Kurzbeschreibung

Mit seinem Buch Berlin (1846) lieferte der sozialistische Autor Ernst Dronke (1822–1891) ein facettenreiches Porträt des Lebens in der preußischen Hauptstadt in der Anfangsphase ihrer durchgreifenden Urbanisierung. Die Textpassage beschreibt die widersprüchlichen Ansichten der Zeitgenossen über die Vor- und Nachteile städtischer Lebenschancen und der Anonymität in der Stadt, das breite Spektrum sozialer Verhaltensweisen der Stadtbewohner und, nicht zuletzt, auch das Elend der untersten Schichten im aufstrebenden Kapitalismus.

Ernst Dronke, Auszüge aus Berlin (1846)

  • Ernst Dronke

Quelle

Die Lokomotive pfeift. Von Trebbin, der letzten Station der Anhaltischen Eisenbahn, zieht es sich noch beinahe fünf Meilen lang gleichförmig, ununterbrochen fort, aber schon hier zeigt uns die Gegend die nähernde Nähe des großen, traurigen Sandmeeres, in dessen Mitte die große Stadt gleichsam als eine Oase liegt. Hinter uns, so flach und eintönig auch die Landschaften waren, boten sich doch zuweilen lachende Auen und grüne Waldstriche den Blicken dar; hier aber streckt sich unabsehbar eine graue, dürre Heide vor uns aus, nur manchmal von vergelbtem Kartoffelkraut und einsamen, zwergartig verkümmerten Heidesträuchern besetzt. Den Eisenbahnzug begleiten dichte Wolken eines feinen, scharfen Staubes, welche dem Reisenden fast mitleidig den traurigen Anblick dieser Fahrt verhüllen. Keine freundliche Meierei, keine lachenden Felder, nicht einmal Fahrgleise von Wagen oder Fußsteige gewahrt man stundenweit in dieser Gegend, welche fast von allen verlassen wird, um Ersatz in der Stadt selbst zu suchen. Es ist öde und still ringsum, ein trauriges Bild; und doch charakteristisch, passend als Vorhof oder Vorbereitung für die nahe Stadt. Diese flache, unfruchtbare Ebene mit dem ätzenden Staub, in deren Boden der Wanderer beinahe versinkt, mag den Fremden beim ersten Anblick an das Berliner geistige Element erinnern. Es ist ihm das Bild unfruchtbarer Kritik, in deren Boden von alters her die Mistbeet- und Treibhausblümchen der Dichter oder Künstler nicht gedeihen noch sich selbständig entwickeln konnten, wo der Staub der Vergessenheit bis in die neueste Zeit so manche Größe bedeckte. Wer aber aus andern Gegenden, aus Thüringen oder vom Rhein, hierherkommt, wird sicher von einem Gefühl der Trauer oder Wehmut überfallen. Der Anblick dieser öden, gelben, schweigenden Heide, wo selbst im hohen Sommer die armen Vögel kaum ihre Nahrung finden, übt einen seltsamen Eindruck auf uns, vielleicht auch ist es der scharfe Staub, der uns in die Augen fliegt [] doch Geduld! Schon nähern wir uns mehr und mehr der Stadt, die uns in ihren eigenen Schöpfungen Ersatz bieten soll für die stiefmütterliche Behandlung der Natur.

In einiger Entfernung gewahren wir einzelne Hüttendächer benachbarter Dörfer, und zur Rechten taucht die Spitze eines Monuments auf einer niedrigen Anhöhe auf: der Kreuzberg, auf dem die Berliner im Sommer ihre schöne Natur genießen. Noch ein langer schrillender Pfiff, und die Wagen rollen durch eine lange Reihe von Gebäulichkeiten, an hüttenartigen Tabagien vorbei und in den Bahnhof hinein. So ist man denn in der Stadt der Intelligenz angekommen. An der Auffahrt stehen dichte Haufen von Leuten jeden Schlages, an der Spitze aber einige Polizeibeamte. Diese Einrichtung ist sehr zweckmäßig; die roten Kragen, auf welche der erste Blick fällt, sind das lebendigste Warnungsschild, zu bedenken, wo man sich befindet. Hinter diesen bemerkt man anständig gebildete Herren von zweifelhaftem Aussehen, und Ihr werdet recht tun, beim Vorüberstreifen dieser Leute Eure Hände fest in die Taschen zu drücken. Seid Ihr an diesen vorüber, so begegnen Eure Augen wohl einigen lieblichen, zarten Mädchengesichtern, deren keuscher Blick und ebenso eleganter wie geschmackvoller Anzug den Unerfahrenen in ehrfurchtsvollen Schranken halten; vielleicht auch fällt einer dieser Blicke voll tiefem Ausdruck auf Euch, und Ihr werdet plötzlich mit Lebhaftigkeit angegangen:

