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Berlins „arm aber sexy“-Attraktivität macht die Stadt zum europäischen Silicon Valley
Startups, Risikokapitalgeber und ausländische Arbeitskräfte strömen in die Stadt mit günstigen Mieten und großen Investitionen von Google und Microsoft
Vor einem Jahrzehnt versuchte Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit, Kreative in die Stadt zu locken, indem er erklärte „Berlin ist arm, aber sexy“.
Es hat funktioniert. Die im Vergleich zu anderen europäischen Hauptstädten erstaunlich niedrigen Mieten – eine Einzimmerwohnung in der Nähe des Alexanderplatzes im Stadtzentrum ist immer noch für nur 450 € im Monat zu haben – haben dazu beigetragen, dass Künstler*innen aus der ganzen Welt nach Berlin kommen und Berlin zu einem bedeutenden Zentrum für Künstler*innen, Schriftsteller*innen, Musiker*innen und zunehmend auch für Technologie- und Internetunternehmen geworden ist.
Die Stadt hat bereits einige weltweit anerkannte Tech-Start-ups hervorgebracht, darunter den Musik-Sharing-Dienst SoundCloud und das Spieleunternehmen Wooga – und Wowereit will noch mehr.
„Berlin ist als Startup-Hub in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt“, sagte er. „Wir wollen diesen Schwung mitnehmen und Berlins Wirtschaft vorantreiben. Wir werden uns voll und ganz dafür einsetzen, der führende Startup-Hub in Europa zu werden“.
In der Stadt gibt es bereits 2.500 Technologie-Start-ups, und sie hat Hunderte Millionen Euro an Investitionen von einigen der weltweit größten Risikokapitalfonds angezogen.
Wowereit räumt ein, dass Berlin noch einen weiten Weg vor sich hat, um London als Europas Startup-Hauptstadt zu überholen und hat Bundeskanzlerin Angela Merkel zu Hilfe gerufen. Sie besuchte im vergangenen Jahr die New-Tech-Cluster der Stadt, sagte den Startups, sie seien „die Hefe, die die Industrie wachsen lässt“ und versprach, es Ausländer*innen zu erleichtern, sich in der Stadt zu registrieren und zu arbeiten.
Die Dynamik in Berlin hat sich in den letzten Monaten stetig verstärkt: Microsoft-Gründer Bill Gates investierte 35 Millionen Dollar (21 Millionen Pfund) in ResearchGate, ein globales Netzwerk für Wissenschaftler*innen mit Sitz in Berlin. Zu den weiteren großen Investitionen zählt der berühmte Silicon-Valley-Fonds Sequoia Capital, der 19 Millionen Dollar in Wunderkinder, den Hersteller der beliebten To-Do-Listen-App Wunderlist, investierte. Als Teil der Investition wird der walisische Partner von Sequoia, Sir Michael Moritz, in den Vorstand des drei Jahre alten Unternehmens eintreten, das bereits 6 Millionen Nutzer hat. Der New Yorker Fonds Union Square Ventures führte eine Investition von 7 Millionen Dollar in die Football App an, einen mobilen Fußballnachrichten- und Informationsdienst, der von mehr als 12 Millionen Menschen heruntergeladen wird.
Gates' Nachfolger bei Microsoft, Steve Ballmer, hat in einem prachtvollen Gebäude Unter den Linden, Berlins berühmtestem Boulevard, einen „Accelerator“ für Start-ups eröffnet. Es reiht sich ein in eine lange Liste anderer großer etablierter Unternehmen, darunter die Deutsche Telekom, die Deutsche Post, der Pharmakonzern Bayer, das Medienunternehmen Alex Springer und sogar die Supermarktkette Rewe und Coca-Cola.
Ballmer sagte, er habe sich für den Standort des Accelerators in Berlin – neben Bangalore, Paris, Peking, Tel Aviv und London – entschieden, weil er von den „erstaunlichen aufstrebenden Ökosystemen“ und den „unglaublichen Startups“ beeindruckt gewesen sei, die in der Stadt aus dem Boden schossen.
Microsofts General Manager für Deutschland, Christian Illek, sagte: „Warum haben wir uns für Berlin entschieden? Berlin ist die Metropole der Kreativität. Berlin hat sich neben London zum Hotspot in Europa für die Gründung von IT-Unternehmen und Startups entwickelt“.
„Es gibt keine andere Stadt wie Berlin, in der der Pionier- und Innovationsgeist so stark ausgeprägt ist. Wenn es uns gelingt, die Ideen der Startups in erfolgreiche Geschäftsmodelle umzusetzen, wird Berlin das Silicon Valley Europas werden“.
Alexander Ljung, Mitbegründer und Geschäftsführer von SoundCloud, in das der A-Grade Fund des Hollywood-Schauspielers Ashton Kutcher und der Risikokapitalgeber Kleiner Perkins Caufield & Byers 50 Millionen Dollar investiert haben, sagte, er und Mitbegründer Eric Wahlforss hätten sich für den Umzug von ihrer schwedischen Heimat nach Berlin entschieden, weil die Stadt eine international bekannte Clubszene habe und viel billiger sei als ein Aufenthalt in Stockholm oder ein Umzug nach London. „Die Atmosphäre und die Kultur in Berlin sind sehr einzigartig“, sagt er. „Da die Lebenshaltungskosten immer noch niedrig sind, können es sich die Leute leisten, nur ein paar Stunden pro Woche zu arbeiten und den Rest der Zeit das zu tun, was sie wollen“.
