Kurzbeschreibung

Der preußische Generalmajor Carl von Clausewitz (1780–1831), einer der führenden Militärstrategen des 19. Jahrhunderts, machte sich seine Erfahrungen aus den Feldzügen gegen Napoleon von 1806 und 1807 sowie von 1812 bis 1815 umfassend zunutze. Seine im Werk Vom Kriege (1832) dargelegte Theorie des Krieges stellte in vielerlei Hinsicht eine paradigmatische Wende im militärischen Denken dar, weil sie auch die grundlegende Beziehung zwischen Kriegführung und Politik berücksichtigte. Die folgenden Passagen konzentrieren sich besonders auf die steigende Bedeutung der Infanterie, die besseren Erfolgschancen der Verteidigung gegenüber der Offensive sowie die angestrebte, aber zunehmend erschwerte Zielsetzung eines vollständigen Sieges durch offensive Operationen.

Carl von Clausewitz, Auszüge aus Vom Kriege (1832)

  • Karl von Clausewitz

Quelle

(Fünftes Buch) Viertes Kapitel: WAFFENVERHÄLTNIS

Wir werden nur von den drei Hauptwaffen reden: dem Fußvolk, der Reiterei und der Artillerie.

Man verzeihe folgende Analyse, die wesentlicher in die Taktik gehört, uns aber zum bestimmteren Denken nötig ist.

Das Gefecht besteht aus zwei wesentlich zu unterscheidenden Bestandteilen: dem Vernichtungsprinzip des Feuers und dem Handgemenge oder persönlichen Gefecht. Das letztere ist wieder entweder Angriff oder Verteidigung (Angriff und Verteidigung sind hier, wo von Elementen die Rede ist, ganz absolut zu verstehen). Die Artillerie wirkt offenbar nur durch das Vernichtungsprinzip des Feuers, die Reiterei nur durch das persönliche Gefecht, das Fußvolk durch beides.

Bei dem persönlichen Gefecht ist das Wesen der Verteidigung, fest zu stehen wie eingewurzelt im Boden; das Wesen des Angriffs ist die Bewegung. Die Reiterei entbehrt die erstere Eigenschaft ganz und genießt die letztere vorzugsweise. Sie ist also nur zum Angriff geeignet. Die Infanterie hat die Eigenschaft des festen Standes vorzugsweise, entbehrt aber die Bewegung nicht ganz.

Aus dieser Verteilung der kriegerischen Elementarkräfte unter die verschiedenen Waffen ergibt sich die Überlegenheit und Allgemeinheit des Fußvolkes im Vergleich mit den beiden anderen Waffen, da sie die einzige ist, die alle drei Elementarkräfte in sich vereinigt. Ferner wird hieraus klar, wie die Verbindung der drei Waffen im Kriege zu einem vollkommeneren Gebrauche der Kräfte führt, weil man dadurch in den Stand gesetzt ist, das eine oder das andere Prinzip, welches in dem Fußvolk auf eine unveränderliche Weise verbunden ist, nach Belieben zu verstärken.

Das Vernichtungsprinzip des Feuers ist in unseren jetzigen Kriegen offenbar das überwiegend wirksame, demungeachtet aber ist ebenso offenbar der persönliche Kampf Mann gegen Mann als die eigentliche selbständige Basis des Gefechts anzusehen. Darum wäre also ein Heer von bloßer Artillerie im Kriege ein Unding; ein Heer von bloßer Reiterei aber wäre denkbar, nur würde es von sehr geringer intensiver Stärke sein. Nicht bloß denkbar, sondern auch schon viel stärker wäre ein Heer von bloßem Fußvolk. Die drei Waffen haben also in Beziehung auf Selbständigkeit diese Ordnung: Fußvolk, Reiterei, Artillerie.

So ist es aber nicht in Beziehung auf die Wichtigkeit, die jede hat, wenn sie in Verbindung mit den anderen ist. Da das Vernichtungsprinzip viel wirksamer ist als das Bewegungsprinzip, so würde die gänzliche Abwesenheit der Reiterei ein Heer weniger schwächen als die gänzliche Abwesenheit der Artillerie.

Ein Heer von bloßem Fußvolk und Artillerie würde zwar, gegenüber einem anderen von allen drei Waffen gebildet, sich in einer unangenehmen Lage befinden, aber wenn es, was ihm an Reiterei abgeht, durch eine verhältnismäßige Menge des Fußvolkes ersetzte, so würde es bei einem etwas anders eingerichteten Verfahren doch mit seinem taktischen Haushalt fertig werden können. Es würde sich wegen der Vorposten in ziemlicher Verlegenheit befinden, niemals den geschlagenen Feind mit großer Lebhaftigkeit verfolgen können und einen eigenen Rückzug mit mehr Mühseligkeiten und Anstrengungen machen; aber diese Schwierigkeiten würden doch wohl an und für sich nicht hinreichen, es ganz aus dem Felde zu vertreiben. — Dagegen würde ein solches Heer, gegenüber einem anderen von bloßem Fußvolk und Reiterei gebildet, eine sehr gute Rolle spielen, und wie dieses letztere gegen alle drei Waffen das Feld halten könnte, läßt sich kaum denken.

Daß diese Betrachtungen über die Wichtigkeit der einzelnen Waffen nur von der Allgemeinheit aller kriegerischen Fälle abstrahiert sind, wo ein Fall den anderen überträgt, versteht sich von selbst, und es kann also nicht die Absicht sein, die gefundene Wahrheit auf jede individuelle Lage eines einzelnen Gefechts anwenden zu wollen. Ein Bataillon auf einem Vorposten oder auf dem Rückzug wird vielleicht lieber eine Schwadron als ein paar Kanonen bei sich haben. Eine Masse Reiterei und reitende Artillerie, die den fliehenden Feind schnell verfolgen oder umgehen soll, kann gar kein Fußvolk brauchen usw.

Fassen wir das Resultat dieser Betrachtungen noch einmal zusammen, so ist es:

1. Das Fußvolk ist die selbständigste unter den Waffen.
2. Die Artillerie ist ganz unselbständig.
3. Das Fußvolk das wichtigste bei der Verbindung mehrerer.
4. Die Reiterei ist am entbehrlichsten.
5. Die Verbindung der drei gibt die größte Stärke.

Gibt die Verbindung aller drei Waffen die größte Stärke, so ist es natürlich, nach dem absolut besten Verhältnis zu fragen, und diese Frage ist fast unmöglich zu beantworten.

Wenn man den Aufwand der Kräfte, welchen die Anschaffung und Unterhaltung der verschiedenen Waffen nötig machen, untereinander vergleichen könnte und dann wieder das, was jede im Kriege leistet, so müßte man auf ein bestimmtes Resultat kommen, welches ganz abstrakt das beste Verhältnis ausdrückte. Allein dieses ist kaum mehr als ein Spiel der Vorstellungen. Schon das vordere Glied dieses Verhältnisses ist schwer zu bestimmen; der eine Faktor zwar nicht, nämlich die Kosten; aber ein anderer ist der Wert des Menschenlebens, worüber niemand gern in Zahlen etwas wird aufstellen wollen.

Auch der Umstand, daß jede der drei Waffen sich vorzugsweise auf eine andere Staatskraft gründet, das Fußvolk auf die Menge der Menschen, die Reiterei auf die Menge der Pferde, die Artillerie auf die vorhandenen Geldmittel, bringt einen fremden Bestimmungsgrund hinein, den wir auch in den großen historischen Umrissen verschiedener Völker und Zeiten deutlich vorherrschen sehen.

Wir müssen uns also, da wir aus anderen Gründen eines Maßstabes doch nicht ganz entbehren können, statt jenes ganzen ersten Gliedes des Verhältnisses nur des einen Faktors bedienen, den wir ausmitteln können, nämlich die Geldkosten. Hierüber haben wir nun mit einer für uns zureichenden Genauigkeit im allgemeinen anzugeben, daß nach den gewöhnlichen Erfahrungen eine Schwadron von 150 Pferden, ein Bataillon von 800 Mann und eine Batterie von 8 sechspfündigen Geschützen ungefähr gleich viel kosten, sowohl was die Ausrüstungs- als Unterhaltungskosten betrifft.

Was das andere Glied des Verhältnisses betrifft, nämlich, wie viel jede Waffe im Vergleich mit der anderen leistet, so ist für dasselbe eine bestimmte Größe noch viel weniger auszumachen. Möglich würde eine solche Ermittelung allenfalls noch sein, wenn es auf das bloße Vernichtungsprinzip ankäme, allein jede Waffe hat ihre eigentümliche Bestimmung, also ihren eigenen Wirkungskreis; dieser aber ist wieder nicht so bestimmt, daß er nicht größer oder kleiner sein könnte, wodurch bloß Modifikationen in der Kriegführung, aber noch keine entschiedenen Nachteile herbeigeführt werden.

Man spricht wohl oft von dem, was die Erfahrung darüber lehrt, und glaubt in der Kriegsgeschichte hinreichende Gründe zu einer Feststellung zu finden, aber jeder muß sich sagen, daß das bloße Redensarten sind, die, weil sie auf nichts Primitives und Notwendiges zurückgeführt werden, in einer untersuchenden Betrachtung keine Rücksicht verdienen.

Wenn nun auch für das beste Verhältnis der Waffen sich zwar eine bestimmte Größe denken läßt, diese aber ein nicht auszumittelndes x, ein bloßes Spiel der Vorstellungen ist, so wird man doch sagen können, welche Wirkungen es haben wird, wenn eine der Waffen in großer Überlegenheit oder in sehr geringer Zahl im Vergleich mit derselben Waffe im feindlichen Heere vorhanden ist.

Die Artillerie verstärkt das Vernichtungsprinzip des Feuers, sie ist die furchtbarste der Waffen, und ihr Mangel schwächt also die intensive Kraft des Heeres ganz vorzüglich. Von der anderen Seite ist sie die unbeweglichste der Waffen, sie macht folglich das Heer schwerfälliger; ferner bedarf sie immer eine Truppe zu ihrer Deckung, weil sie keines persönlichen Gefechts fähig ist; ist sie zu zahlreich, so daß die Deckungstruppen, welche ihr gegeben werden können, nicht überall den feindlichen Angriffsmassen gewachsen sind, so wird sie häufig verlorengehen, und dabei zeigt sich ein neuer Nachteil, daß sie nämlich von den drei Waffen diejenige ist, die der Feind in ihren Hauptteilen, nämlich Geschütz und Fahrzeug, sehr bald gegen uns gebrauchen kann.