„Heinrich, Franz, Jonathan, Nepomuk! — Bist Du endlich da, ich habe Dich erwartet!“

Ihr blickt überrascht auf, da keiner dieser Namen Euch gehört, und die schöne Unbekannte schlägt errötend über ihren Irrtum, die Folgen einer täuschenden Ähnlichkeit, die Augen nieder; am Tage darauf aber werdet ihr beide mit sehr vergnügtem Ausdruck bei Kroll oder an einem andern öffentlichen Orte sitzend und trotz Heinrich, Jonathan und Nepomuk miteinander Champagner trinkend, zu sehen sein. Das sind mitunter so die ersten Erfahrungen der Ankunft. Seid Ihr ihnen glücklich entschlüpft, so fahrt Ihr nach Eurem Absteigequartier und betrachtet unterwegs die großen, breiten Straßen mit den prächtigen, palastähnlichen Gebäuden. Aber wie sollt Ihr einen Gesamteindruck dieses großen, aus so verschiedenen Elementen zusammengesetzten Ganzen erhalten?

Ihr habt keine Zeit, Euch lange mit einer einzelnen Stadt zu beschäftigen; das Leben ist kurz, und die Schnelligkeit der heutigen Reisen noch viel zu langsam. Heute Paris, morgen London; jetzt Rom, dann Berlin; darauf Petersburg und von dort nach Texas; zugvögeln im Norden und gähnend zurückkehren aus Ägypten; muß man zu dem allem nicht die Zeit im Fluge benutzen? Ein schnelles Urteil, einen kurzen Eindruck und dann weiter.

Das erste ist die Äußerlichkeit einer Stadt, welche uns gewöhnlich auch eine Vorstellung von dem inneren Leben und Treiben zu geben pflegt. Die hohen Giebelhäuser, die abendlichen Versammlungen der Familien auf den Bänken vor der Haustür, die rauschenden Brunnen auf dem Markt, und was alles die süddeutschen Städte charakterisiert, sagt uns sogleich, daß wir es hier mit dem patriarchalischen Wesen des Katholizismus zu tun haben; in Berlin, beim Anblick der großen, graden Straßen, der abgeteilten Viertel, die wie Soldaten aufmarschiert stehen, der hellen Häuser, wissen wir, in welchem modernen Geist wir uns befinden.

In den Gegenden, wo die kleine Bourgeoisie wohnt, sind die Häuser wohlansehnlich und fast denen des aristokratischen Stammlagers gleich, aber sie stehen hier auf schlechtem Grund; der Boden ist sumpfig, und nicht selten senken sich die Wände der Gebäude, stürzen wohl gar ein oder müssen nach einigen Jahren abgerissen werden. Diesem Ausdruck gemäß zeigt sich auch das Leben des sogenannten Mittelstandes in Berlin. Äußerlich glänzend jagen sie Vergnügungen nach, prunken nach außen hin, an allen öffentlichen Orten, mit Üppigkeit und Pracht, während ihr häusliches Leben zugrunde gerichtet ist. Man kann nie sicher sein, ob die Familien, welche bei Konzerten, öffentlichen Vergnügungen und so weiter in Samt und Seide einherrauschen, nicht eben zu diesem Vergnügen ihr Mittagbrot aufgeben oder die notwendigsten Bedürfnisse, Betten und Möbel, opfern mußten. — Draußen vor dem Hamburger Tor ist es düster und unheimlich, hier sind die Hütten des Elends und der Verzweiflung — und doch richten sich hierher manche Augen aus dem rauschenden, vergnügungssüchtigen Treiben der innern Stadt, man hat größere, bessere Wohnungen dort eingerichtet, und fast scheint es, als ob eine neue Stadt aus diesem ausgestoßenen Teil entstehen wolle. Die Zukunft wird lehren (wie es zum Teil, wenn auch nur selten und leise, die Vergangenheit angedeutet), welcher Geist von hier über die Stadt ersteigen wird.

In dem bewegten öffentlichen Leben zeigt sich das Wesen der großen Stadt, und das großstädtische Element ist vielleicht der einzige, aber auch der schätzbarste Vorzug, welchen der Aufenthalt in Berlin gewährt. Die verschiedenen Parteien stellen Berlin je nach ihrer Parteiansicht dar, und es ist oft lächerlich, solche Urteile von Leuten zu hören, welche die Stadt nie gesehen.

