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Bemerkungen vom April 1861 über den Einfluß der verbesserten Feuerwaffen auf die Taktik.
Es ist allgemein anerkannt, daß die große Verbesserung der Schußwaffen in künftigen Kriegen eine wesentliche Veränderung in der Fechtart nach sich ziehen muß.
Wirkliche Erfahrungen liegen noch nicht vor, weil in den letzten Feldzügen die Waffen ihre jetzige Vervollkommnung noch nicht erreicht hatten und auf einem Terrain zur Anwendung kamen, welches vorzugsweise geeignet ist alle Feuerwirkung auf große Entfernung auszuschließen.
Der Einfluß der neuen Schußwaffe auf die Taktik ist daher nur theoretisch aus deren Natur und Eigenthümlichkeit abzuleiten. Sie erfordert: Sichtbarkeit des Zieles, Kenntniß der Entfernung und ruhige Abgabe des Feuers.
Sind diese Bedingungen gegeben, so schießt das Preußische gezogene Geschütz, soweit das menschliche Auge einen Gegenstand noch deutlich zu erkennen vermag, d. h. auf 2500 Schritt, und innerhalb dieser Entfernung auf alle Distanzen mit ungefähr gleicher Sicherheit des Treffens. Ein Trupp Menschen oder Pferde, ein Geschütz bilden Zielobjekte, welche bei zwei Schüssen mindestens einmal getroffen werden. Mit dieser gesteigerten Trefffähigkeit vereint das Geschütz eine erhöhte Wirksamkeit seiner Geschosse durch Perkussion und Explosion derart, daß es einem geschlossenen Trupp unmöglich wird in dem Feuer einer gezogenen Batterie auf eine Viertelmeile Entfernung halten zu bleiben.
Der Feind findet in der freien Ebene nur in der Bewegung und in der zerstreuten Formation einen Schutz.
Das Preußische Infanteriegewehr verbindet mit seiner großen Trefffähigkeit bis 600 Schritt noch die Möglichkeit eines außerordentlich schnellen Feuers, ein unleugbarer Vortheil, wenn dessen Anwendung für die wirklich entscheidenden Momente des Gefechts aufgespart wird. Innerhalb dieser erweiterten Wirkungssphäre der Infanterie können selbst aufgelöste Schwärme des Feindes stillstehend und ungeschützt nicht ausdauern.
Wir dürfen die Ueberzeugung haben, daß bei einem in nicht zu langer Zukunft ausbrechenden Kriege keine unserer Nachbarmächte ihre Schußwaffen auf die gleiche Stufe der Vollkommenheit gebracht haben wird wie die Preußischen. Ein anhaltender Geschützkampf aus großer Ferne, ein stehendes Feuergefecht zwischen Tirailleurlinien kann keinen Erfolg für unsere Gegner haben und um so gewisser ist ein ungestümes Drauflosgehen, ein Anstürmen in zerstreuten Schwärmen, denen geschlossene Abtheilungen folgen, namentlich wenn wir es mit den Franzosen zu thun haben.
Wenn das Zielobjekt sich bewegt, die bekannte Entfernung dadurch eine unbekannte, wechselnde wird, wenn die unmittelbare Bedrohung die Ruhe in Abgabe des Feuers beeinträchtigt, so kann die Wirkung des gezogenen Geschützes wie des gezogenen Infanteriegewehrs leicht eine geringere werden als die des glatten Laufs, bei mehr rasanter Flugbahn der Geschosse; auf die nächsten Entfernungen ist ohnehin die Kartätschwirkung des gezogenen Geschützes schwächer als die des glatten.
Wie ist nun dem ungestümen Andrang des Feindes zu begegnen? Sollen wir ihm auf halbem Wege entgegenkommen, ihn in der Offensive überbieten? Wiegt das moralische Element einer dadurch gehobenen Stimmung die materiellen Vortheile unserer besseren Schußwaffe auf? Denn indem wir uns bewegen, maskiren wir in den allermeisten Fällen unsere Batterien und verzichten auf die ganze Feuerwirkung der Artillerie und den größten Theil der Infanterie.
Wenn auf einem übrigens günstigen Terrain der Feind sich innerhalb einer Viertelmeile nicht formiren darf, so wird er auch den Angriff nur aus großer Entfernung beginnen können. Wenige Treffer der gezogenen Geschütze sprengen jede Kolonne auseinander. Die beiden Tetenzüge eines Bataillons schicken einer attackirenden Kavallerie mehrere 100, der Infanterie an 1000 Kugeln entgegen, ehe sie von ihnen erreicht werden.
Man möchte versucht sein das Gelingen einer solchen Attacke für unmöglich zu erklären, wenn der Vertheidiger nicht den Kopf verliert.