Die Reiterei vermehrt das Prinzip der Bewegung in einem Heer. Ist sie in einem zu geringen Maße vorhanden, so schwächt das den raschen Brand des kriegerischen Elementes dadurch, daß alles langsamer (zu Fuß) gemacht wird, daß alles vorsichtiger eingerichtet werden muß; die reiche Saat des Sieges wird nicht mehr mit der Sense, sondern mit der Sichel geschnitten.

Ein Übermaß der Reiterei kann freilich niemals als eine unmittelbare Schwächung der Streitkräfte, als ein inneres Mißverhältnis angesehen werden, aber freilich mittelbar wegen des schwierigen Unterhaltes, und wenn man bedenkt, daß man statt 10 000 Mann Reiterei, die man zu viel hat, 50 000 Mann Fußvolk haben könnte.

Diese Eigentümlichkeiten, welche aus dem Vorherrschen einer Waffe entspringen, sind der Kriegskunst im engeren Sinn um so wichtiger, da sie den Gebrauch der vorhandenen Streitkräfte lehrt, und mit diesen Streitkräften dem Feldherrn auch gewöhnlich das Maß der einzelnen Waffen zugemessen wird, ohne daß er viel dabei zu bestimmen hätte.

Wollen wir uns also den Charakter einer Kriegsart modifiziert durch eine vorherrschende Waffe denken, so ist es auf folgende Weise:

Ein Übermaß von Artillerie muß zu einem mehr defensiven und passiven Charakter der Unternehmungen führen; man wird sein Heil mehr in starken Stellungen, großen Abschnitten des Bodens, selbst in Gebirgsstellungen suchen, damit die Hinternisse des Bodens die Verteidigung und den Schutz der zahlreichen Artillerie übernehmen, und die feindlichen Kräfte selbst kommen, sich ihre Vernichtung zu holen. Der ganze Krieg wird in einem ernsten, förmlichen Menuettschritt geführt werden.

Ein Mangel an Artillerie wird umgekehrt uns vermögen, das Angriffs-, das aktive, das Bewegungsprinzip vorwalten zu lassen. Märsche, Mühen, Anstrengungen werden für uns zu eigentümlichen Waffen; so wird der Krieg mannigfaltiger, lebendiger, krauser; die großen Begebenheiten werden in Scheidemünze umgesetzt.

Bei einer sehr zahlreichen Reiterei werden wir die weiten Ebenen suchen und die großen Bewegungen lieben. In größerer Entfernung vom Feinde werden wir größere Ruhe und Bequemlichkeit genießen, ohne sie ihm zu gönnen. Wir werden kühnere Umgehungen und überhaupt dreistere Bewegungen wagen, weil wir über den Raum gebieten. Insoweit Diversionen und Invasionen zu den wahren Hilfsmitteln des Krieges gehören, werden wir uns ihrer mit Leichtigkeit bedienen können.

Ein entschiedener Mangel an Reiterei vermindert die Bewegungskraft des Heeres, ohne sein Vernichtungsprinzip zu verstärken, wie das Übermaß der Artillerie tut. Vorsicht und Methode sind dann der Hauptcharakter des Krieges. Dem Feinde immer unter den Augen bleiben, um ihn immer unter den Augen zu haben, keine schnellen, noch weniger übereilte Bewegungen, überall ein langsames Hinschieben gut gesammelter Massen, Vorliebe zur Verteidigung und zur durchschnittenen Gegend und, wo der Angriff sein muß, die kürzeste Richtung auf den Schwerpunkt der feindlichen Armee sind die natürlichen Tendenzen in diesem Falle.

Diese verschiedenen Richtungen, welche die Kriegsart nach einer vorherrschenden Waffe annimmt, werden selten so umfassend und durchgreifend sein, daß sie allein oder vorzüglich die Richtung des ganzen Unternehmens abgeben. Ob man den strategischen Angriff oder die Verteidigung, dieses oder jenes Kriegstheater, eine Hauptschlacht oder eines der anderen Zerstörungsmittel wählen soll, wird wohl durch andere wesentlichere Umstände bestimmt werden, wenigstens ist sehr zu befürchten, daß, wenn dies nicht der Fall sein sollte, man eine Nebensache für die Hauptsache genommen hätte. Aber auch wenn dem so ist, wenn die Hauptfragen bereits aus anderen Gründen entschieden worden sind, bleibt immer noch ein gewisser Spielraum für den Einfluß der vorherrschenden Waffenart, denn man kann im Angriff vorsichtig und methodisch, in der Verteidigung kühn und unternehmend sein usw. durch alle verschiedenen Stationen und Nuancen kriegerischen Lebens.

Umgekehrt kann die Natur des Krieges auf das Verhältnis der Waffen einen merklichen Einfluß haben.

Erstens: Ein auf Landwehr und Landsturm gestützter Volkskrieg muß natürlich eine große Menge Fußvolk aufstellen; denn in einem solchen fehlt es mehr an Ausrüstungsmitteln als an Menschen, und da die Ausrüstung ohnehin dabei noch auf das Allernotwendigste beschränkt wird, so kann man leicht denken, daß für eine Batterie von acht Geschützen nicht ein Bataillon, sondern zwei oder drei gestellt werden könnten.

Zweitens: Kann ein Schwacher gegen einen Mächtigen nicht zur Volksbewaffnung oder einem derselben nahe kommenden Landwehrstande seine Zuflucht nehmen, so ist allerdings die Vermehrung der Artillerie das kürzeste Mittel, seine schwache Streitkraft dem Gleichgewicht zu nähern; denn er gewinnt die Menschen und erhöht das wesentlichste Prinzip seiner Streitkraft, nämlich das Vernichtungsprinzip. Ohnehin wird er meistens auf ein kleines Kriegstheater beschränkt sein, und diese Waffe sich also mehr für ihn eignen. Friedrich der Große ergriff dies Mittel in den späteren Jahren des Siebenjährigen Krieges.

Drittens: Die Reiterei ist die Waffe der Bewegung und großen Entscheidungen; ihr Vorherrschen über das gewöhnliche Verhältnis ist also wichtig bei sehr ausgedehnten Räumen, großen Hin- und Herzügen und der Absicht großer entscheidender Schläge. Bonaparte gibt ein Beispiel davon.

Daß Angriff und Verteidigung nicht eigentlich an sich einen Einfluß darauf haben können, wird erst deutlich werden können, wenn wir von diesen beiden Formen der kriegerischen Tätigkeit reden; vorläufig wollen wir nur bemerken, daß beide, der Angreifende wie der Verteidiger, in der Regel dieselben Räume durchziehen und auch, wenigstens in vielen Fällen, dieselben entscheidenden Absichten haben können. Wir erinnern an den Feldzug von 1812.

Gewöhnlich ist man der Meinung, daß die Reiterei im Verhältnis zum Fußvolk im Mittelalter sehr viel zahlreicher gewesen sei und nach und nach bis auf unsere Tage abgenommen habe. Dies ist doch wenigstens zum Teil ein Mißverständnis. Das Verhältnis der Reiterei, der Zahl nach, war im Durchschnitt vielleicht nicht bedeutend größer, wie man sich wohl überzeugen wird, wenn man die genaueren Angaben der Streitkräfte durch das Mittelalter verfolgt. Man denke nur an die Massen des Fußvolkes, welche die Heere der Kreuzfahrer ausmachten oder den deutschen Kaisern auf ihren Römerzügen folgten. Aber es war die Wichtigkeit der Reiterei, welche viel größer war. Sie war die stärkere Waffe, aus dem besten Teile des Volkes zusammengesetzt, und war dies so sehr, daß sie, obgleich immer sehr viel schwächer, doch immer als die Hauptsache angesehen, das Fußvolk wenig gerechnet, kaum genannt wurde; daher denn auch die Meinung entstanden ist, als habe es damals dessen sehr wenig gegeben. Freilich kam bei kleineren Kriegsanfällen im Inneren von Deutschland, Frankreich und Italien der Fall öfter als jetzt vor, daß das ganze kleine Heer aus bloßer Reiterei bestand; da sie die Hauptwaffe war, so hatte das nichts Widersprechendes; allein diese Fälle können nicht entscheiden, wenn wir die Allgemeinheit im Auge haben, wo sie von den größeren Heeren reichlich übertragen werden. Nur als alle Lehnsverbindlichkeit in der Kriegführung aufgehört hatte, die Kriege durch geworbene, gemietete und besoldete Soldaten geführt wurden, also auf Geld und Werbung sich stützten, also in den Zeiten des Dreißigjährigen Krieges und der Kriege unter Ludwig XIV., da hörte dieser Gebrauch einer großen Masse weniger nützlichen Fußvolkes auf, und man würde vielleicht ganz auf die Reiterei zurückgekommen sein, wenn das Fußvolk nicht schon durch eine merkliche Ausbildung des Feuergewehres an Wichtigkeit zugenommen und sich dadurch einigermaßen in seiner überlegenen Zahl behauptet hätte; das Verhältnis desselben zur Reiterei war in dieser Periode, wenn es schwach war, wie 1:1, wenn es zahlreich war, wie 3:1.

Von jener Wichtigkeit hat die Reiterei seitdem immer mehr eingebüßt, je weiter die Ausbildung der Feuerwaffen gegangen ist. Dies ist schon an sich verständlich genug, nur muß diese Ausbildung nicht bloß auf die Waffe selbst und die Kunstfertigkeit ihres Gebrauches bezogen werden, sondern auch auf den Gebrauch der damit ausgerüsteten Heeresteile. In der Mollwitzer Schlacht hatten es die Preußen auf den größten Grad der Feuerfertigkeit gebracht, der auch seitdem in diesem Sinn nicht weiter hat getrieben werden können. Dagegen ist der Gebrauch des Fußvolkes in durchschnittener Gegend und des Feuergewehres im Schützengefecht erst seitdem aufgekommen und als ein großer Fortschritt in dem Vernichtungsakt zu betrachten.

