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I. Je unsicherer sich die Lage Europas gestaltet hat, desto unabweislicher tritt an die deutschen Fürsten die Aufgabe heran, Angesichts der inneren und äußeren Gefahren, welche Deutschland bedrohen, sich rechtzeitig einer haltbaren Stellung zu versichern. Eine solche Stellung kann unter den Verhältnissen, die sich in den letzten Jahren ausgebildet haben, augenscheinlich nicht mehr einfach auf die bestehende Bundesverfassung gegründet werden. Seit langem sind die Bundesverträge von 1815 und 1820 in ihren Fundamenten erschüttert. Eine Reihe zusammenwirkender Thatsachen hat das Gebäude dieser Verträge allmählich immer tiefer untergraben. Der ganze Gang der inneren Entwickelung Deutschlands während des letzten Jahrzehnts hat auf die Institution des Bundes in ihrer bisherigen Gestalt so ungünstig als möglich eingewirkt. Theils hat die Unfruchtbarkeit aller Bemühungen, durch den Bund die gemeinsamen deutschen Interessen zu fördern, den Bund in der allgemeinen Meinung entwerthet, theils haben die Bedingungen, unter welchen die Bundesverträge geschlossen wurden, durch die politischen Ereignisse der Neuzeit folgenreiche Veränderungen erfahren. In Österreich wie in Preußen sind neue Staatseinrichtungen geschaffen worden, Einrichtungen, welche auf das Verhältniß beider Monarchien zum Bunde einen mächtigen Einfluß ausüben müssen, bis jetzt aber noch jeder Vermittelung und jedes regelmäßigen Zusammenhanges mit dem Organismus des Bundes entbehren. Auch alle anderen deutschen Regierungen haben wiederholt und feierlich das Bedürfniß einer gründlichen Neugestaltung der Bundesverfassung anerkannt. So hat sich denn in Deutschland unaufhaltsam ein fortschreitender Proceß der Abwendung von dem bestehenden Bunde vollzogen; ein neuer Bund aber ist bis heute nicht geschlossen, und das Facit der neuesten deutschen Geschichte ist somit zur Stunde nichts als ein Zustand vollständiger Zerklüftung und allgemeiner Zerfahrenheit. Man denkt in der That nicht zu nachtheilig von diesem Zustande, wenn man sich eingesteht, daß die deutschen Regierungen im Grunde schon jetzt nicht mehr in einem festen gegenseitigen Vertragsverhältnisse zusammenstehen, sondern nur noch bis auf weiteres im Vorgefühle naher Katastrophen nebeneinander fortleben. Die deutsche Revolution aber, im Stillen geschürt, wartet auf ihre Stunde.
Diese Wahrheiten, beklagenswerth wie sie sind, würden doppelt gefährlich sein, wenn man die Augen vor ihnen verschließen oder sich ihnen wie einem unabänderlichen Verhängniß ohne einen entschlossenen Versuch der Abhilfe unterwerfen wollte. Weise Regierungen werden allerdings nicht freiwillig einen Augenblick der Gefahr und Krisis wählen, um an den Resten einer zwar wankend gewordenen, aber noch nicht durch neue und vollkommenere Schöpfungen ersetzten Rechtsordnung zu rütteln. Aber fast wie Ironie müßte es klingen, wollte man diesen an sich richtigen Satz auf den Status quo der deutschen Bundesverhältnisse anwenden. Dieser Status quo ist schlechthin chaotisch. Der Boden der Bundesverträge schwankt unter den Füßen dessen, der sich auf ihn stellt, der Bau der vertragsmäßigen Ordnung der Dinge in Deutschland zeigt überall Risse und Spalten, und der bloße Wunsch, daß die morschen Wände den nächsten Sturm noch aushalten mögen, kann ihnen die dazu nöthige Festigkeit nimmermehr zurückgeben. Weder Österreich, noch Preußen, noch die übrigen deutschen Staaten können sich mit irgend einem Grade von Vertrauen auf den Bund in seinem jetzigen Zustand stützen. Je deutlicher sie dies erkennen, desto weniger dürfen sie an der vollen Berechtigung des Verlangens nach einer Reform, durch welche das Bundesprincip mit neuer Lebenskraft erfüllt würde, zweifeln. Prüfe man nur mit Unbefangenheit die Stimmen, welche in unseren Tagen diesen Ruf erheben! Sie ertönen heute nicht mehr aus dem Lager der destructiven Parteien; dort wird im Gegentheil jede Hoffnung auf eine gesetzliche Reform der deutschen Bundesverfassung verschmäht und verspottet; denn der Radicalismus weiß, daß seine Ernte auf dem durch keine heilsamere Saat befruchteten Felde reift. Die deutschen Regierungen selbst sind es heute, welche ihr Heil in der Reorganisation des Bundes erblicken. In den Kammern sind es die gemäßigten Parteien, welche zu diesem Ziele mit Ungeduld hindrängen, mit Ungeduld, weil sie fühlen, daß, je länger die Reform hinausgeschoben wird, um so weitergehende Forderungen sich hervorwagen und im Volksgeiste Unterstützung finden werden. Es ist der Trieb der Selbsterhaltung, welcher den Regierungen und den Kammern diese Richtung zeigt. — Österreich und Preußen aber sollten nicht bloß um ihrer deutschen Verbündeten willen einem so gerechten Verlangen entgegenkommen, sondern auch im eigenen Interesse sich daran erinnern, daß sie es sich selbst und der Welt schuldig sind, die größten Anstrengungen und Opfer nicht zu scheuen, um den Bund, der das Centrum Europa's bildet, in lebensfähigem Zustande zu erhalten.