Das Richtige dürfte sein, daß wir den Angriff in der innehabenden Stellung ruhig und bis zum allerletzten Augenblick abwarten, die furchtbare Wirkung des Infanteriefeuers auch auf die nächsten Entfernungen noch ausnutzen und erst dann unsererseits mit frischem Athem und festgeschlossen den Angriff erwidern. Dem Soldaten müßte die Absicht vollkommen klar gemacht werden. Es wäre ihm vorher zu sagen, daß der Gegner mit wüthendem Geschrei auf uns eindringen wird, daß wir es absichtlich geschehen lassen, um ihn schließlich mit Bajonett und Kolben niederzustoßen. Die dazu bestimmten Truppen dürfen, während die Tirailleure ununterbrochen fortfeuern, in geschlossenen Abtheilungen bereit stehen, da sie vom Feuer des anstürmenden Gegners wenig zu leiden haben. Der festeste Entschluß anzugreifen dem ebenso festen Entschluß nicht zu weichen entgegengestellt muß nach aller vernünftigen Berechnung unter sonst gleichen Bedingungen zum Scheitern kommen. Denn da die Vorzüge der verbesserten Feuerwaffe nur im stehenden Gefecht zur Geltung gelangen, so wird der sich bewegende Theil in Nachtheil treten und das erste tollkühne en avant gegen unsere Front möchte leicht das letzte werden.
Der Angriff einer Stellung ist wesentlich schwieriger geworden als deren Vertheidigung, die Defensive während des ersten Stadiums eines Gefechts ein entschiedener Vortheil. Es wird die Aufgabe einer geschickten strategischen Offensive sein den Gegner zum Angriff einer von uns ausgewählten Stellung zu nöthigen und erst wenn Verlust, Erschütterung und Ermattung ihn erschöpft haben, werden wir auch die taktische Offensive ergreifen.
Wenn danach Positionen wieder eine größere Bedeutung erlangen, so fragt sich, welche Eigenschaften bedingen unter jetzigen Verhältnissen eine gute Defensivaufstellung?
Liegt die Stärke der Vertheidigung in der Feuerwirkung, so sehen wir uns schon dadurch auf die Ebene hingewiesen, d. h. die stärkest mögliche Stellung würde eine solche sein, welche vor sich das freie, ebene Feld, hinter sich ein wellenförmig, leicht bedecktes und gangbares Terrain hat. Das Fronthinderniß, welches bisher hauptsächlich den Werth einer Position bedingte, kann füglich wegfallen. Wir wünschen nicht, daß der Feind abgehalten werde unsere Front anzugreifen. Eine sanfte Terrainwelle, durch Tirailleurs und eine gezogene Batterie besetzt, mit freiem Schußfeld von 3000 bis 5000 Schritt vor sich, bildet eine formidable Position. Sie gestattet unsere Reserven gedeckt und, was noch wichtiger, ungesehen aufzustellen, mit unserer Kavallerie ungehindert über sie hinweg zu attackiren und allen Waffen ist die größtmögliche Wirksamkeit gesichert.
Je weniger nun der Frontalangriff Aussicht auf Erfolg hat, um so wahrscheinlicher wird die Umgehung. Dörfer, Waldparzellen etc. bilden nach wie vor erwünschte Flügelanlehnung, doch kann diese in Ermangelung solcher Lokalitäten auch durch eine starke gezogene Batterie ersetzt werden. Die Intensität und Tragweite ihres Feuers zwingt den Gegner in seiner Umgehung so weit auszuholen, daß eine Ueberraschung unserer Gegenmaßregeln kaum stattfinden kann.
Der Wahrscheinlichkeit einer feindlichen Umgehung stellen wir die Stärke unserer Reserven und die Tiefe ihrer Aufstellung entgegen.
Wir brauchen bei der Wirksamkeit unseres Feuers die Front nur leicht zu besetzen und können den größeren Theil unserer Streitkräfte zurückhalten. Die Tragweite auch der feindlichen Artillerie weist den Reserven eine zurückgezogene Aufstellung an, von welcher aus wir um so leichter eine neue Front annehmen können.
[…]
Es hat nur gezeigt werden sollen, daß es ein positiver Vortheil für uns ist, wenn wir uns in einer taktischen Aufstellung defensiv verhalten, welche der Feind aus strategischen Gründen gezwungen wird anzugreifen.
Dazu ist er aber nicht immer gezwungen und schon die fortgesetzte Umgehung seinerseits findet ihre Schranke nur in unserer Offensive. Ueberdies fällt der Vortheil der Defensive fort, sobald das freie Terrain vor unserer Front fehlt.