„Das ist das moderne Babel“, sagt der Pietist, sich bekreuzigend, „der Brandkessel des Radikalismus, der Sündenpfuhl der Demoralisation, wo alle Bande bereits gelöst sind, und den Leuten nichts heilig ist, nicht Gott, nicht Kirche, nicht Vaterland, nicht einmal die heiligsten Familienbande, nicht Ehe, nicht Pflichtgefühl.“

„Das ist der Herd der Reaktion“, sagen die Freisinnigen, „wo die Regierung den Pietismus hätschelt, die freie Wissenschaft unterdrückt und ihre Kreaturen vor jedem Ehrliebenden bevorzugt. Hier nistet das Heer von Beamten, welches jeden Rechtsgang unmöglich macht, hier ist das Nest, wo die sauberen Maßregeln gegen den Fortschritt der Zeit ausgebrütet werden, wo die Polizeispione jeden verfolgen, wo ein übermütiger Adel sich breitmacht, wo man die Leute auf den Gassen verwundet und bald die russische Knute einführt.“

„Hier ist die Stadt des Preußentums“, sagte der gemütliche Süddeutsche, „wo alles nörgelt und krittelt, wo alles altklug ist und man nur kalten Verstand findet, aber kein Gemüt!“

„Es ist die Stadt des Preußentums“, fügt der Rheinländer hinzu, „wo die protestantische Regierung sich so schön in dem Wesen eines nüchternen Geistes spiegelt.“

„Es ist die Pflanzschule des Pietismus, wo man englische Sabbatstrenge einführt, Magdalenenstifte gründet, bald auch katholische Prozessionen und Kirchenbußen anstellen wird.“

„Es ist die Stadt der Entartung, wo die Regierung selbst mit den Leuten die schonendste, verderblichste Nachsicht übt, wo die Gläubigen öffentlich in den Zeitungen verhöhnt werden dürfen, wo ich in Wirtshäusern irreligiöse Lieder singen höre.“

Es ist, es ist, es ist [] Ja, es ist vieles, es ist die große Stadt. Darin besteht das ganze Geheimnis des großen Reizes, welchen das Leben in dieser Stadt für jeden und jede Richtung hat. Das Leben einer großen Stadt ist immer anregend, schon deshalb, weil es vielseitig ist, und ich habe oft von Männern von Geist wiederholen hören, daß sie in keiner andern Stadt zu leben vermöchten. Es kann jeder leben, wie er will, weil eben alles zu finden ist, was man nur suchen kann; ja man kann sogar alles zu gleicher Zeit haben. In der großen Stadt bekümmert sich niemand um den andern; es wissen die Leute oft in derselben Etage nicht, wer ihr Nachbar ist, und es kann jene Anekdote leicht wahr sein, wonach ein Mietsmann die Frage eines fremden Besuchers dahin beantwortete: einen Herrn namens Fischer kenne er nicht, neben ihm aber wohne seit zehn Jahren ein Mann, der vielleicht so heißen möge. Will daher jemand zurückgezogen leben, so findet er hier den geeignetsten Platz für seine Einsamkeit; will er dann die Vergnügungen des großstädtischen Lebens genießen, so braucht er seine Höhle nur zu verlassen. Da er aber in jeder Weise dabei sein Inkognito fortsetzen kann, so gibt es oft genug Leute, die beides verbinden. Der Pietist kann unbekümmert die Weltfreuden aufsuchen, ohne daß er Gefahr läuft, bei seinen Geistesverwandten in üblen Ruf zu kommen; der junge Mann, der mit glänzenden Empfehlungen aus der Provinz kommt, kann die Gesellschaften der höheren Kreise besuchen und Gegenbesuche empfangen, ohne daß jemand bemerkt, daß er mit einer Grisette zusammenwohnt. Dies Verschwinden der sogenannten Rücksichten gibt, wie gesagt, dem Aufenthalt in Berlin den Reiz und größeren Vorzug vor der Provinz, ist aber dagegen auch die Hauptursache des Verfalls des häuslichen Lebens. Der Mann hat nicht zu befürchten, ein verborgenes Verhältnis an seine Gattin verraten zu sehen; die Frau weiß, daß ihr Gemahl ihr nicht folgen kann, wenn sie unter irgendeinem Vorwand das Haus verläßt. Die kleinbürgerlichen Rücksichten verschwinden, das Leben reizt mit allen Verlockungen zum Genuß, und so treten dann alle, vom Höchsten bis zum Niedrigsten, Reiche und Arme, Fromme und Weltliche, in der Stille aus ihren Verhältnissen heraus. Die Sicherheit, mit welcher dies allenthalben geschieht, hat etwas Unheimliches, fast Grauenhaftes. Sie löst die Bande ruhig und geräuschlos, ohne daß man von außen sie doch gelöst sehen könnte. Es ist ein Dualismus in diesem Leben, der natürlich die allgemeine Demoralisation nach sich ziehen mußte. Dies Verstecken der Neigungen vor den Verhältnissen der Familie und des Standes macht das ganze Leben äußerlich, öffentlich. Die höheren Kreise gehen ihren verborgenen Vergnügungen ebensowohl nach wie die mittleren, die älteren Leute wie die jüngeren. Der Student führt seine Grisette ruhig am Arm über das Trottoir; die Vornehmen halten ihre Orgien bei den ersten Restaurants; der alte Herr macht in der Stille eine Landpartie, während der Bürgersohn die öffentlichen Gärten und Konzerte besucht.