Unsere Meinung ist also, daß das Verhältnis der Reiterei sich der Zahl nach wenig, der Wichtigkeit nach aber sehr verändert hat. Dies scheint ein Widerspruch zu sein, ist es aber in der Tat nicht. Das Fußvolk des Mittelalters nämlich war, wenn es sich in großer Zahl beim Heere befand, nicht durch sein inneres Verhältnis zur Reiterei auf diese Zahl gekommen, sondern weil alles, was man nicht zu der viel kostbareren Reiterei stellen konnte, als Fußvolk gestellt wurde; dieses Fußvolk war also ein bloßer Behelf, und die Reiterei hätte, wenn ihre Zahl bloß nach ihrem inneren Wert bestimmt werden sollte, nie zu stark sein können. So ist zu begreifen, wie trotz der stets verminderten Wichtigkeit die Reiterei vielleicht immer noch Bedeutung genug hat, um sich auf dem Punkt des Zahlenverhältnisses zu erhalten, welchen sie bisher so dauernd behauptet hat.

In der Tat ist es bemerkenswert, daß wenigstens seit dem Österreichischen Sukzessionskriege das Verhältnis der Reiterei zum Fußvolk sich gar nicht verändert und immer zwischen einem Vierteil, einem Fünfteil und einem Sechsteil desselben geschwebt hat; dies scheint anzudeuten, daß in demselben das natürliche Bedürfnis gerade befriedigt sei, und sich also darin diejenigen Größen kundtäten, die unmittelbar nicht auszumitteln sind. Wir zweifeln doch, daß dem so sei, und finden, daß die anderweitigen Veranlassungen zu einer zahlreichen Reiterei in den namhaftesten Fällen offenbar am Tage liegen.

Rußland und Österreich sind Staaten, welche darauf hingewiesen sind, weil sie noch Bruchstücke tatarischer Einrichtung in ihrem Staatsverband haben. Bonaparte konnte für seine Zwecke nie stark genug sein; hatte er nun die Konskription benutzt, soviel immer möglich war, so blieb ihm nur noch die Verstärkung seines Heeres durch Vermehrung der Hilfswaffen, welche mehr auf das Geld als auf Menschenverbrauch gegründet sind. Außerdem ist nicht zu verkennen, daß bei dem ungeheuren Umfange seiner kriegerischen Züge die Reiterei einen höheren Wert haben mußte als in gewöhnlichen Fällen.

Friedrich der Große rechnete bekanntlich sehr ängstlich jeden Rekruten nach, den er seinem Lande ersparen konnte; es war seine Hauptindustrie, sein Heer soviel als möglich auf Kosten des Auslandes stark zu erhalten. Daß er dazu alle Ursache hatte, begreift man, wenn man bedenkt, daß ihm von der kleinen Ländermasse noch Preußen und die westfälischen Provinzen entzogen waren.

Die Reiterei, außerdem, daß sie überhaupt weniger Menschen erfordert, ergänzte sich auch viel leichter durch Werbung; dazu kam sein durchaus auf Überlegenheit in der Bewegung gegründetes Kriegssystem, und so geschah es, daß sich seine Reiterei, während sein Fußvolk abnahm, bis Ende des Siebenjährigen Krieges hin immer noch vermehrte; doch betrug sie selbst am Ende desselben schwerlich über ein Vierteil der im Felde stehenden Infanterie.

Es fehlte in der eben bezeichneten Epoche auch nicht an Beispielen, daß Armeen mit ungewöhnlich schwacher Reiterei aufgetreten sind und doch den Sieg erhalten haben. Das namhafteste ist die Schlacht von Groß-Görschen. Bonaparte war, wenn wir bloß auf die Divisionen sehen, die teil an dem Gefecht genommen, 100 000 Mann stark, wobei 5 000 Mann Reiterei und 90 000 Mann Fußvolk; die Verbündeten 70 000 Mann, wobei 25 000 Mann Reiterei und 40 000 Mann Fußvolk. Bonaparte hatte also für 20 000 Mann Reiterei, welche ihm abgingen, nur 50 000 Mann Fußvolk mehr, er hätte aber 100 000 dafür haben sollen. Hat er die Schlacht mit jenem Übergewicht an Fußvolk gewonnen, so kann man wohl fragen, ob er sie, wenn das Verhältnis 140 000 zu 40 000 gewesen wäre, überhaupt möglicherweise hätte verlieren können.

Freilich zeigte sich gleich nach der Schlacht der große Nutzen unserer Überlegenheit an Reiterei, denn Bonaparte erntete fast keine Siegestrophäe. Der Gewinn der Schlacht ist also nicht alles — aber bleibt es nicht immer die Hauptsache?

Wenn wir solche Betrachtungen anstellen, so haben wir Mühe, zu glauben, daß das Verhältnis, auf welches sich Reiterei und Fußvolk seit 80 Jahren gestellt und erhalten haben, das natürliche, bloß aus ihrem absoluten Werte hervorgehende sei; wir sind vielmehr der Meinung, daß nach manchem Oszillieren das Verhältnis dieser beiden Waffen sich ferner in dem bisherigen Sinn verändern und die konstante Zahl der Reiterei am Ende bedeutend geringer werden wird. —

Was die Artillerie betrifft, so ist die Anzahl der Geschütze natürlich seit ihrer Erfindung und mit ihrer Erleichterung und Vervollkommnung gestiegen; doch erhält auch sie sich seit Friedrich dem Großen ziemlich auf demselben Verhältnis von 2 bis 3 Geschützen auf 1000 Mann, wohlverstanden bei Eröffnung des Feldzuges, denn im Laufe desselben schmilzt die Artillerie nicht so zusammen wie das Fußvolk, daher ist das Verhältnis am Ende des Feldzuges merklich stärker und kann zu 3, 4 bis 5 Geschützen auf 1000 Mann angenommen werden. Ob dies Verhältnis das natürliche ist, oder die Vermehrung der Geschütze noch weitergehen kann, ohne der ganzen Kriegführung zum Nachteil zu gereichen, muß der Erfahrung überlassen bleiben.

Fassen wir jetzt noch ein Hauptresultat unserer ganzen Betrachtung auf, so ist es:

1. Daß das Fußvolk die Hauptwaffe ist, welcher die anderen beiden zugeordnet sind.
2. Daß man durch einen größeren Aufwand von Kunst und Tätigkeit in der Führung des Krieges den Mangel beider einigermaßen ersetzen kann, vorausgesetzt, daß man dafür um so viel stärker an Fußvolk sei, und daß man dies um so eher könne, je besser dieses Fußvolk ist.
3. Daß die Artillerie schwerer zu entbehren ist als die Reiterei, weil sie das Hauptvernichtungsprinzip und ihr Gefecht mit dem des Fußvolkes mehr verschmolzen ist.
4. Daß überhaupt, da die Artillerie im Vernichtungsakt die stärkste Waffe ist, und die Reiterei die schwächste, man immer fragen muß: wieviel Artillerie kann man ohne Nachteil haben, und mit wie wenig Reiterei kann man sich behelfen?

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(Fünftes Buch) Elftes Kapitel: FORTSETZUNG

Über das Maß eines Marsches und die dazu erforderliche Zeit ist es natürlich, sich an die allgemeinen Erfahrungssätze zu halten.

Für unsere neueren Heere steht es längst fest, daß ein Marsch von 3 Meilen das gewöhnliche Tagewerk ist, welches bei langen Zügen sogar auf 2 Meilen heruntergesetzt werden muß, um die nötigen Rasttage einschalten zu können, welche für die Herstellung alles schadhaft Gewordenen bestimmt sind.

Bei einer Division von 8000 Mann dauert ein solcher Marsch in ebenen Gegenden und mittelmäßigen Wegen 8 bis 10, in bergigen 10 bis 12 Stunden. Sind mehrere Divisionen in einer Kolonne beisammen, so dauert er noch ein paar Stunden länger, wenn man auch selbst die Zeit abrechnet, welche man die folgenden Divisionen später aufbrechen läßt.

Man sieht also: daß der Tag bei einem solchen Marsch schon ziemlich besetzt ist, daß die Anstrengung des Soldaten, 10 bis 12 Stunden unter seinem Gepäck zu sein, nicht mit einer gewöhnlichen Fußreise von 3 Meilen verglichen werden kann, die ein einzelner bei erträglichen Wegen füglich in 5 Stunden zurücklegen kann.

Zu den stärksten Märschen gehören, wenn sie einzeln vorkommen, 5, höchstens 6 Meilen, auf längere Dauer 4.

Ein Marsch von 5 Meilen erfordert schon einen Halt von mehreren Stunden, und eine Division von 8000 Mann wird ihn auch bei guten Wegen nicht unter 16 Stunden zurücklegen. Ist der Marsch 6 Meilen, und sind mehrere Divisionen beisammen, so muß man wenigstens 20 Stunden rechnen.

Es ist hier der Marsch gemeint von einem Lager ins andere und bei versammelten Divisionen, denn dies ist die gewöhnliche Form, welche auf dem Kriegstheater vorkommt. Marschieren mehrere Divisionen in einer Kolonne, so wird man die vordersten etwas früher versammeln und abmarschieren lassen, und sie rücken dann auch um so viel früher ins Lager. Indessen kann dieser Unterschied doch niemals die ganze Zeit betragen, welche der Länge einer Division im Marsch entspricht, und welche sie, wie die Franzosen sehr gut sagen, zu ihrem découlement (Ablauf) braucht. Es wird daher für die Anstrengung des Soldaten dadurch wenig erspart und jeder Marsch durch die Menge der Truppen in seiner Dauer sehr verlängert. Die Division selbst auf eine ähnliche Art mit ihren Brigaden in verschiedenen Zeiten zu versammeln und abrücken zu lassen, ist in den wenigsten Fällen anwendbar, und darin liegt der Grund, warum wir sie als Einheit angenommen haben.

Bei langen Reisemärschen, wo die Truppen von einem Quartier ins andere rücken und die Wege in kleinen Abteilungen ohne Versammlungspunkte zurücklegen, kann freilich der Weg an und für sich größer sein; allein er ist es auch schon durch die Umwege, welche die Quartiere verursachen.

Diejenigen Märsche aber, bei welchen die Truppen sich täglich in Divisionen oder gar in Korps versammeln müssen und doch in Quartiere abrücken, kosten die meiste Zeit und sind nur in reichen Gegenden und bei nicht zu großen Truppenmassen ratsam, weil dann die erleichterte Beköstigung und das Obdach einen hinreichenden Ersatz geben für die längere Anstrengung. Die preußische Armee auf ihrem Rückzug 1806 befolgte unstreitig ein fehlerhaftes System, als sie der Verpflegung wegen die Truppen jede Nacht in Quartiere verlegte. Die Verpflegung hätte sich auch in Feldlagern (Biwaks) herbeischaffen lassen, die Armee hätte nicht bei übertriebenen Anstrengungen der Truppen auf etwa 50 Meilen dennoch 14 Tage Zeit nötig gehabt.