Wenn das bisher Gesagte richtig ist, so folgt daraus, daß wir den Angriff durchaus vermeiden werden, wo der Feind in einer Stellung steht, die ihm die Vortheile der freien Front sichert. Ein Vorgehen der Masse über die offene Ebene, wie es auf unseren Manöverplätzen vorkommt, kann zur Uebung in den reglementarischen Bewegungen und in Handhabung der Truppen dienen, aber als Angriff gegen einen gedeckt stehenden Feind wird es schwerlich zur Ausführung gelangen.
Finden wir den Gegner in solcher Stellung, die eine volle Wirkung seiner Feuerwaffe gestattet, die unsrige beschränkt, so werden wir den Angriff dort zu vermeiden haben. Strategische Bewegungen, d. h. Märsche außer dem Bereich des feindlichen Feuers, werden die taktische Entscheidung auf ein anderes Gefechtsfeld verlegen, selbst der Rückzug sie in dieser Absicht vertagen.
Im bedeckten, hügeligen und durchschnittenen Boden gleichen sich die Vortheile in dem Maße aus, daß sie dem feststehenden Theil eine ganz entschiedene Ueberlegenheit nicht mehr gewähren. Die Stärke der Terrainabschnitte wird noch immer zu Gunsten der Vertheidigung sein, aber das Moralische wirft ein starkes Gewicht in die Wagschale der Offensive.
Haben wir uns für diese entschieden, so werden wir unsere Avantgarde gleich so organisiren, daß sie allein schon den Vortheil der Ueberraschung im weitesten Maße ausnutzen kann.
Wir denken uns die Avantgarde eines Armeekorps aus der ersten Infanteriebrigade, mindestens einem leichten Kavallerieregiment und einer Batterie gebildet.
Eine verhältnißmäßig starke Kavallerie ist bei der Avantgarde von der allergrößten Wichtigkeit. Auf ihr beruht die Sicherheit der Armee. Sie bleibt unmittelbar am Feind, weil sie sich demselben jederzeit entziehen kann. Ist hingegen die Infanterie einmal engagirt, so hat man es nicht immer in der Hand das Gefecht abzubrechen.
Die Batterie der Avantgarde wird jedenfalls eine gezogene sein. Das gezogene Geschütz soll zwar im Gefecht durchaus stabil sein und kann es vermöge der außerordentlichen Tragweite und Präzision seines Feuers, wobei es für die Wirkung auf 1000 Schritt Entfernung mehr oder weniger gar nicht ankommt. Dabei aber ist es ein leichtes Geschütz und kann in der Eilmarschformation jeder Bewegung, selbst der Kavallerie, folgen. Es ist wichtig gleich beim ersten Anfang des Gefechts dem Gegner mit einem Geschütz entgegenzutreten, welches dem seinigen überlegen ist, ihn aus sehr großer Ferne schon nöthigt seine Truppen zu entwickeln, seine Stärke und Stellung zu zeigen. Das Terrain wird entscheiden, ob man der Avantgarde nicht von Hause aus noch eine halbe Haubitz-Batterie zutheilt. Ist dasselbe nicht allzu coupirt, so wird hinter der Avantgarde beim Anmarsch gegen den Feind zunächst die Reservekavallerie folgen. Unter dem Schutz der Avantgarde und der Kavallerie wird der Rest des Korps fast immer mehr als eine Straße brigadeweise benutzen dürfen, selbst wenn diese dabei auf eine Meile Entfernung auseinander kämen, denn die Konzentrirung nach der Mittelkolonne, welche mit der Artillerie auf der Hauptstraße marschirt, ist dann immer noch in Zeit von einer Stunde zu bewirken. Die Avantgarde muß in diesem Falle mindestens ebenfalls eine Stunde Vorsprung haben.
Hat ihr einleitendes Gefecht die Stellung des Feindes erkennen lassen, so muß nun schon aus der Ferne der Marsch des Gros gegen denjenigen Punkt dirigirt werden, von wo der Hauptangriff erfolgen soll. Denn wir haben gezeigt, daß jede Seitenbewegung im Gesichtsfeld des Gegners, abgesehen davon, daß seine Offensive sie zum Stehen bringt, einen Umweg bedingt, der die Wirkung der Ueberraschung ausschließt und volle Zeit zu Gegenmaßregeln gewährt. Das – „on s'engage partout et puis l'on voit“ – würde sehr große Opfer kosten, wo der Anmarsch und das Abziehen auf solche Entfernungen unter Feuer genommen ist.
Wir wählen für unseren Angriff dasjenige Terrain, welches die möglichst gedeckte Annäherung an die feindliche Aufstellung ermöglicht und es gestattet, seine Massen zu sehen, folglich auch mit unseren gezogenen Geschützen zu erreichen. In den allerseltensten Fällen wird dies zum Frontalangriff führen.