Auf den Straßen kann man daher die Richtung und die Lebensweise der Einwohner noch am besten kennenlernen. Da ein häusliches Leben selten mehr zu finden ist, und alles nur nach Vergnügungen jagt, so findet man den Ausdruck des Lebens nicht mehr am häuslichen Herde, sondern außer dem Hause, in dem wilden, wirren Durcheinandertreiben der Öffentlichkeit, und die Äußerlichkeit ist hier wieder die beste Charakteristik. Es ist für den ruhigen Beobachter belehrend, über die Trottoirs zu schlendern und Physiognomien zu studieren.

Die Berliner Gassenjugend zum Beispiel ist die keckeste und ungezogenste in ganz Deutschland, und unter ihr nehmen die Jungen der Schornsteinfeger den ersten Platz ein. Die barbarische Sitte der neueren Zeit, schmale und enge Schornsteine zu bauen, in die man nur Kinder hineinschicken kann, hat diesem Gewerbe einen großen Zuschuß von armen Kleinen verschafft, welche ohnedies keine Erziehung genossen und in diesem Beruf vollends ausarten. Man sieht ganze Trupps dieser kleinen schwarzen Brut durch die Straßen ziehen, gewöhnlich von einem einzigen Gesellen geführt, der als Unterscheidung oder Auszeichnung seinem Rang gemäß einen Hut trägt. Die Vorübergehenden, namentlich Frauen, weichen ihnen aus, denn die Ausgelassenheit dieser kleinen Bengel überschreitet alle Begriffe. Bei all ihren Ungezogenheiten leuchtet jedoch unverkennbar eine Art genialen Humors hindurch, und es ließen sich Bände damit füllen, wollte man die wirklich oft treffenden und derben Witze aufzeichnen, mit denen sie ohne Unterschied der Person alle Vorübergehenden überschütten. Die Fischweiber, denen man ebenfalls den Witz usurpieren möchte, besitzen bloß eine Derbheit, die sich oft in die gediegenste Grobheit und Gemeinheit verliert, und ich rate es keinem, sich um einen Witz an diese Weiber zu wenden.

[]

