden, daß die Erfahrung ihn eben eines Besseren belehrt hatte aber jetzt sehen wir, daß man so weit gar nicht einmal zu gehen braucht, daß die prinzipielle Verteidigung des allgemeinen Wahlrechts, die sich auch in den „Gedanken und Erinnerungen“ noch findet (II, 58), sich mit der Modifikation, die er jetzt beabsichtigte, ganz gut verträgt. Was davon brauchbar war, wollte er ja bestehen lassen, und für die öffentliche Abstimmung war er von je eingetreten. Er hatte bei seiner Einführung das allgemeine Wahlrecht einst damit begründet (in einem Briefe an den Botschafter Grafen Bernstorff v. 19. April 1866), daß dadurch die höchste Gewalt mit den gesunden Elementen, welche den Kern und die Masse des Volkes bilden, in Berührung gebracht werde; „in einem Lande mit monarchischen Traditionen und loyaler Gesinnung wird das allgemeine Stimmrecht, indem es die Einflüsse der liberalen Bourgeoisie-Klasse beseitigt, auch zu monarchischen Wahlen führen.“ In einem Briefe an den hannoverschen Gesandten Platen hatte er 1865 die Wendung gebraucht: „wenn ich z. B. hier in Preußen von meinem Gute 100 Arbeiter zur Wahlurne schicken könnte, so würden die jede andere Meinung im Dorfe totstimmen.“[7] Diesen 100 Landarbeitern, die bei öffentlicher Abstimmung ganz an die Direktive ihres Arbeitgebers gebunden sind, gedacht er auch 1890 keineswegs das Stimmrecht zu nehmen. Nicht prinzipiell, sondern nur praktisch, durch ein Ausnahmegesetz und durch die Oeffentlichkeit, sollte das allgemeine Stimmrecht eingeschränkt werden. Ausgeschlossen wurde also nur die neu aufgekommene Macht der städtischen Fabrikarbeiter, die sich dem Einfluß ihrer Arbeitgeber entzogen haben, bestehen aber blieb das Stimmgewicht der ländlichen Masse und damit das Gegengewicht gegen die liberale Bourgeoisie, deren Vorherrschaft ihm ebenso wenig erwünscht war, wie die Sozialdemokratie, und die er 1863 eben durch die Einführung des allgemeinen gleichen, aber öffentlichen Stimmrechts niederzukämpfen gedacht hatte. Die Grundanschauung und Grundstimmung des Staatsmannes der Konfliktszeit Wilhelms I. und Wilhelms II. ist dieselbe geblieben und die Lust, sich durch einen Gewaltstreich durchzusetzen ebenfalls.

Denn daß an eine friedliche Durchsetzung, sei es der öffentlichen Abstimmung, sei es der politischen Entrechtung der Sozialdemokraten, nicht zu denken war, liegt auf der Hand. Der Kartell-Reichstag (1887–1890), in dem die Konservativen mit den Nationalliberalen zusammen die Majorität hatten, hatte ihm nicht einmal das Sozialistengesetz in der gewünschten Weise verlängert, noch viel weniger hätte er ihm die öffentliche Abstimmung und die Entrechtung der Sozialdemokraten zugestanden, und wiederum noch viel weniger hätte das der nächste Reichstag getan, der jetzt (1890) zusammentrat, und in dem die Demokraten mit dem Zentrum zusammen die Majorität hatten, und keine noch so oft wiederholte Auflösung, auf welche Wahlparole auch immer, hätte eine solche Majorität ergeben. Nicht einmal die Nationalliberalen und nicht einmal alle Freikonservativen wären dafür zu gewinnen gewesen. [] Nein, ohne Gewalt war auf dem Bismarckschen Wege nicht durchzukommen, und der Entschluß dazu wurde ihm um so leichter, als er glaubte, daß es auf jeden Fall zu militärischem Einschreiten gegen die Sozialdemokraten kommen müsse. Noch 1892 hat er in den „Hamburger Nachrichten“ erklären lassen, daß er eben deshalb selber Caprivi zum preußischen Ministerpräsidenten vorgeschlagen habe, nicht um seiner politischen Ansichten willen, sondern weil es „auf die persönliche Tapferkeit und die sonstigen Charaktereigenschaften des Individuums angekommen sei“. Er habe einen Konfliktminister nach der Art des Grafen Brandenburg im November 1848 ins Amt bringen wollen, der zugleich den Justiz-, Polizei- und Kriegsminister habe festmachen können. Gegen Sozialdemokraten gebe es kein anders Mittel als „Blut und Eisen“, und daß tatsächlich bis dahin (1892), kein Blutvergießen stattgefunden, beweise nicht, daß er sich geirrt habe, denn dafür seien zwei Jahre eine zu kurze Frist.