Alle jene Zeit- und Längenbestimmungen erleiden aber, wenn schlechte Wege oder bergige Gegenden zu durchziehen sind, solche Veränderungen, daß man Mühe hat, in einem ganz bestimmten Fall die Zeit eines Marsches mit einiger Sicherheit zu schätzen, geschweige denn etwas Allgemeines darüber zu bestimmen. Die Theorie kann daher nur auf die Gefahr der Mißgriffe aufmerksam machen, in welcher man hier schwebt. Um sie zu vermeiden, ist der behutsamste Kalkül nötig und ein großer Spielraum für unvorhergesehene Verzögerungen. Auch das Wetter und der Zustand der Truppen kommen hierbei in Betrachtung.

Seit der Abschaffung der Zelte und seit der Verpflegung der Truppen durch gewaltsame Beitreibung der Lebensmittel an Ort und Stelle ist der Troß der Heere merklich verringert worden, und es ist natürlich die bedeutendste Wirkung davon zunächst in der Beschleunigung ihrer Bewegungen, also in der Vergrößerung des Tagemarsches zu suchen. Dies ist doch nur der Fall unter gewissen Umständen.

Die Märsche auf dem Kriegstheater sind dadurch wenig beschleunigt worden, denn es ist eine bekannte Sache, daß in allen Fällen, wo der Zweck Märsche erforderte, die über das gewöhnliche Maß hinausgingen, der Troß zurückgelassen oder vorausgeschickt und gewöhnlich solange von der Truppe entfernt gehalten wurde, wie diese Bewegungen dauerten; mithin hatte er gewöhnlich auf die Bewegung keinen Einfluß und wurde, sobald er aufhörte, ein unmittelbares Impediment zu sein, wie sehr er auch übrigens dabei leiden mochte, nicht weiter berücksichtigt. Es kommen daher im Siebenjährigen Kriege Märsche vor, die auch jetzt nicht übertroffen werden könnten, und wir wollen zum Beweise den Marsch Lacys 1760 anführen, als er die Diversion der Russen auf Berlin unterstützen sollte. Er legte den Weg von Schweidnitz durch die Lausitz bis Berlin, welcher 45 Meilen beträgt, in 10 Tagen zurück und machte also täglich 4½ Meilen, welches für ein Korps von 15 000 Mann auch noch jetzt außerordentlich sein würde.

Von der anderen Seite haben die Bewegungen der neueren Heere eben wegen der veränderten Verpflegungsart wieder ein aufhaltendes Prinzip bekommen. Müssen die Truppen sich ihren Bedarf zum Teil selbst beschaffen, welches oft vorkommt, so brauchen sie dazu mehr Zeit, als zum bloßen Empfang des auf Brotwagen vorrätigen Brotes nötig gewesen wäre. Außerdem kann man die Truppen bei länger dauernden Zügen nicht in so großen Massen auf einem Fleck lagern lassen, sondern man muß die Divisionen voneinander trennen, um leichter für sie Rat zu schaffen; endlich fehlt es auch selten, daß ein Teil des Heeres, namentlich die Reiterei, in Quartiere verlegt wird. Alles dieses verursacht im ganzen einen merklichen Aufenthalt. Wir finden deshalb, daß Bonaparte 1806, als er das preußische Heer verfolgte und abschneiden wollte, und Blücher 1815, als er dieselbe Absicht mit dem französischen hatte, beide nur etwa 30 Meilen in 10 Tagen zurückgelegt haben, eine Geschwindigkeit, die auch Friedrich der Große seinen Märschen aus Sachsen nach Schlesien und zurück trotz allem Troß, welchen er dabei mit sich führte, zu geben wußte.

Indessen haben die Beweglichkeit und Handlichkeit, wenn wir uns so ausdrücken dürfen, der großen und kleinen Heeresteile auf dem Kriegsschauplatz durch die Verminderung des Trosses doch merklich gewonnen. Teils hat man bei gleicher Anzahl der Reiterei und des Geschützes weniger Pferde, ist also wegen des Futters nicht so oft in Sorgen, teils ist man in seinen Stellungen weniger befangen, weil man nicht immer auf einen lang nachziehenden Schweif des Trosses Rücksicht zu nehmen braucht.

Märsche, wie Friedrich der Große nach der Aufhebung der Belagerung von Olmütz 1758 sie machte mit 4000 Fuhrwerken, zu deren Deckung die halbe Armee in einzelnen Bataillonen und Zügen aufgelöst wurde, dürften jetzt, auch gegen den furchtsamsten Gegner, nicht mehr gelingen.

Auf langen Reisemärschen, vom Tajo bis an den Njemen, ist freilich jene Erleichterung des Heeres fühlbarer; denn wenn auch wegen des übrigen Fuhrwerkes das gewöhnliche Maß des Tagesmarsches dasselbe bleibt, so kann doch in dringenden Fällen mit geringeren Opfern davon abgewichen werden.

Überhaupt liegt in der Verminderung des Trosses mehr eine Ersparung von Kräften als eine Beschleunigung der Bewegungen.

(Fünftes Buch) Zwölftes Kapitel: FORTSETZUNG

Wir haben jetzt den zerstörenden Einfluß zu betrachten, welchen die Märsche auf die Streitkraft üben. Er ist so groß, daß man ihn als ein eigenes tätiges Prinzip neben dem Gefecht aufstellen möchte.

Ein einzelner mäßiger Marsch nutzt das Instrument nicht ab, aber eine Reihe von mäßigen tut es schon und eine Reihe von schwierigen natürlich viel mehr.

Auf der Kriegsbühne selbst sind Mangel an Verpflegung und Unterkommen, schlechte ausgefahrene Wege und der Kothurn beständiger Schlachtfertigkeit die Ursachen der unverhältnismäßigen Kraftanstrengungen, wodurch Menschen, Vieh, Fuhrwerk und Bekleidung zugrunde gerichtet werden.

Man ist gewohnt, zu sagen, daß eine lange Ruhe dem physischen Wohl eines Heeres nicht tauge, daß in demselben mehr Krankheiten entständen als bei mäßiger Tätigkeit. Allerdings können und werden Krankheiten entstehen, wenn der Soldat in engen Quartieren aufeinandergepackt ist, aber diese werden auch entstehen, wenn dies Marschquartiere sind, und niemals kann Mangel an Luft und Bewegung die Ursache solcher Krankheiten sein, da man beides durch Übungen so leicht geben kann.

Man überlege nur, welchen Unterschied es in dem gestörten und schwankenden Organismus eines Menschen macht, ob er auf offener Landstraße in Kot, Schlamm und Regen unter der Last seines Gepäckes oder im Zimmer erkrankt; selbst aus dem Lager wird er bald nach dem nächsten Ort zu schaffen und nicht ganz ohne ärztliche Hilfe sein, während er auf dem Marsch erst stundenlang am Wege ohne irgendeine Unterstützung liegen bleibt und sich dann meilenweit als Nachzügler fortschleppt. Wieviel leichte Krankheiten werden dadurch zu schweren, wieviel schwere zu tödlichen! Man überlege, wie im Staub und dem brennenden Sonnenstrahl des Sommers selbst ein mäßiger Marsch die furchtbarste Erhitzung verursachen kann, in welcher dann, vom glühendsten Durst gepeinigt, der Soldat zum frischen Quell stürzt, um sich Krankheit und Tod zu holen.

Es kann mit dieser Betrachtung nicht unsere Absicht sein, die Tätigkeit im Kriege vermindern zu wollen; für den Gebrauch ist das Instrument da, und nutzt dieser Gebrauch es ab, so ist das in der Natur der Sache; aber wir wollen nur alles an seinen Ort gestellt wissen und jener theoretischen Prahlerei entgegentreten, nach welcher die überwältigendste Überraschung, die schnellste Bewegung, die ruheloseste Tätigkeit nichts kosten sollen, sondern als reiche Minen geschildert werden, welche die Trägheit der Feldherren unbenutzt liegen läßt. Es verhält sich mit der Ausbeute dieser Minen wie mit jener der Gold- und Silbergruben; man sieht nur auf das Produkt und fragt nicht, wieviel die Arbeit wert gewesen, die es zu Tage gefördert.

Bei langen Reisemärschen außer dem Kriegstheater sind zwar die Bedingungen, unter welchen der Marsch geschieht, gewöhnlich leichter und die Verluste der einzelnen Tage geringer, dafür aber ist der leichteste Kranke gewöhnlich auf lange Zeit verloren, weil die Genesenden das immer fortrückende Heer nicht erreichen können.

Bei der Reiterei vermehrt sich die Zahl gedrückter und lahmer Pferde in steigender Progression, und beim Fuhrwerk gerät manches ins Stocken und in Unordnung. Es fehlt daher nie, daß ein Heer nach einem Zuge von 100 Meilen und darüber sehr geschwächt ankommt, besonders an Reiterei und Fuhrwerk.

Werden solche Züge auf dem Kriegstheater selbst, d. h. unter den Augen des Feindes nötig, so fließen die Nachteile beider Verhältnisse zusammen, und die Verluste können bei großen Massen und sonst ungünstigen Verhältnissen ins Unglaubliche steigen.

Nur ein paar Beispiele, um der Vorstellung Bestimmtheit zu geben.

Als Bonaparte den 24. Junius 1812 den Njemen überschritt, war das ungeheure Zentrum, womit er in der Folge gegen Moskau zog, 301 000 Mann stark. Bei Smolensk, den 15. August, waren davon entsendet 13 500 Mann, es hätte also 287 500 Mann stark sein müssen. Sein wirklicher Bestand aber betrug 182 000 Mann; der Verlust war also 105 500 Mann.[1] Bedenkt man, daß bis dahin nur zwei namhafte Gefechte vorgekommen waren, eins zwischen Davout und Bagration, das andere zwischen Murat und Tolstoj-Ostermann, so wird man den Verlust des französischen Heeres in Gefechten höchstens auf 10 000 Mann anschlagen können, und der, welchen es durch Krankheiten und Nachzügler hatte, betrug also innerhalb 52 Tagen und bei einem geraden Vorrücken von etwa 70 Meilen 95 000 Mann, d. h. ein Dritteil des Ganzen.