Das Verschwinden des einzelnen in die Gesamtheit ist der vorzüglichste Charakterzug der Stadt; daher die Ungezwungenheit, die Selbständigkeit des einzelnen, der nicht nötig hat, sich vor kleinstädtischen, philisterhaften Vorurteilen in acht zu nehmen. Ein vielseitiges, allgemeines Gesellschaftsleben — dies ist der Eindruck, welchen das bewegte Treiben der Hauptstadt auf den Fremden macht. Von einem bestimmten, beschränkten Parteiausdruck, wie man es in der Ferne ausschreit, von Pietismus oder Irreligiosität, von servilem, „Preußentum“ oder radikalem Jakobinismus, ist in dem öffentlichen Gemeinleben Berlins keine Spur. Die Elemente sind für sich vorhanden, aber nur in kleinen Atomen eines großen Ganzen. Einzelne Elemente mögen höchst kläglich sein, aber das allgemeine Leben in jeder großen Stadt ist angenehm, doppelt angenehm vor allen deutschen Hauptstädten in Berlin, weil es hier der ernstere, strebende Sinn anregender macht. Die stinkenden Gossen, der Staub der Straßen im Sommer sind ohne Zweifel eine unangenehme Zugabe, aber diejenigen, welche an Berlin immer diese Vorstellung knüpfen, vergessen, daß sich das Leben nicht in den Gossen und dem Staub bewegt. Das öffentliche Gesamtleben ist der Pulsschlag dieser Stadt. Auf den Straßen, in der Öffentlichkeit wogt und rauscht alles durcheinander, vornehm und gering, reich und arm: keiner ist beschränkt durch den anderen. Nur in den häuslichen Umfriedungen machen sich die Verschiedenheiten des Kastenwesens noch geltend. Die hohe Aristokratie, die Creme, wie sie sich nennt, hat ihre Wohnsitze in einigen Teilen der Friedrichstadt aufgeschlagen. Ihr Hauptstandquartier ist Unter den Linden und in demjenigen Teil der Wilhelmstraße, welcher zunächst an die Linden stößt. Man kann sehen, wie klein das Häuflein dieser Kaste ist, wenn es sich in anderthalb Straßen ausbreiten kann, und doch gehören ihnen selbst diese anderthalb Straßen nicht ausschließlich. Unter den Linden hat sich die mächtige Bourgeoisie in ihre Reihen eingedrängt, und an dem entgegengesetzten Ende der Wilhelmstraße, dem Halleschen Tor zu, findet man bereits einzelne Höhlen des Proletariats. Die mittlere Bourgeoisie, das Krämer- und Fabrikantentum, hat sich in der Königstadt und weiter hinaus nach der Luisenstadt ausgedehnt. Dieser Kaste folgt konsequent das Proletariat auf dem Fuße nach, und so findet man es sowohl in den Dachkammern und Kellern der Handelshäuser wie in den Hütten neben den Fabriken. Nur ein Teil des Proletariats und der düstersten Armut birgt sich wie ausgestoßen aus dieser Gesellschaft draußen vor den Toren des nordwestlichen Stadtteils. Dort ist das Elend in seiner letzten, furchtbarsten Gestalt. Alles, was hier verkehrt, steht mit Polizei und Gericht in Verbindung, denn die Fessel der Armut kettet sie auf die dürre Heide des Verbrechens. Diese Parias hören nichts von dem Branden und Brausen des inneren Lebens der Hauptstadt, und wenn sie hineinkommen, so bezeichnet das Blut der Wachen und Polizeisoldaten und die Angriffe gegen Eigentum und Leben der Einwohner die Spuren ihres Weges.

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Wir betrachten hierzu zunächst die Verhältnisse der Arbeit, da der Handel auch das Leben zum Trödel gemacht und dies unveräußerliche Recht des Menschen erst erarbeitet, erhandelt wissen will. Sehen wir, was die Besitzlosen „erhandeln“ und wie sie „leben“ können.

Die Arbeiterlöhne in Berlin

1. Frauenarbeiten

Benennung der Arbeit

Taglohn

Stille Zeit im Jahr

Feinwäscherin

10-12 Sgr.

4 Monate

Plätterin

8-10 Sgr.

4 Monate

Frisiermädchen

6-10 Sgr.

4 Monate

Stepperin

8-10 Sgr.

Blumenmacherin

7½ Sgr.

4 Monate

Stickerin[1]

3-8 Sgr.

4 Monate

Gold- und Silberstickerin

10 Sgr.

Silberpoliererin

7½-10 Sgr.

8 Monate

Metallpoliererin

6-7 Sgr.

2 Monate

Häklerin

5 Sgr.

Wollsortiererin

5-7½ Sgr.

4 Monate

Fransenknüpferin

3-5 Sgr.

4 Monate

Hasplerin[2]

3-6 Sgr.

3 Monate

Schachtelmädchen

5 Sgr.

Lichtpackerin

4 Sgr.

2 Monate

Seidenwicklerin

3-4 Sgr.

3 Monate

Spulerin[3]

3-4 Sgr.

3 Monate

Auslegerin in den Druckereien

3 Sgr.

2 Monate

Modearbeiterin[4]

3-7½ Sgr.

Schneiderin[5]

5-7½ Sgr.

4 Monate

Deckennäherin

4 Sgr.

4 Monate

Handschuhnäherin[6]

3-4 Sgr.

4 Monate

Schuheinfasserin

2½-3 Sgr.

3 Monate

Mützenmacherin

5-6½ Sgr.

3 Monate

Strohhutnäherin

4-8 Sgr.

6 Monate

Fabrikmädchen[7]

3-6 Sgr.

Zigarrenmacherin[8]

2-4 Sgr.

(?)

Schenkmädchen[9]

2½-4 Sgr.

Dienstmädchen[10]

Taglöhnerin auf dem Lande[11]

4-6 Sgr.

4 Monate

2. Männliche Arbeiten

Benennung der Arbeit

Taglohn

Stille Zeit im Jahr

Juwelier[12]

15-20 Sgr.

4 Monate

Waffenschmied

10-15 Sgr.