Was Österreich betrifft, so ist es sich über diesen Punkt vollkommen klar geworden. Die kaiserliche Regierung ist mit festem Willen, wenn auch mit jener äußersten Vorsicht, die ihren Grundsätzen und Traditionen entspricht, an die Frage der Ausbildung der Bundesverfassung und besonders an die schwierige Aufgabe, die gesetzgebende Gewalt des Bundes zu organisiren, herangetreten. Sie hat den folgenreichen Schritt, die Vertretungen der Einzelstaaten zur Theilnahme an den Bundesangelegenheiten zu berufen, zunächst nur in der Form einer vorübergehenden Maßregel, eines erst durch die Erfahrung zu bewährenden Versuchs in Vorschlag gebracht. Erst die Ablehnung ihres Antrags auf eine Delegirtenversammlung ad hoc hat sie genöthigt, um so entschiedener ihre Mitwirkung zu einer organischen Reform in Aussicht zu stellen. Seitdem ist Österreichs Wort für ein ernstes Streben nach diesem Ziele verpfändet, und der Kaiser fühlt sich gedrängt, dieses Versprechen einzulösen. Der Kaiser hat dem eigenen Reiche zeitgemäße Institutionen verliehen. Er erkennt vollkommen an, daß auch die deutsche Nation in ihrer Gesammtheit mit Recht eine Neugestaltung ihrer politischen Verfassung erwartet, und Er hält es als Fürst des Bundes für Pflicht, Seinen Mitfürsten offen darzulegen, was Er in dieser Beziehung für möglich hält und für Seinen Theil zu gewähren bereit ist.
II. Österreichs Reorganisationsvorschläge können nur auf dem mit voller Klarheit und Entschiedenheit festgehaltenen Föderativprincip beruhen.
Manches hat sich in Europa seit 1815 verändert, aber heute wie damals bietet die durch die Auflösung des deutschen Reiches zur Nothwendigkeit gewordene, durch die europäischen Verträge sanctionirte Bestimmung, daß die deutschen Staaten unabhängig und durch ein Föderativband vereinigt sein werden, die einzig mögliche Grundlage für die politische Verfassung Deutschlands dar. Man kann dieser Wahrheit nicht direct oder indirect entgegen handeln, ohne den festen Boden der Wirklichkeit zu verlieren. Man kann nicht von idealen Forderungen oder von Doctrinen, die einem specifischen Interesse künstlich angepaßt sind, den Maßstab für das Reformwerk entnehmen, ohne die Gegenwart einer ungewissen und von den augenscheinlichsten Gefahren umringten Zukunft zu opfern. Eine dem Bundesprincip entgegengesetzte Richtung kann man in Deutschlands gemeinsamen Angelegenheiten nicht einschlagen, ohne bei jedem Schritte auf Warnungszeichen zu stoßen und am Ende des Wegs an einem Abgrunde anzukommen. Monarchische Staaten, zwei Großmächte unter ihnen, bilden den deutschen Staatenverein. Einrichtungen, wie eine einheitliche Spitze oder ein aus directen Volkswahlen hervorgehendes Parlament, passen nicht für diesen Verein; sie widerstreben seiner Natur, und wer sie verlangt, will nur dem Namen nach den Bund, oder das, was man den Bundesstaat genannt hat; in Wahrheit will er das allmähliche Erlöschen der Lebenskraft der Einzelstaaten; er will einen Zustand des Übergangs zu einer künftigen Unification; er will die Spaltung Deutschlands, ohne welche dieser Übergang sich nicht vollziehen kann. Solche Einrichtungen wird Österreich nicht vorschlagen. Wohl aber hält es den Augenblick für gekommen, wo die Sorge für das Wohl Deutschlands gebieterisch verlangt, daß die Grundlagen, auf welchen der Bund ursprünglich errichtet wurde, verstärkt und das Föderativprincip gegenüber der schon dem Begriffe nach durch dasselbe beschränkten Souveränetät der Einzelstaaten mit erhöhter Kraft und Wirksamkeit ausgestattet werde. Der deutsche Bund ist als