Drei Wochen später, zur Zeit der Schlacht von Borodino, betrug dieser Verlust schon 144 000 Mann (mit Einschluß der in den Gefechten verlorenen) und 8 Tage darauf in Moskau 198 000 Mann. Die Verluste jener Armee überhaupt sind in der ersten jener Perioden täglich 1/150, in der zweiten 1/120 und in der dritten 1/19 des Ganzen in seiner anfänglichen Stärke.

Die Bewegung Bonapartes von dem Übergang über den Njemen bis Moskau ist allerdings eine unaufhaltsame zu nennen, doch muß man nicht vergessen, daß sie 82 Tage gedauert hat, in welchen nur etwa 120 Meilen zurückgelegt sind, und daß das französische Heer zweimal förmlich Halt gemacht hat: einmal bei Wilna etwa 14 Tage, das andere Mal bei Witebsk etwa 11 Tage, in welcher Zeit mancher Nachzügler Zeit hatte, sich wieder anzuschließen. Bei diesem vierzehnwöchentlichen Vorrücken waren Jahreszeit und Wege nicht zu den schlimmsten zu zählen, denn es war im Sommer und die Wege, welche man zog, meistens Sand. Aber die große, auf einer Straße vereinigte Truppenmasse, der Mangel an zureichender Verpflegung und ein Gegner, welcher im Rückzug, aber nicht auf der Flucht ist, waren die erschwerenden Bedingungen.

Von dem Rückzuge der französischen Armee, oder richtiger, von ihrem Vorgehen von Moskau bis an den Njemen wollen wir gar nicht sprechen, aber das dürfen wir wohl bemerken, daß die nachrückende russische Armee 120 000 Mann stark aus der Gegend von Kaluga abmarschierte und 30 000 Mann stark in Wilna eintraf. Wie wenig sie in dieser Zeit in Gefechten eingebüßt, ist jedermann bekannt.

Noch ein Beispiel aus dem nicht durch einen langen Zug, aber durch viele Hin- und Herbewegung sehr ausgezeichneten Feldzug Blüchers 1813 in Schlesien und Sachsen. Das Yorksche Korps desselben fing diesen Feldzug den 16. August etwa 40 000 Mann stark an und war am 19. Oktober bei Leipzig noch 12 000 Mann. Die Hauptgefechte, welche dieses Korps bei Goldberg, Löwenberg, in der Schlacht an der Katzbach, bei Wartenburg und in der Schlacht bei Möckern (Leipzig) geliefert hatte, kosteten ihm nach den Angaben der besten Schriftsteller etwa 12 000 Mann, mithin betrug der übrige Verlust in 8 Wochen 16 000 Mann, also 2/5 des Ganzen.

Man muß sich also auf ein großes Zerstören seiner eigenen Kräfte gefaßt machen, wenn man einen bewegungsreichen Krieg führen will, danach seinen übrigen Plan einrichten und vor allem die Verstärkungen, welche nachrücken sollen.

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(Sechstes Buch) Sechstes Kapitel: UMFANG DER VERTEIDIGUNGSMITTEL

Wir haben in dem zweiten und dritten Kapitel dieses Buches gezeigt, wie die Verteidigung im Gebrauch derjenigen Dinge, welche außer der absoluten Stärke und dem Wert der Streitkräfte den taktischen wie den strategischen Erfolg bestimmen, nämlich Vorteil der Gegend, Überraschung, Anfall von mehreren Seiten, Beistand des Kriegstheaters, Beistand des Volkes, Benutzung großer moralischer Kräfte —, eine natürliche Überlegenheit hat. Wir halten es für nützlich, hier noch einen Blick auf den Umfang derjenigen Mittel zu werfen, welche dem Verteidiger vorzugsweise zu Gebote stehen und gewissermaßen als die verschiedenen Säulenordnungen seines Baues zu betrachten sind.

1. Die Landwehr. Sie ist in neueren Zeiten auch außer dem Lande zum Angriff des feindlichen Landes gebraucht worden, und es ist nicht zu leugnen, daß ihre Einrichtung in manchen Staaten, z. B. Preußen, von der Art ist, daß sie fast wie ein Teil des stehenden Heeres betrachtet werden muß, also der Verteidigung nicht allein angehört. Indessen ist doch nicht zu übersehen, daß ihr sehr kräftiger Gebrauch 1813, 1814 und 1815 von dem Verteidigungskriege ausging, daß sie an den wenigsten Orten wie in Preußen eingerichtet, bei jedem unvollkommenen Grade der Einrichtung aber notwendig mehr zur Verteidigung als zum Angriff geeignet sein muß. Außerdem aber liegt in dem Begriff der Landwehr immer der Gedanke einer außerordentlichen, mehr oder weniger freiwilligen Mitwirkung der ganzen Volksmasse beim Kriege mit ihren körperlichen Kräften, ihrem Reichtum und ihrer Gesinnung. Je mehr sich die Einrichtung davon entfernt, um so mehr wird das, was sie aufstellt, ein stehendes Heer unter anderem Namen sein, um so mehr wird es die Vorteile desselben haben, aber auch um so mehr die Vorteile der eigentlichen Landwehr entbehren, nämlich eines Kraftumfanges, der viel ausgedehnter, viel weniger bestimmt, viel leichter durch Geist und Gesinnung zu steigern ist. In diesen Dingen liegt das Wesen der Landwehr; dieser Mitwirkung des ganzen Volkes muß durch die Linien ihrer Einrichtung Spielraum gelassen werden, oder man verfolgt, indem man sich von der Landwehr etwas Besonderes verspricht, ein Schattenbild.

Nun ist aber die nahe Verwandtschaft nicht zu verkennen, in welcher dieses Wesen einer Landwehr mit dem Begriff der Verteidigung steht, und also auch nicht zu verkennen, daß eine solche Landwehr der Verteidigung immer mehr angehören wird als dem Angriff, daß sie diejenigen Wirkungen, womit sie den Angriff überbietet, hauptsächlich bei der Verteidigung zeigen wird.

2. Festungen. Die Mitwirkung der Festungen des Angreifenden erstreckt sich nur auf die der Grenze zunächst gelegenen und ist nur schwach; bei dem Verteidiger greift sie tiefer ins Land hinein, bringt also mehrere in Wirksamkeit, und diese Wirksamkeit selbst ist von einer ungleich größeren intensiven Stärke. Eine Festung, die eine wirkliche Belagerung veranlaßt und aushält, drückt natürlich mit einem stärkeren Gewicht auf die Waagschale des Krieges als eine, welche durch ihre Werke bloß den Gedanken einer Wegnahme dieses Punktes entfernt, also nicht wirklich feindliche Kräfte beschäftigt und zerstört.

3. Das Volk. Obgleich der Einfluß eines einzelnen Bewohners des Kriegsschauplatzes auf den Krieg in den meisten Fällen nicht bemerklicher ist als die Mitwirkung eines Wassertropfens bei dem ganzen Strom, so ist doch selbst in Fällen, wo von gar keinem Volksaufstand die Rede ist, der Gesamteinfluß, den die Einwohner des Landes auf den Krieg haben, nichts weniger als unmerklich. Alles geht im eigenen Lande leichter, vorausgesetzt, daß die Gesinnung der Untertanen nicht im Widerspruch mit diesem Begriff ist. Alle Leistungen, groß und klein, geschehen dem Feinde nur unter dem Zwange offenbarer Gewalt; diese muß von der Streitkraft bestritten werden und kostet ihr eine Masse von Kräften und Anstrengungen. Der Verteidiger erhält dies alles, wenn auch nicht eigentlich freiwillig wie in den Fällen enthusiastischer Hingebung, doch durch die langgeübten Wege des bürgerlichen Gehorsams, der dem Einwohner zur zweiten Natur geworden ist und außerdem durch ganz andere, vom Heere nicht ausgehende, viel entfernter liegende Furcht- und Zwangsmittel in Gang erhalten wird. Aber auch die freiwillige, aus wahrer Anhänglichkeit hervorgehende Mitwirkung ist in allen Fällen sehr bedeutend, insofern sie nämlich in allen den Punkten, die keine Opfer kosten, niemals ausbleibt. Wir wollen nur einen dieser Punkte herausheben, welcher von großer Bedeutung für die Kriegführung ist; es sind die Nachrichten. Nicht sowohl die einzelnen großen, wichtigen Kundschafternachrichten, als die unzählige Masse von kleinen Berührungen, in welche der tägliche Dienst eines Heeres mit der Ungewißheit tritt, und wo das Verständnis mit den Einwohnern den Verteidigern eine allgemeine Überlegenheit gibt. Die kleinste Patrouille, jede Feld- und Schildwache, jeder versendete Offizier sind mit ihren Bedürfnissen um Nachrichten über Feind, Freund und Gegner an den Landesbewohner verwiesen.

Steigt man nun von diesen ganz allgemeinen, nie ausbleibenden Beziehungen zu den besonderen Fällen auf, wo das Land anfängt, an dem Kampfe selbst teilzunehmen, und bis zu dem höchsten Grad derselben, wo es, wie in Spanien, durch einen Volkskrieg diesen Kampf der Hauptsache nach selbst führt, so begreift man, daß hier nicht bloß eine Steigerung des Volksbeistandes, sondern eine wahrhaft neue Potenz entsteht, und daß wir also

4. die Volksbewaffnung oder den Landsturm als ein eigentümliches Mittel der Verteidigung anführen können.

5. Endlich dürfen wir noch die Bundesgenossen als die letzte Stütze des Verteidigers nennen. Die gewöhnlichen, welche der Angreifende auch hat, können wir hiermit natürlich nicht meinen, sondern diejenigen, welche bei der Erhaltung eines Landes wesentlich beteiligt sind. Wenn wir nämlich die Staatenrepublik des heutigen Europa im Auge haben, so finden wir, um nicht von einem systematisch geregelten Gleichgewicht der Macht und der Interessen zu reden, wie es nicht vorhanden und darum oft und mit Recht bestritten worden ist, doch unstreitig, daß sich die großen und kleinen Staats- und Volksinteressen auf die mannigfaltigste und veränderlichste Weise durchkreuzen. Jeder solche Kreuzpunkt bildet einen befestigenden Knoten, denn in ihm ist die Richtung des einen der Richtung des anderen das Gegengewicht; durch alle diese Knoten also wird offenbar ein mehr oder weniger großer Zusammenhang des Ganzen gebildet, und dieser Zusammenhang muß bei jeder Veränderung teilweise überwunden werden. Auf diese Weise dienen die Gesamtverhältnisse aller Staaten zueinander mehr das Ganze in seiner Gestalt zu erhalten, als Veränderungen darin hervorzubringen, d. h. es ist im allgemeinen jene Tendenz vorhanden.