3 Monate

Metzger[13]

0-2 Sgr.

2 Monate

Zimmermann

10-12½ Sgr.

5 Monate

Kupferschmied

15-20 Sgr.

4 Monate

Schuhmacher

10-15 Sgr.

3 Monate

Dachdecker

10-15 Sgr.

6 Monate

Maurer

10 Sgr.

5 Monate

Wagner[14]

2-4 Sgr.

2 Monate

Riemer[15]

4-5 Sgr.

2 Monate

Messerschmied

10-15 Sgr.

Dessinateur

30-40 Sgr.

3 Monate

Ziseleur

30 Sgr.

Schriftsetzer[16]

15 Sgr.

2 Monate

Möbeltischler

10 Sgr.

3 Monate

Modelltischler

15-25 Sgr.

2 Monate

Klempner

10 Sgr.

3 Monate

Schriftgießer

15 Sgr.

3 Monate

Gelbgießer

15 Sgr.

3 Monate

Eisengießer

10-20 Sgr.

2 Monate

Grobschmied[17]

0-4 Sgr.

Handschuhmacher

7½-10 Sgr.

Uhrmacher[18]

10-15 Sgr.

2 Monate

Buchdrucker

10 Sgr.

3 Monate

Stoffedrucker

15-20 Sgr.

2 Monate

Hufschmied[19]

0-4 Sgr.

2 Monate

Steinmetz

12½ Sgr.

4 Monate

Stubenmaler

10-15 Sgr.

4 Monate

Zinngießer

7½-10 Sgr.

2 Monate

Porzellanarbeiter[20]

2 Monate

Posamentier

10 Sgr.

Buchbinder

7½ Sgr.

3 Monate

Sattler

15 Sgr.

3 Monate

Schlosser

7½-15 Sgr.

3 Monate

Böttcher[21]

10-15 Sgr.

2 Monate

Holzdrechsler

10-15 Sgr.

3 Monate

Schneider für Herren

12½-15 Sgr.

6 Monate

Schneider für Damen

7½-12½ Sgr.

5 Monate

Seidenfärber

15 Sgr.

(?)

Korbmacher[22]

5-7½ Sgr.

2 Monate

Lackierer

7½-10 Sgr.