ein Bund der Fürsten geschlossen; er ist aber auch ausdrücklich als das an die Stelle des vormaligen Reiches getretene Nationalband der Deutschen anerkannt, und er wird sich künftig, um den Bedürfnissen unserer Epoche zu entsprechen, mit Nothwendigkeit schon durch den Charakter seiner Verfassungsformen der Welt als ein Bund der deutschen Staaten als solcher, der Fürsten wie der Völker darstellen müssen. Der Kaiser erblickt daher in der Kräftigung der Executivgewalt des Bundes und in der Berufung der constitutionellen Körperschaften der Einzelstaaten zur Theilnahme an der Bundesgesetzgebung zwei in gleichem Grade unabweisbare und sich zugleich gegenseitig bedingende Aufgaben. Dieser Überzeugung hat die Regierung des Kaisers schon durch die Note an den Grafen v. Bernstorff vom 2. Februar 1862, dann wieder durch die oben erwähnte Erklärung in der Bundestagssitzung vom 22. Januar des gegenwärtigen Jahres Ausdruck verliehen.
Die Grundlinien für ihren Reformplan sind somit bereits gezeichnet. Sie wird die Errichtung eines Bundesdirectoriums und die periodische Einberufung einer Versammlung von Abgeordneten der Vertretungskörper der Einzelstaaten in Vorschlag bringen. Nicht verkennend, daß es starker Gegengewichte bedarf, um gegenüber dieser letzteren Einrichtung das monarchische Princip und die berechtigte Selbstständigkeit der Einzelstaaten gegen mögliche Übergriffe sicher zu stellen, neigt sie sich zugleich zu dem Gedanken, daß die beste Garantie dieser Art und ein werthvolles Mittel zur Wahrung der fürstlichen Rechte und der hohen Stellung der deutschen Dynastien in periodischen persönlichen Vereinigungen der Souveräne Deutschlands gefunden werden könnte. Auf den Vorschlag der Errichtung eines Bundesgerichts endlich wird sie unter angemessenen Modificationen gleichfalls zurückkommen. Dies sind in den wesentlichsten Umrissen die Absichten des Kaisers in Bezug auf die Grundlagen einer heilsamen Lösung dieser ernsten Frage.
Was aber die Mittel und Wege betrifft, um eine Verständigung der deutschen Regierungen über die Frage der Bundesverfassung herbeizuführen, so begründet mehr als Eine Erfahrung die Besorgniß, daß es weder schriftlichen Unterhandlungen der Cabinette, noch auch Conferenzen der Minister gegeben sein würde, die zahlreichen Schwierigkeiten dieses Unternehmens zu bemeistern. Die Frage der Reform berührt so vielfache Interessen, sie eröffnet das Feld der Discussion für so mannigfaltige unvereinbare Wünsche und Meinungen, daß die Summe der hemmenden und störenden Momente, der ängstlichen Zweifel, der unlösbaren Widersprüche leicht in das Unendliche anwachsen und jede Hoffnung auf Erfolg überwuchern würde, wenn man von bloßen Unterhändlern, die kein eigenes freies Verfügungsrecht zur Berathung mitbrächten, den Sieg über alle jene Hindernisse und das Gelingen der Einigung erwarten wollte. Die deutschen Fürsten aber in eigener Person, die Träger der Rechte, um die es sich handelt, die höchsten Interessenten an Deutschlands Sicherheit und Wohlfahrt, von deutscher Gesinnung sämmtlich beseelt, werden sich durch unmittelbaren Gedankenaustausch leichter und besser als durch Mittelspersonen über die große Aufgabe verstehen. Im Geiste des Kaisers ist daher der Entschluß gereift, die Fürsten Deutschlands und die Magistrate der Freien Städte zum Zwecke eines Einverständnisses über die Reorganisation des deutschen Bundes zu einer Zusammenkunft einzuladen, und der Kaiser eröffnet diese Absicht vor allen Andern dem mächtigsten Seiner deutschen Bundesgenossen, dem Könige von Preußen.