So, glauben wir, muß man den Gedanken eines politischen Gleichgewichts auffassen, und in diesem Sinn wird dasselbe überall von selbst entstehen, wo mehrere kultivierte Staaten in vielseitige Berührung treten.

Wie wirksam diese Tendenz der Gesamtinteressen zur Erhaltung des bestehenden Zustandes sei, ist eine andere Frage; es lassen sich allerdings Veränderungen in dem Verhältnis einzelner Staaten untereinander denken, die diese Wirksamkeit des Ganzen erleichtern, und andere, die sie erschweren. In dem ersten Fall sind es Bestrebungen, das politische Gleichgewicht auszubilden, und da sie dieselbe Tendenz haben wie die Gesamtinteressen, so werden sie auch die Majorität dieser Interessen für sich haben. In dem anderen Fall aber sind es Ausweichungen, überwiegende Tätigkeit einzelner Teile, wahre Krankheiten; daß diese in einem so schwach verbundenen Ganzen, wie die Menge großer und kleiner Staaten ist, vorkommen, ist nicht zu verwundern, kommen sie doch in dem so wundervoll geordneten organischen Ganzen aller lebendigen Natur vor.

Wenn man uns also auf die Fälle in der Geschichte hinweist, wo einzelne Staaten bedeutende Veränderungen bloß zu ihrem Vorteil haben bewirken können, ohne daß das Ganze auch nur einen Versuch gemacht hätte, dies zu verhindern, oder gar auf die Fälle, wo ein einzelner Staat imstande gewesen ist, sich so über die anderen zu erheben, daß er fast der unumschränkte Gebieter des Ganzen wurde, — so antworten wir: damit sei keineswegs erwiesen, daß die Tendenz der Gesamtinteressen zur Erhaltung des Zustandes nicht vorhanden, sondern nur, daß ihre Wirksamkeit in dem Augenblick nicht groß genug gewesen sei; das Streben zu einem Ziel ist etwas anderes als die Bewegung dahin, aber darum keineswegs etwas Nichtiges, wie wir das am besten aus der Dynamik des Himmels ersehen.

Wir sagen: die Tendenz des Gleichgewichts ist die Erhaltung des vorhandenen Zustandes, wobei wir allerdings voraussetzen, daß in diesem Zustande Ruhe, d. i. Gleichgewicht, vorhanden war; denn wo diese schon gestört ist, eine Spannung schon eingetreten ist, da kann die Tendenz des Gleichgewichts allerdings auch auf eine Veränderung gerichtet sein. Diese Veränderung kann aber, wenn wir auf die Natur der Sache sehen, immer nur einzelne wenige, also niemals die Majorität der Staaten treffen, und so ist es denn gewiß, daß diese ihre Erhaltung immer durch die Gesamtinteressen aller vertreten und versichert sehen, also auch gewiß, daß jeder einzelne Staat, der nicht in dem Fall ist, sich gegen das Ganze schon in einer Spannung zu befinden, bei seiner Verteidigung mehr Interessen für als gegen sich haben wird.

Wer über diese Betrachtungen wie über utopische Träume lacht, der tut es auf Kosten der philosophischen Wahrheit. Wenn diese uns die Verhältnisse erkennen läßt, in welchen die wesentlichen Elemente der Dinge zueinander stehen, so wäre es freilich unüberlegt, mit Übergehung aller zufälligen Einmischungen daraus Gesetze herleiten zu wollen, nach welchen jeder einzelne Fall geregelt werden könnte. Wer sich aber nach dem Ausdruck eines großen Schriftstellers nicht über die Anekdote erhebt, die ganze Geschichte daraus zusammenbaut, überall mit dem Individuellsten, mit der Spitze des Ereignisses anfängt und nur so tief hinuntersteigt, als er eben Veranlassung findet, also niemals auf die tief im Grunde herrschenden allgemeinen Verhältnisse kommt, dessen Meinung wird auch niemals für mehr als einen Fall Wert haben, und dem wird freilich, was die Philosophie für die Allgemeinheit der Fälle ausmacht, wie ein Traum erscheinen.

Wenn jenes allgemeine Bestreben zur Ruhe und Erhaltung des Bestehenden nicht vorhanden wäre, so würde niemals eine Anzahl gebildeter Staaten eine geraume Zeit nebeneinander bestehen können, sie müßten notwendig in einem zusammenfließen. Wenn also das jetzige Europa über 1000 Jahre besteht, so können wir diese Wirkung nur jener Tendenz der Gesamtinteressen zuschreiben, und wenn der Schutz des Ganzen nicht immer zur Erhaltung jedes einzelnen hingereicht hat, so sind das Unregelmäßigkeiten in dem Leben dieses Ganzen, die aber dasselbe doch nicht zerstört haben, sondern von ihm überwältigt worden sind.

Es würde sehr überflüssig sein, die Masse der Ereignisse zu durchlaufen, wo Veränderungen, welche das Gleichgewicht zu sehr störten, durch mehr oder weniger offenbare Entgegenwirkung der anderen Staaten verhindert oder rückgängig gemacht worden sind; der flüchtigste Blick auf die Geschichte zeigt sie. Nur von einem Fall wollen wir sprechen, weil er stets im Munde derer ist, die den Gedanken eines politischen Gleichgewichts verspotten, und weil er ganz besonders hierher zu gehören scheint als ein Fall, in welchem ein harmloser Verteidiger unterging, ohne die Teilnahme eines fremden Beistandes zu gewinnen. Wir sprechen von Polen. Daß ein Staat von 8 Millionen Einwohnern verschwinden, von drei anderen geteilt werden konnte, ohne daß von einem der übrigen Staaten ein Schwert gezogen wurde, erscheint auf den ersten Blick als ein Fall, der entweder die allgemeine Unwirksamkeit des politischen Gleichgewichts hinreichend bewiese oder wenigstens zeigte, wie weit sie in einzelnen Fällen gehen könne. Daß ein Staat von solchem Umfang verschwinden und anderen zur Beute werden könnte, die schon zu den mächtigsten gehörten (Rußland und Österreich), schien ein Fall der äußersten Art zu sein, und wenn ein solcher nichts von den Gesamtinteressen der ganzen Staatenrepublik aufregen konnte, wird man sagen, so ist die Wirksamkeit, welche diese Gesamtinteressen für die Erhaltung einzelner haben sollen, als eine eingebildete zu betrachten. Aber wir bleiben dabei stehen, daß ein einzelner Fall, wie auffallend er auch sei, nichts gegen die Allgemeinheit beweist, und behaupten demnächst, daß der Fall von Polens Untergang auch nicht so unbegreiflich ist, wie er erscheint. War denn Polen wirklich als ein europäischer Staat, als ein homogenes Glied in der europäischen Staatenrepublik zu betrachten? Nein! Es war ein Tatarenstaat, der, anstatt wie die Tataren der Krim am Schwarzen Meer, an der Grenze der europäischen Staatenwelt gelegen zu sein, an der Weichsel zwischen ihnen lag. Wir wollen damit weder verächtlich von dem Volk der Polen reden, noch die Teilung des Landes rechtfertigen, sondern nur die Sachen sehen, wie sie sind. Seit 100 Jahren hatte dieser Staat im Grunde keine politische Rolle mehr gespielt, sondern war nur der Zankapfel für andere gewesen. In seinem Zustand und seiner Verfassung konnte er sich auf die Dauer zwischen den anderen unmöglich erhalten; eine wesentliche Veränderung in diesem Tatarenzustand aber hätte nur das Werk eines halben oder ganzen Jahrhunderts sein können, wenn die Führer dieses Volkes dazu willig gewesen wären. Diese aber waren selbst viel zu sehr Tataren, um eine solche Veränderung zu wünschen. Ihr liederliches Staatsleben und ihr unermeßlicher Leichtsinn gingen Hand in Hand und taumelten so in den Abgrund. Lange vor der Teilung Polens waren die Russen dort so gut wie zu Haus, der Begriff eines selbständigen, nach außen abgeschlossenen Staates gar nicht mehr vorhanden, und nichts gewisser, als daß Polen, wenn es nicht geteilt wurde, zur russischen Provinz werden mußte. Wäre das alles nicht, und Polen ein Staat gewesen, der einer Verteidigung fähig war, so würden die drei Mächte nicht so leicht an seine Teilung geschritten sein, und diejenigen Mächte, die bei seiner Erhaltung am meisten beteiligt waren, wie Frankreich, Schweden und die Türkei, hätten dann ganz anders zu seiner Erhaltung mitwirken können. Wenn aber die Erhaltung eines Staates bloß von außen besorgt werden soll, so ist das freilich zu viel verlangt.

Die Teilung Polens war über 100 Jahre vorher mehrmals zur Sprache gekommen, und das Land war seitdem nicht wie ein geschlossenes Haus, sondern wie eine öffentliche Straße zu betrachten gewesen, auf der sich beständig fremde Kriegsmacht herumtummelte. Sollten die anderen Staaten dies alles verhindern, sollten sie beständig das Schwert gezückt haben, um die politische Heiligkeit der polnischen Grenze zu bewachen? Das heißt eine moralische Unmöglichkeit fordern. Polen war in dieser Zeit politisch nicht viel mehr als eine unbewohnte Steppe; und sowenig man imstande gewesen wäre, diese zwischen anderen Staaten gelegene, verteidigungslose Steppe vor ihren Eingriffen immer zu schützen, ebensowenig konnte man die Unverletzlichkeit dieses sogenannten Staates sichern. Aus allen diesen Gründen sollte man sich ebensowenig über den geräuschlosen Untergang Polens verwundern als über den stillen Untergang der krimschen Tatarei; die Türken waren dabei in jedem Fall mehr interessiert als irgendein europäischer Staat bei der Erhaltung Polens, aber sie sahen ein, daß es vergebliche Anstrengung sein würde, eine widerstandlose Steppe zu schützen. —

Wir kehren zu unserem Gegenstand zurück und glauben dargetan zu haben, daß ein Verteidiger im allgemeinen mehr auf äußeren Beistand rechnen darf als der Angreifende; er wird um so sicherer darauf rechnen dürfen, je bedeutender sein Dasein für alle übrigen, d. h. je gesunder und kräftiger sein politischer und kriegerischer Zustand ist.