Aus diesen Tatsachen geht hervor, daß einzelne bei ihrer Arbeit nicht mehr als 2 bis 5 Silbergroschen den Tag verdienen; daß sie von dieser Summe in Berlin nicht zu existieren vermögen, liegt auf der Hand, aber selbst wenn sie durch ihren Verdienst ihre Existenz gleichmäßig zu erringen imstande wären, würde dies auf das Verhältnis des Proletariats nicht im geringsten höher in Anschlag zu bringen sein. Sie arbeiten ohne Rast einen Tag wie den anderen um die Existenz des Tages. Welche „Ordnung“ ist dies aber, welche einer großen Masse das Recht zum Leben, welches sie doch von Natur haben, entzieht und spricht: ihr müßt euch dieses Recht erst verdienen durch die anstrengendste, anhaltendste Arbeit! Aber glücklich sind diese, welche es noch zu verdienen imstande sind. Die Arbeit ist bei der wachsenden Masse zum Hasardspiel geworden. Die Löhne, welche wir hier mitteilen, betreffen den glücklichsten, begünstigsten Teil. Es ist angenommen, daß ihnen die Besitzenden das Recht des Lebens, welches sie ihnen entzogen, wieder zu verdienen Gelegenheit geben; es ist angenommen, daß sie jung, kräftig und unabhängig von Familiensorgen sind; es ist angenommen, daß sie Arbeit finden und durch die Gnade des Besitzes ihr Leben geschenkt bekommen. Die nächste Stufe von diesen glücklichen, unabhängigen Leuten, welche von morgens bis abends arbeiten dürfen, um nur zu vegetieren, bilden diejenigen, welche keine feste Arbeit haben oder in ihrer Familie durch kranke Eltern, Frau oder Kind verhindert sind. Die ersteren sind die sogenannten kleinen Meister. Diese Leute sind nicht wie die Gesellen auf festen Verdienst angewiesen, noch können sie, wenn es an einem Orte schlecht geht, sich weiter umsehen. Sie sind an ihre Werkstätte gebunden und müssen zu ihrer Erhaltung wöchentlich ihr Gewisses verdienen. Die kleinen Meister arbeiten daher die Woche hindurch oft ohne Sicherheit, bloß auf die Möglichkeit hin, ihre Arbeit am Ende der Woche zu verwerten. Dazu zwingt sie die Notwendigkeit, das Recht ihres Lebens durch Arbeit zu erkaufen. Ferner aber sind sie gewöhnlich gezwungen, die jedesmalige Arbeit bis zum Ende der Woche fertig zu liefern, weil sie meist die Auslagen dazu erborgt haben und solche, um neuen Kredit zu bekommen, am Ende der Woche abzahlen müssen. Ist ihnen dies nicht möglich, so haben sie für die folgende Woche keine Arbeit und keine Existenz. Nun suchen sie, wenn sie nicht zufällig unter der Hand verkauft oder Bestellung erhalten haben, am Sonnabend ihre Arbeit an die Händler zu verkaufen. Diese Händler, kleine Besitzende, welche nichts arbeiten, sondern nur ihr Geld im Handel spielen lassen, kennen die kleinen Meister und ihre Verhältnisse genau. Sie wissen, daß die Unglücklichen ihre Arbeit um jeden Preis verwerten, da die Gesellen und das Material für die Arbeit bezahlt werden müssen; so bieten sie denn auch den Meistern einen Spottpreis für ihre Ware, indem sie über die schlechten Zeiten klagen und ihre wohlgefüllten Magazine zeigen. Der Meister ist immer genötigt, seine Ware zu dem gebotenen Preis loszuschlagen, und wenn er seine Gesellen und den geborgten Stoff wiederbezahlt, hat er kaum soviel, daß er mit seiner Familie vegetieren kann. In der folgenden Woche fängt das Lied von neuem an, und dabei ist immer vorausgesetzt, daß ihn kein Unfall betrifft. Seine Arbeit muß tadellos sein, wenn er nicht alles daran verlieren soll; eine einzige Krankheit, Taufe oder Begräbniskosten eines Kindes sind imstande, ihn rettungslos in noch tieferes Elend, das heißt ganz außer „Brot“ zu setzen. In Berlin gibt es unter anderem nahe an 4000 selbständige Schneider aller Art, von denen zwei Drittel keine hinreichende Bestellung haben. Dagegen findet man 206 Kleiderhändler, welche von den geschäftslosen Meistern ihre Vorräte zu Spottpreisen beziehen. Die Konkurrenz derselben wird in manchen Monaten noch durch die sogenannten Arbeiter-Kompanien vermehrt; auch der Staat konkurriert zuweilen mit den Gewerben, wenn die Vorräte für das Militär vervollständigt sind, werden die Arbeiter-Kompanien entlassen, und diese Leute, welche natürlich billiger arbeiten können als andere, bieten sich den Händlern und Meistern für Lumpenpreise an. Für Verfertigung einer Hose nehmen sie 4 bis 5 Silbergroschen und die Gesellen und kleinen Meister können während dieser Zeit feiern. Die Zahl der selbständigen Schuhmacher beläuft sich in Berlin auf 3000, und ihr Verhältnis zu den Händlern ist, wenn auch nicht ganz dasselbe, doch ähnlich wie das der Schneider. 837 selbständige Seidenwirker arbeiten fast sämtlich für 113 Händler oder sogenannte Fabrikanten, welche im Besitz eines Kapitals den Handel auf Kosten der unsicheren Gewerbetätigkeit ausbeuten. Die Zahl der Tischler, welche vor allem jene Samstagswallfahrten nach der Gnade der Händler anstellen, beläuft sich auf 2000: auf diese kommen 123 Möbelhandlungen und zwischen 3000 bis 4000 Gesellen. Die Zahl der Weber beträgt 20 000, und diese Leute können auch im „glücklichen“ Fall der Arbeit von ihrem Verdienst nicht leben. Andere Gewerbe, wie das der Schornsteinfeger, haben ihre bestimmte Zahl[23], welche von Magistrats und Polizei wegen nicht erhöht werden darf.