III. Ohne Preußens bundesfreundliche Mitwirkung gibt es für die Aufgabe der Reorganisation des Bundes keinen definitiven Abschluß. Die preußischen Bundeslande umfassen ein Drittheil der deutschen Bevölkerung, sie erstrecken sich von den östlichen zu den westlichen Grenzen Deutschlands, die Bundesverträge geben Preußen ein Recht des Widerspruchs gegen jede tiefer greifende Neuerung. Preußens Wille kann daher die Reform der Gesammtverfassung Deutschlands factisch und rechtlich hindern. Um für die reine Negation in Deutschland das Feld zu behaupten, bedarf es nicht einmal der Größe und einflußreichen Stellung der preußischen Monarchie; selbst mindermächtige Staaten vermögen durch ihre bloße Enthaltung die sehnlichsten Wünsche, die lautersten Bestrebungen ihrer Bundesgenossen zu vereiteln. Preußens Veto hat jedenfalls diese verneinende Kraft. Wird es eingelegt, so kann sich der Bund in seiner Gesammtheit nicht aus seinem gegenwärtigen tiefen Verfalle erheben. Aber die Dinge sind in Deutschland so weit gediehen, daß ein absoluter Stillstand der Reformbewegung nicht mehr möglich ist, und die Regierungen, welche dies erkennen, werden sich zuletzt gezwungen sehen, die Hand an ein Werk der Noth zu legen, indem sie sich zur partiellen Ausführung der beabsichtigten Bundesreform im Bereiche der eigenen Staaten entschließen, und zu diesem Zwecke unter Wahrung des Bundesverhältnisses ihrem freien Bündnißrechte die möglichst ausgedehnte Anwendung geben.
Kann Preußen einer Eventualität entgegenzusehen wünschen, die eine so gänzliche Entfremdung von seinen deutschen Bundesgenossen in sich schließen würde? Es ist wahr, die Anschauungen Preußens über Beruf und Bestimmung des deutschen Bundes haben sich in den letzten Jahren nur zu sehr von denjenigen, welche oben dargelegt wurden, unterschieden. Wir blicken in eine Zeit zurück, in welcher nicht Kräftigung und Belebung des Bundesprincips, sondern dessen Zurückführung auf die Bedeutung eines bloßen—an sich unvollkommenen—Allianzverhältnisses als der leitende Gedanke der deutschen Politik Preußens hingestellt wurde. Allein die Ereignisse sind seitdem fortgeschritten, und vielleicht enthält ihr Gang für Preußen mehr als Einen ernsten Beweggrund, sich entschieden von Richtungen abzuwenden, welche zu keinem glücklichen Ziele geführt haben. Die Zukunft Deutschlands ist in ein gefährliches Dunkel gehüllt; durch Erinnerungen an die Vergangenheit hat der Kaiser Sich daher nicht abhalten lassen wollen, Seine Ansichten über die Mittel, den Blick in diese Zukunft aufzuhellen, vertrauensvoll Seinem erhabenen Verbündeten von Preußen mitzutheilen. Er zählt auf die Weisheit und die Gesinnungsgröße des Königs, dem unmöglich entgehen kann, wie ganz anders geachtet und gesichert Deutschland seinen Platz unter den Völkern einnehmen, in wie hohem Grade sein Einfluß und seine Machtstellung sich steigern würden, wenn die Verfassung des Bundes in erneuter und den Anforderungen der Zeit entsprechender Gestalt aus einer gemeinsamen Berathung und einem einmüthigen Beschlusse aller deutschen Fürsten hervorginge. Welche Erfahrungen auch die Folgezeit uns vorbehalten möge, dem Kaiser wird es stets zur Beruhigung gereichen, gegenüber dem Könige ausgesprochen zu haben, daß es heute von Preußens Entschließungen abhänge, den deutschen Bund wieder auf die Höhe seiner für die Nation und ihre Fürsten wie für Europa's Frieden so unendlich wichtigen Bestimmung zu heben.
Quelle: H. Schultheß, Europäischer Geschichtskalender, Jg. 4, 1863, S. 47ff; abgedruckt in Ernst Rudolf Huber, Hrsg., Deutsche Verfassungsdokumente, 1851–1900, Band 2, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, dritte neubearbeitete und vermehrte Auflage. Stuttgart: W. Kohlhammer, 1986, S. 135–39. Wiedergabe auf dieser Website mit freundlicher Genehmigung des Kohlhammer-Verlags.