Zu den wenigen Regeln, welche sich im voraus geben lassen, gehört, daß wir Dörfer, Waldparzellen etc. in welchen der Feind sich zur Vertheidigung eingerichtet hat, niemals angreifen, wenn es nicht ganz unbedingt nöthig ist. Dies wird aber zuweilen der Fall sein.
Wir besitzen in dem gezogenen Geschütz das Mittel in sehr kurzer Zeit fast jede Baulichkeit zu zerstören, Mauern niederzuwerfen, Dörfer und Städte in Brand zu setzen, Reserven zu zersprengen, sobald ihre Aufstellung auch nur errathen ist. Unser Infanteriegewehr ist jedem anderen überlegen, so daß unser mit demselben bewaffneter und gedeckt stehender Tirailleur auch gegen den gedeckt stehenden Feind bei einem längeren, durch Artillerie unterstützten Feuergefecht die Oberhand gewinnen muß. Entbehren aber unsere Schützen der Deckung, hat der Gegner bei dem Vortheil ihm genau bekannter Entfernungen noch den einer auf 600 bis 800 Schritt freien Front, so wird das Schützengefecht zu überaus großen Verlusten, nicht aber zur entsprechenden Schwächung und Erschütterung des Feindes führen.
In diesem Falle wird bei freilich zweifelhaftem Erfolg dennoch das tollkühnste Draufgehen weniger Opfer kosten als das Verharren im Feuer. Es bleibt dann nur übrig die Tirailleure im raschen Anlauf gegen die Lisiere heranzuführen, deren Vertheidiger in den persönlichen Kampf zu verwickeln und sie so zu verhindern ihr Feuer gegen unsere unmittelbar nachrückenden geschlossenen Abtheilungen zu richten. Die Formation der Kompagniekolonne ist für diesen Angriff die geeignete. Eine Kavallerieabtheilung muß zur Hand bleiben, um der feindlichen zu begegnen. Ein Handgemenge vor der feindlichen Stellung ist uns erwünscht, da es das feindliche Feuer verhindert und unsere Kolonnen inzwischen herankommen läßt.
Bei Wegnahme eines Dorfes entsteht augenblicklich große Verwirrung. Die Führer haben ihre Truppen nicht mehr in der Hand. Haben wir es mit den Franzosen zu thun, so sind wir sicher, daß sie sich in irgend einer festen Baulichkeit noch behaupten, um dadurch die Wiedernahme des Dorfes zu ermöglichen. Das gezogene Geschütz muß dann die Demolition dieser Reduits vollenden, die Infanterie sich zur Vertheidigung der Rückseite des Ortes etabliren, wenn möglich, ehe der Gegenangriff stattfindet. Liegen zwei feste Terrainpunkte, in denen der Feind sich eingerichtet hat, auf mindestens 1200 Schritt auseinander, so werden wir, nachdem das gezogene Geschütz das dahinter stehende Centrum erschüttert, in der Mitte zwischen beiden durchrücken, während gleichzeitig der Angriff des einen dieser Punkte in Front und Flanke, dann der Angriff im Rücken erfolgt.
Wir verzichten darauf dem Angriffsgefecht in seiner unendlichen Mannigfaltigkeit zu folgen, bei welchem ohnehin weit mehr der moralische Schwung als die kalte Berechnung entscheidet, doch möge man nie vergessen, daß die höchste Bravour an einem unüberwindlichen Hinderniß scheitert, und ein solches Hinderniß ist nicht bloß ein sechs Fuß tiefer Wassergraben, sondern auch eine ganz zugängliche, aber freie Front, in welcher die Feuerwaffe zu einer vernichtenden Wirkung gelangt. Der gute Reiter treibt auch das kühnste Roß nicht gegen ein Hinderniß, das es nicht nehmen kann.
Es würde verkehrt sein, wollte man etwa reglementarisch feststellen, daß eine Truppe nicht über die Ebene gegen einen gedeckt stehenden Feind vorgehen darf. Aber jeder höhere Führer möge sich klar machen, was es damit auf sich hat. Die Offensive wird ihre Geltung im Kriege auch künftig bewahren, es kommt nur darauf an sie zur rechten Zeit eintreten zu lassen, nicht in unruhiger Hast vorzustürzen, wo Stehenbleiben augenscheinlicher Vortheil ist.
Der erste Entschluß sei: nicht zu weichen; der zweite, draufzugehen, findet sich von selbst, wenn wir den Verlust, die Erschöpfung und Verwirrung des Gegners vor Augen sehen.
[…]
Quelle: Helmuth von Moltke, Moltkes militärische Werke, herausgegeben von dem Großen Generalstabe. Berlin: Ernst Siegfried Mittler und Sohn, 1896–1912, Band 2, S. 29–32, 36–39.