Die Gegenstände, welche wir hier als eigentliche Mittel der Verteidigung genannt haben, werden nicht jeder einzelnen Verteidigung zu Gebot stehen, das versteht sich von selbst, bald werden die einen fehlen, bald die anderen, aber dem Kollektivbegriff der Verteidigung gehören sie insgesamt an.

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(Achtes Buch) Drittes Kapitel

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Das Ende des siebzehnten Jahrhunderts, die Zeit Ludwigs XIV., läßt sich als den Punkt in der Geschichte betrachten, wo die stehende Kriegsmacht, wie wir sie im achtzehnten Jahrhundert finden, ihre Höhe erreicht hatte. Diese Kriegsmacht war auf Werbung und Geld begründet. Die Staaten hatten sich zur vollkommenen Einheit ausgebildet und die Regierungen, indem sie die Leistungen ihrer Untertanen in Geldabgaben verwandelten, ihre ganze Macht in ihren Geldkasten konzentriert. Durch die schnell vorgeschrittene Kultur und eine sich immer mehr ausbildende Verwaltung war diese Macht im Vergleich mit der früheren sehr groß geworden. Frankreich rückte mit ein paarmal hunderttausend Mann stehender Truppen ins Feld, und nach Verhältnis die übrigen Mächte.

Auch die übrigen Verhältnisse der Staaten hatten sich anders gestaltet. Europa war unter ein Dutzend Königreiche und ein paar Republiken verteilt; es war denkbar, daß zwei davon einen großen Kampf miteinander kämpften, ohne daß zehnmal soviel andere davon berührt wurden, wie es ehedem geschehen mußte. Die möglichen Kombinationen der politischen Verhältnisse waren immer noch sehr mannigfaltig, aber sie waren doch zu übersehen und von Zeit zu Zeit nach Wahrscheinlichkeiten festzustellen.

Die inneren Verhältnisse hatten sich fast überall zu einer schlichten Monarchie vereinfacht, die ständischen Rechte und Einwirkungen hatten nach und nach aufgehört, und das Kabinett war eine vollkommene Einheit, welche den Staat nach außen hin vertrat. Es war also dahin gekommen, daß ein tüchtiges Instrument und ein unabhängiger Wille dem Kriege eine seinem Begriff entsprechende Gestalt geben konnte.

Auch traten in dieser Epoche drei neue Alexander auf: Gustav Adolf, Karl XII. und Friedrich der Große, die es versuchten, aus kleinen Staaten vermittelst eines mäßigen und sehr vervollkommneten Heeres große Monarchien zu stiften und alles vor sich niederwerfen. Hätten sie es nur mit asiatischen Reichen zu tun gehabt, so würden sie in ihrer Rolle dem Alexander ähnlicher geworden sein. In jedem Fall kann man sie in Rücksicht auf das, was man im Kriege wagen dürfte, als die Vorläufer Bonapartes ansehen.

Allein was der Krieg von der einen Seite an Kraft und Konsequenz gewann, ging ihm auf der anderen Seite wieder verloren.

Die Heere wurden aus dem Schatz unterhalten, den der Fürst halb und halb wie seine Privatkasse ansah oder wenigstens wie einen der Regierung und nicht dem Volke angehörigen Gegenstand. Die Verhältnisse mit den anderen Staaten berührten, ein paar Handelsgegenstände ausgenommen, meistens nur das Interesse des Schatzes oder der Regierung und nicht des Volkes; wenigstens waren überall die Begriffe so gestellt. Das Kabinett sah sich also an wie den Besitzer und Verwalter großer Güter, die es stets zu vermehren trachtete, ohne daß die Gutsuntertanen bei dieser Vermehrung ein sonderliches Interesse haben konnten. Das Volk also, welches bei den Tatarenzügen alles im Kriege ist, bei den alten Republiken und im Mittelalter, wenn man den Begriff desselben gehörig auf die eigentlichen Staatsbürger beschränkt, sehr vieles gewesen war, ward bei diesem Zustand des achtzehnten Jahrhunderts unmittelbar nichts, sondern hatte bloß durch seine allgemeinen Tugenden oder Fehler noch einen mittelbaren Einfluß auf den Krieg.

Auf diese Weise wurde der Krieg in eben dem Maße, wie sich die Regierung vom Volke trennte und sich als den Staat ansah, ein bloßes Geschäft der Regierungen, welches sie vermittelst der Taler in ihrem Koffer und der müßigen Herumtreiber in ihren und den benachbarten Provinzen zustande brachten. Die Folge war, daß die Mittel, welche sie aufbieten konnten, ein ziemlich bestimmtes Maß hatten, welches die eine von der anderen gegenseitig übersehen konnte, und zwar ein Maß sowohl ihrem Umfang als ihrer Dauer nach; dies raubte dem Kriege die gefährlichste seiner Seiten: nämlich das Bestreben zu dem Äußersten und die dunkle Reihe von Möglichkeiten, die sich daran knüpft.

Man kannte ungefähr die Geldmittel, den Schatz, den Kredit seines Gegners; man kannte die Größe seines Heeres. Bedeutende Vermehrungen im Augenblick des Krieges waren nicht tunlich. Indem man so die Grenzen der feindlichen Kräfte übersah, wußte man sich vor einem gänzlichen Untergange ziemlich sicher, und indem man die Beschränkung der eigenen fühlte, sah man sich auf ein mäßiges Ziel zurückgewiesen. Vor dem Äußersten geschützt, brauchte man nicht mehr das Äußerste zu wagen. Die Notwendigkeit trieb nicht mehr dazu, es konnte also nur der Mut und Ehrgeiz dazu treiben. Aber diese fanden in den Staatsverhältnissen ein mächtiges Gegengewicht. Selbst die königlichen Feldherren mußten behutsam mit dem Kriegsinstrumente umgehen. Wenn das Heer zertrümmert wurde, so war kein neues zu beschaffen, und außer dem Heere gab es nichts. Dies heischte große Vorsicht bei allen Unternehmungen. Nur wenn sich ein entschiedener Vorteil zu ergeben schien, machte man Gebrauch von der kostbaren Sache: diesen herbeizuführen, war eine Kunst des Feldherrn; solange aber, wie er nicht herbeigeführt war, schwebte man gewissermaßen im absoluten Nichts, es gab keinen Grund zum Handeln, und alle Kräfte, nämlich alle Motive, schienen zu ruhen. Das ursprüngliche Motiv des Aggressors erstarb in Vorsicht und Bedenklichkeit.

So wurde der Krieg seinem Wesen nach ein wirkliches Spiel, wobei Zeit und Zufall die Karten mischten; seiner Bedeutung nach war er aber nur eine etwas verstärkte Diplomatie, eine kräftigere Art zu unterhandeln, in der Schlachten und Belagerungen die Hauptnoten waren. Sich in einen mäßigen Vorteil zu setzen, um beim Friedensschluß davon Gebrauch zu machen, war das Ziel auch des Ehrgeizigsten.

Diese beschränkte, zusammengeschrumpfte Gestalt des Krieges rührte, wie wir gesagt haben, von der schmalen Unterlage her, worauf er sich stützte. Daß aber ausgezeichnete Feldherren und Könige wie Gustav Adolf, Karl XII. und Friedrich der Große mit ebenso ausgezeichneten Heeren nicht stärker aus der Masse der Totalerscheinungen hervortreten konnten, daß auch sie sich gefallen lassen mußten, in dem allgemeinen Niveau des mittelmäßigen Erfolges zu bleiben, lag in dem politischen Gleichgewicht Europas. Was früher bei der Menge kleiner Staaten das unmittelbare, ganz natürliche Interesse, die Nähe, die Berührung, die verwandtschaftliche Verbindung, die persönliche Bekanntschaft getan hatte, um den einzelnen zu verhindern, schnell groß zu werden, das tat jetzt, wo die Staaten größer und ihre Zentren weiter voneinander entfernt waren, die größere Ausbildung der Geschäfte. Die politischen Interessen, Anziehungen und Abstoßungen hatten sich zu einem sehr verfeinerten System ausgebildet, so daß kein Kanonenschuß in Europa geschehen konnte, ohne daß alle Kabinette ihren Teil daran hatten. Ein neuer Alexander mußte sich also neben seinem guten Schwerte auch eine gute Feder halten, und doch brachte er es mit seinen Eroberungen selten weit.

Aber auch Ludwig XIV., obgleich er die Absicht hatte, das europäische Gleichgewicht umzustoßen, und sich am Ende des siebzehnten Jahrhunderts schon auf dem Punkte befand, sich wenig um die allgemeine Feindschaft zu bekümmern, führte den Krieg auf die hergebrachte Weise, denn seine Kriegsmacht war zwar die des größten und reichsten Monarchen, aber ihrer Natur nach wie die der anderen.

Plünderungen und Verheerungen des feindlichen Gebietes, welche bei den Tataren, bei den alten Völkern und selbst im Mittelalter eine so große Rolle spielen, waren nicht mehr im Geist der Zeit. Man sah es mit Recht wie eine unnütze Roheit an, die leicht vergolten werden konnte und den feindlichen Untertanen mehr traf als die feindliche Regierung, daher wirkungslos blieb und nur dazu diente, die Völker in ihrem Kulturzustande ewig zurückzuhalten. Der Krieg wurde also nicht bloß seinen Mitteln, sondern auch seinem Ziele nach immer mehr auf das Heer selbst beschränkt. Das Heer mit seinen Festungen und einigen eingerichteten Stellungen machte einen Staat im Staate aus, innerhalb dessen sich das kriegerische Element langsam verzehrte.