„Manche Leute sind wie professionelle Clubgänger. Und die Folge ist, dass die Leute in der Kreativ-, Medien- und Internetwelt viel verständnisvoller und toleranter sind, wenn jemand etwas später und verkatert zu einem Meeting kommt. Trotzdem, wenn man ein Unternehmen gründen will, muss man hart arbeiten, und das bedeutet, dass man hier viel Disziplin braucht, um nicht zu oft in Versuchung zu geraten, das Berliner Nachtleben zu genießen“.
Steigende Mieten in Londons Silicon Roundabout führen auch dazu, dass viele Start-ups aus dem Markt gedrängt werden und einige sogar bis nach Berlin ziehen. Laut dem Immobilienmakler Savills haben Startups die Gegend um den Old Street Roundabout so „toll, flippig und trendy“ gemacht, dass „langweilige Unternehmen denken: ‚Wir wollen auch so etwas‘“ und die Mieten auf bis zu 40 Pfund pro Quadratmeter und einen einzelnen Schreibtischplatz in einem Gemeinschaftsbüro auf bis zu 400 Pfund pro Monat steigen lassen. Zum Vergleich: In Berlin reichen die Büromieten von 4 € pro Quadratmeter im aufstrebenden Trendbezirk Neukölln bis zu 20 € in Mitte, direkt im Zentrum.
Google unterstützt The Factory, einen neuen, 16.000 Quadratmeter großen Startup-Campus mit Wohnungen, Fitnessstudio und Restaurants, der in die Reste der Berliner Mauer in der Nähe des touristischen Mauerpark-Flohmarkts gebaut wurde. Die Büroflächen in dem Gebäude kosten 16 € pro Quadratmeter und waren bereits Monate vor der Eröffnung vollständig vermietet. Simon Schaefer, Gründer von The Factory, sagte, dass Menschen aus Großbritannien, Europa und dem Rest der Welt von den Mieten angezogen wurden, aber auch von der Möglichkeit, beim Aufbau einer Gemeinschaft zu helfen.
„Es gibt nichts, wofür Berlin wirklich steht, außer billig und cool zu sein, und betrunken und drogenabhängig“, sagte er. „Es ist das Potenzial, etwas zu gestalten, deshalb kommen so viele Menschen hierher“.
Adam Haywood, der britische Geschäftsführer des Fotodienstes Reccy, sagte, sein Unternehmen habe sich für Berlin und nicht für London entschieden, weil „die Mieten und sonstigen Kosten so viel niedriger sind, dass wir das Geld viel weiter strecken können. Außerdem ist es eine wirklich tolle Stadt und jeder spricht Englisch“.
Die Internationalität Berlins und der weit verbreitete Gebrauch der englischen Sprache ist ein weiterer wichtiger Anziehungspunkt für Start-ups und Investoren.
Jens Begemann, Gründer und Geschäftsführer von Wooga und Mentor von Dutzenden anderer Start-ups, sagt, dass die Bürosprache aller Start-ups in der Stadt Englisch ist, selbst bei den wenigen, die ausschließlich deutschsprachige Mitarbeiter haben.
„Man muss alles auf Englisch haben, es ist die einzige Sprache, die wir hier sprechen“, sagte er in den bunten Büros von Wooga in der Nähe des Alexanderplatzes. „Weil Englisch hier die offizielle Sprache ist, können wir jeden von überall her einstellen. Es gibt talentierte junge Leute auf der ganzen Welt, die keine Arbeit finden; wenn sie hierher kommen, können sie einen Job bekommen“.
„Wir haben Vorstellungsgespräche über Skype geführt, und sie sind schon am nächsten Tag angekommen“.
Er scherzt, dass die Firmenkantine – die in Anlehnung an Google Essen und Getränke verschenkt – „wie die Vereinten Nationen“ ist, da das Unternehmen Mitarbeiter aus rund 50 Ländern beschäftigt.
Ausländische Mitarbeiter*innen sind nicht verpflichtet, Englisch zu lernen, aber ihnen wird Unterricht angeboten und sie werden ermutigt, es zu versuchen.
Der Zustrom junger, gut bezahlter, nicht deutschsprachiger Menschen ist nicht bei allen gut angekommen, vor allem weil er die Mieten für die Einheimischen in die Höhe getrieben hat.
Monika Herrmann, die Bürgermeisterin von Friedrichshain-Kreuzberg, einer der beliebtesten Gegenden für Auswanderer*innen, hat Langzeitbesuchern vorgeworfen, die Stadt wie eine „Filmkulisse“ zu behandeln.
„Ich erwarte von ihnen, dass sie sich beteiligen. Es ist nicht nur ein cooler Ort zum Leben. Es ist nicht nur ein Ort zum Feiern. Die Coolness des Stadtteils hat etwas damit zu tun, dass wir hier gemeinsam leben wollen“, sagte sie dem englischsprachigen Magazin Ex-Berliner. „Es hat etwas damit zu tun, dass man sich nachts in seiner Kneipe trifft, egal, welche Sprache man spricht. Es besteht die Gefahr, dass das langsam verschwindet, weil manche Leute nur in eine coole Gegend investieren wollen, die ihnen eigentlich egal ist“.
Quelle: Rupert Neate, „Berlin's ‘Poor but Sexy’ Appeal Turning City into European Silicon Valley”, The Guardian, 3. Januar 2014.