Sind diese Leute schon schlimm daran, so liegen dagegen diejenigen in den kläglichsten Verhältnissen, welche sich auf Zufall hin den ersten besten Beschäftigungen abwechselnd in die Arme werfen müssen. Es sind dies meist Familien, wo der Mann krank oder gestorben ist und entweder schwache Großeltern oder zahlreiche unmündige Kinder mit zu ernähren bleiben. Die Kinder werden, sobald sie im mindesten die Kraft dazu haben, in die Fabriken geschickt. Hier bleiben sie von morgens 5 bis abends 9 Uhr und verdienen die Woche 15 bis 22½ Silbergroschen, also 3 Silbergroschen täglich. Nicht nur, daß sie physisch bei der anstrengenden Arbeit verkommen, wie solches der bei ihnen einheimische Lungenhusten, die gebückte Körperhaltung und die krummen Beine beweisen, auch moralisch werden sie durch dies Leben in jeder Weise abgestumpft und vernichtet. In den Bleiweißfabriken unter anderen werden sie durch das Einatmen der giftigen Dünste total ruiniert, denn selbst ein kräftiger Mann kann den Aufenthalt in denselben kaum einige Jahre ertragen. Und doch senden die Mütter ihre Kinder hierher, obwohl sie wissen, daß die Kinder einem sicheren Tode entgegengehen. Vielleicht gerade weil sie es wissen. Die Kinder sind ihnen zur Last, und das Elend raubt ihnen jedes menschliche Gefühl, zudem hat ja die wohlanständige Gesellschaft diese Fabriken gegründet, und es kann in den Augen derselben wohl kein Verbrechen sein, wenn man Kinder dorthin schickt. Es kommt aber nicht so selten vor, daß sich Eltern ihrer Kinder durch offenes Verbrechen „entledigen“; sie haben ihnen keine Nahrung zu geben, sie nähren sich oft selbst nur durch Abnagen der Knochen, welche sie vor den Wassersteinen der Küchen finden, was sollen sie mit den Kindern machen? Auch gehören hierher alle vorzugsweise sogenannten Kindermorde: wenn junge Mütter ihr Neugeborenes umbringen, weil sie nicht wissen, wie sie es ernähren sollen. Die Berliner Zeitungen bringen nicht selten die Nachricht, daß man in Kloaken solche unbekannten Gebeinchen gefunden hat.

Anmerkungen

[1] Verschiedener Art. Bei den feinen Stickereien haben die Arbeitermädchen mit den Frauen und Töchtern der mittleren Bourgeoisie zu konkurrieren, welche ihr „Taschengeld“ auf diese Weise verdienen und natürlich sehr billige Ware liefern.
[2] Wollhasplerinnen vielleicht 5-8.
[3] Kinder höchstens 10-12 Sgr. die Woche, also im Durchschnitt 1½ Sgr. für den Tag.
[4] Direktrice 10-15.
[5] Wo die Schneiderinnen bei Familien manchmal arbeiten, erhalten sie Kost und etwas geringeren Lohn. Diejenigen, welche für Läden arbeiten, werden am schlechtesten bezahlt; für ein feines Hemd, an welchem sie mindestens einen Tag arbeiten, erhalten sie 4-5 Sgr., und haben Zwirn, Nadeln und so weiter selbst zu bestreiten. Wenn bei den Meistern stille Zeit ist, arbeitet die größte Zahl für Läden und sogenannte Fabrikanten.
[6] Also im Durchschnitt aufs Jahr 2-3 Sgr.
[7] Kinder 15-22½ Sgr. die Woche.
[8] Werden meist aufs Tausend bezahlt, wobei sie den „zuviel” verbrauchten Tabak vergüten müssen. Zum Abrippen werden Kinder gebraucht, welche die Woche 7½-10 Sgr. bekommen.
[9] Mit Kost.
[10] 8-12 Taler das Jahr nebst Kost. Manche erhalten auch den „Hausschlüssel“, was soviel bedeutet, daß sie das sonst Nötige durch Prostitution verdienen sollen. Ohnedies sind sie meist auch in den Herrschaften der Prostitution ausgesetzt, und die Kost ist in Berlin so schmal, daß sie gewöhnlich zum Stehlen und Betrügen angehalten sind.
[11] Erhalten im Winter weniger.
[12] Wir wollen hier ein für allemal bemerken, was ein alleinstehender unabhängiger Arbeiter für seine allernötigsten Bedürfnisse verbrauchen muß. Für Schlafstelle zahlt er 2-2½ Taler, für Mittagessen 3 Taler, für Abendessen 2½-3 Taler, für Frühstück 1 Taler; also durchschnittlich 9 Taler, ungerechnet Trinken, Kleider, Schuhe und so weiter.
[13] Wohnung, Kost und Schlafgeld.
[14] Kost und Wohnung.
[15] Kost und Wohnung.
[16] Von 15 Arbeitern haben gemeinhin 5 keine Arbeit.
[17] Kost und Wohnung.
[18] Müssen sich ihr Werkzeug selbst halten.
[19] Kost und Wohnung.
[20] Handlanger 5-7½; Dreher 15-20; Maler 12½-15.
[21] Mit Kost und Wohnung 3-4 Sgr.
[22] Ohne Kost.
[23] Fünfzehn

Quelle: Ernst Dronke, Berlin (1846). Ost-Berlin: Rütten & Loening, 1953, S. 11–19, 34–46, 229 –37.