Wie paßt das alles ineinander: künstliches Zu-Fall-bringen des Sozialistengesetzes, dadurch Reizung der Sozialdemokratie zu Uebermut, Einbringen einer großen Militärvorlage, Revolten und Straßenkämpfe in Berlin, Berufung eines Eisenarmes als Ministerpräsidenten, Auflösung des Reichstags, Proklamation des Kaisers und der Fürsten, daß das Reich so nicht bestehen könne, Ersetzung der geheimen Abstimmung durch die öffentliche und Entrechtung der Sozialdemokraten!

[]

Was die Folge der Staatsstreich-Politik gewesen wäre, habe ich bereits in dem Aufsatz vom Dezember 1906 dargelegt, ehe ich wußte, wie sich Bismarck die gewaltsame Wahlreform gedacht hatte, aber es wird dadurch nichts verändert, denn das Entscheidende liegt in dem Akt selbst, der Gewalttat, dem Verfassungsbruch. Der durch die Ausschließung der Sozialdemokratie gereinigte Reichstag wäre zwar vielleicht eine für die Wehr- und Steuerkraft des Reiches brauchbare und zuverlässige Volksvertretung geworden, aber zugleich auch eine völlig wertlose, eine bloße Abstimmungsmaschinerie, denn zu einer Volksvertretung gehört, daß auch jede Art von Opposition, die nun einmal im Volke lebt, auch vertreten sei. Auch die Regierungsparteien wären nicht mehr geblieben, was sie waren, da ja ihre Existenz in jedem Augenblick daran hing, ob die Regierung die durch den Staatsstreich geschaffene Lage aufrecht erhielt oder etwa wieder aufgab oder anderweit modifizierte. Freilich ist der Satz, daß zur Mitregierung eines Staates nur berufen werden sollte, wer wirklich das Wohl dieses Staates will, schwer anzufechten, aber ihm steht der andere gegenüber, daß zu einer Volksvertretung notwendig alle Parteien gehören, die einmal vorhanden sind. Die Ausschließung einer bestimmten Partei greift noch viel tiefer ein in die Idee einer Volksvertretung, verletzt das Prinzip des allgemeinen Stimmrechts noch viel stärker als etwa ein Zensus oder das Klassenwahlrecht. Die Beschränkung ist noch viel empfindlicher, die Ausdehnungsfähigkeit des Begriffs der „Reichsfeindschaft“ gar zu gefährlich. [] Auch in Deutschland würde eine Staatsstreichpolitik im Jahre 1890, sei es in dieser, sei es in jener Form, sei es durch „Kaltstellung“ des Reichstages und Appell an die Partikular-Staaten, sei es durch gewaltsame Aenderung des Wahlrechts das Reich in unabsehbare Wirren gestürzt, jede gesunde Wirtschafts- und Sozialpolitik, jede Finanzreform, die Armeereform, die Schaffung der Flotte unmöglich gemacht haben. Der verstümmelte Reichstag wäre nur noch eine Dekoration für den reinen Absolutismus gewesen. Heil uns, daß wir vor dieser Fahrt in den Abgrund bewahrt geblieben sind! Vielleicht gibt es Politiker, die in diesem Punkte anders urteilen und glauben, daß das Deutsche Reich bei Ausmerzung der Sozialdemokratie aus der Volksvertretung einen besseren Gang gegangen wäre, als es tatsächlich gegangen ist. Darüber gibt es keine Entscheidung. Auf jeden Fall aber verliert auch bei meiner Auffassung Bismarck als historische Persönlichkeit nichts im Vergleich mit jener älteren, die in ihm überhaupt einen positiven Gedanken nicht mehr zu entdecken vermochte. Aber es ist nicht wahr, daß er bloß noch der alte Mann war, der nicht mehr wußte, was er tun sollte und nur noch an der jüngeren Welt, die ihm nachgefolgt war, herumnörgelte. Nicht in dem langsamen Absterben und Verlöschen des Philisters ist er dahingegangen, sondern das tragische Ende des Heros, der in einem letzten großen Kampf mit sich selbst und seinem Werk in Widerspruch gerät, ist ihm beschieden gewesen und hat er sich selber bereitet.

[]

Anmerkungen

[1] Hohenlohe, Denkwürdigkeiten II, 320.
[2] Ged. u. Erin. Bd. II S. 190.
[3] Denkwürdigkeiten II, 462.
[4] Veröffentlicht Grenzboten 1907, I 123.
[5] Veröffentlicht Preuß. Jahrb. Bd. 133, S. 336.
[6] Deutsche Revue, Bd. 31, S. 277.
[7] Oncken, S. 130.

Quelle: Hans Delbrück, „Bismarcks letzte politische Idee“, Preußische Jahrbücher, Bd. 147, Heft 1 (Januar-March 1912): S. 1–12.