Ganz Europa freute sich dieser Richtung und hielt sie für eine notwendige Folge des fortschreitenden Geistes. Obgleich hierin ein Irrtum lag, weil das Fortschreiten des Geistes niemals zu einem Widerspruch führen, niemals machen kann, daß aus zweimal zwei fünf wird, wie wir schon gesagt haben und noch in der Folge sagen müssen, so hatte allerdings diese Veränderung eine wohltätige Wirkung für die Völker; nur ist nicht zu verkennen, daß sie den Krieg auch noch mehr zu einem bloßen Geschäft der Regierung machte und dem Interesse des Volkes noch mehr entfremdete. Der Kriegsplan eines Staates bestand in dieser Zeit, wenn er der Angreifende war, meistens darin, sich einer oder der anderen feindlichen Provinz zu bemächtigen; wenn er der Verteidigende war, dies zu verhindern; der einzelne Feldzugsplan: die eine oder die andere feindliche Festung zu erobern oder die Eroberung einer eigenen zu verhindern; nur wenn dazu eine Schlacht unvermeidlich war, wurde sie gesucht und geliefert. Wer ohne diese Unvermeidlichkeit eine Schlacht aus bloßem inneren Siegesdrange suchte, galt für einen kecken Feldherrn. Gewöhnlich verstrich der Feldzug über einer Belagerung oder, wenn es hoch kam, über zwei, und die Winterquartiere, die wie eine neutrale Notwendigkeit betrachtet wurden, in welchen die schlechte Verfassung des einen niemals ein Vorteil des anderen werden konnte, in welchen die gegenseitigen Beziehungen beider fast gänzlich aufhörten, ich sage die Winterquartiere bildeten eine bestimmte Abgrenzung der Tätigkeit, welche in einem Feldzuge statthaben sollte.

Waren die Kräfte zu sehr im Gleichgewicht, oder war der Unternehmende von beiden entschieden der Schwächere, so kam es auch nicht zur Schlacht und Belagerung, und dann drehte sich die ganze Tätigkeit eines Feldzuges um Erhaltung gewisser Stellungen und Magazine und die regelmäßige Auszehrung gewisser Gegenden.

Solange der Krieg allgemein so geführt wurde und die natürlichen Beschränkungen seiner Gewalt immer so nahe und sichtbar waren, fand niemand darin etwas Widersprechendes, sondern alles in der schönsten Ordnung, und die Kritik, welche im achtzehnten Jahrhundert anfing, das Feld der Kriegskunst zu besuchen, richtete sich auf das einzelne, ohne sich viel um Anfang und Ende zu bekümmern. So gab es denn Größe und Vollkommenheit aller Art, und selbst Feldmarschall Daun, der hauptsächlich dazu beitrug, daß Friedrich der Große seinen Zweck vollkommen erreichte und Maria Theresia den ihrigen vollkommen verfehlte, mußte als ein großer Feldherr angesehen werden können. Nur hin und wieder brach ein durchgreifendes Urteil hervor, nämlich der gesunde Menschenverstand, welcher meinte, daß man mit seiner Übermacht etwas Positives erreichen müsse oder den Krieg mit aller Kunst schlecht führe.

So waren die Sachen, als die französische Revolution ausbrach. Österreich und Preußen versuchten es mit ihrer diplomatischen Kriegskunst; sie zeigte sich bald unzureichend. Während man nach der gewöhnlichen Art, die Sachen anzusehen, auf eine sehr geschwächte Kriegsmacht sich Hoffnung machte, zeigte sich im Jahr 1793 eine solche, von der man keine Vorstellung gehabt hatte. Der Krieg war urplötzlich wieder eine Sache des Volkes geworden, und zwar eines Volkes von 30 Millionen, die sich alle als Staatsbürger betrachteten. Ohne uns hier auf die näheren Umstände einzulassen, von welchen diese große Erscheinung begleitet war, wollen wir nur die Resultate festhalten, auf die es hier ankommt. Mit dieser Teilnahme des Volkes an dem Kriege trat statt eines Kabinetts und eines Heeres das ganze Volk mit seinem natürlichen Gewicht in die Waagschale. Nun hatten die Mittel, welche angewandt, die Anstrengungen, welche aufgeboten werden konnten, keine bestimmte Grenze mehr; die Energie, mit welcher der Krieg selbst geführt werden konnte, hatte kein Gegengewicht mehr, und folglich war die Gefahr für den Gegner die äußerste.

Wenn der ganze Revolutionskrieg darüber hingegangen ist, ehe sich das in seiner Stärke fühlbar machte und zur völligen Klarheit wurde, wenn nicht schon die Revolutionsgenerale unaufhaltsam bis ans letzte Ziel vorgeschritten sind und die europäischen Monarchien zertrümmert haben, wenn die deutschen Heere noch hin und wieder Gelegenheit gehabt haben, mit Glück zu widerstehen und den Siegesstrom aufzuhalten, so lag dies wirklich nur in der technischen Unvollkommenheit, womit die Franzosen zu kämpfen hatten, und die sich anfangs bei den gemeinen Soldaten, dann bei den Generalen, dann zur Zeit des Direktoriums beim Gouvernement selbst zeigte.

Wie in Bonapartes Hand sich das alles vervollkommnet hatte, schritt diese auf die ganze Volkskraft gestützte Kriegsmacht zertrümmernd durch Europa mit einer solchen Sicherheit und Zuverlässigkeit, daß, wo ihr nur die alte Heeresmacht entgegengestellt wurde, auch nicht einmal ein zweifelhafter Augenblick entstand. Die Reaktion ist noch zu rechter Zeit erwacht. In Spanien ist der Krieg von selbst zur Volkssache geworden. In Österreich hat die Regierung im Jahre 1809 zuerst ungewöhnliche Anstrengungen mit Reserven und Landwehren gemacht, die sich dem Ziele näherten und alles überstiegen, was dieser Staat früher als tunlich geglaubt hatte. In Rußland hat man 1812 das Beispiel von Spanien und Österreich zum Muster genommen; die ungeheuren Dimensionen dieses Reiches erlaubten den verspäteten Anstalten, noch in Wirksamkeit zu treten und vergrößerten diese Wirksamkeit von der anderen Seite. Der Erfolg war glänzend. In Deutschland raffte sich Preußen zuerst auf, machte den Krieg zur Volkssache und trat mit Kräften auf, die, bei halb soviel Einwohnern, gar keinem Gelde und Kredit doppelt so groß waren als die von 1806. Das übrige Deutschland folgte früher oder später dem Beispiele Preußens, und Österreich, obgleich weniger sich anstrengend als im Jahr 1809, trat doch auch mit ungewöhnlicher Kraft auf. So geschah es, daß Deutschland und Rußland in den Jahren 1813 und 1814, alles mitgerechnet, was in Tätigkeit war, und was in diesen beiden Feldzügen verbraucht wurde, mit etwa einer Million Menschen gegen Frankreich auftraten.

Unter diesen Umständen war auch die Energie der Kriegführung eine andere, und wenn sie die französische nur teilweise erreichte und auf anderen Punkten die Zaghaftigkeit vorwaltete, so war doch der Gang der Feldzüge im allgemeinen nicht im alten, sondern im neuen Stil. In acht Monaten wurde das Kriegstheater von der Oder an die Seine versetzt, das stolze Paris mußte zum erstenmal sein Haupt beugen und der furchtbare Bonaparte lag gefesselt am Boden.

Seit Bonaparte also hat der Krieg, indem er zuerst auf der einen Seite, dann auch auf der anderen wieder Sache des ganzen Volkes wurde, eine ganz andere Natur angenommen, oder vielmehr, er hat sich seiner wahren Natur, seiner absoluten Vollkommenheit sehr genähert. Die Mittel, welche aufgeboten worden sind, hatten keine sichtbare Grenze, sondern diese verlor sich in der Energie und dem Enthusiasmus der Regierungen und ihrer Untertanen. Die Energie der Kriegführung war durch den Umfang der Mittel und das weite Feld möglichen Erfolges sowie durch die starke Anregung der Gemüter ungemein erhöht worden, das Ziel des kriegerischen Aktes war Niederwerfung des Gegners; nur dann erst, wenn er ohnmächtig zu Boden liege, glaubte man innehalten und sich über die gegenseitigen Zwecke verständigen zu können.

So war also das kriegerische Element, von allen konventionellen Schranken befreit, mit seiner ganzen natürlichen Kraft losgebrochen. Die Ursache war die Teilnahme, welche den Völkern an dieser großen Staatsangelegenheit wurde; und diese Teilnahme entsprang teils aus den Verhältnissen, welche die französische Revolution in dem Innern der Länder herbeigeführt hatte, teils aus der Gefahr, womit alle Völker von dem französischen bedroht waren.

Ob es nun immer so bleiben wird, ob alle künftigen Kriege in Europa immer mit dem ganzen Gewicht der Staaten und folglich nur um große, den Völkern naheliegende Interessen geführt sein werden, oder ob nach und nach wieder eine Absonderung der Regierung von dem Volke eintreten wird, dürfte schwer zu entscheiden sein, und am wenigsten wollen wir uns eine solche Entscheidung anmaßen. Aber man wird uns recht geben, wenn wir sagen, daß Schranken, die gewissermaßen nur in der Bewußtlosigkeit dessen, was möglich sei, lagen, wenn sie einmal eingerissen sind, sich nicht leicht wieder aufbauen lassen, und daß, wenigstens jedesmal, sooft ein großes Interesse zur Sprache kommt, die gegenseitige Feindschaft sich auf die Art erledigen wird, wie es in unseren Tagen geschehen ist.

Wir schließen hier unseren geschichtlichen Überblick, den wir nicht angestellt haben, um für jede Zeit in der Geschwindigkeit ein paar Grundsätze der Kriegführung anzugeben, sondern nur um zu zeigen, wie jede Zeit ihre eigenen Kriege, ihre eigenen beschränkenden Bedingungen, ihre eigene Befangenheit hatte. Jede würde also auch ihre eigene Kriegstheorie behalten, selbst wenn man überall, früh und spät, aufgelegt gewesen wäre, sie nach philosophischen Grundsätzen zu bearbeiten. Die Begebenheiten jeder Zeit müssen also mit Rücksicht auf ihre Eigentümlichkeiten beurteilt werden, und nur der, welcher nicht sowohl durch ein ängstliches Studium aller kleinen Verhältnisse als durch einen treffenden Blick auf die großen sich in jede Zeit versetzt, ist imstande, die Feldherren derselben zu verstehen und zu würdigen.

Aber diese nach den eigentümlichen Verhältnissen der Staaten und der Kriegsmacht bedingte Kriegführung muß doch etwas noch Allgemeineres oder vielmehr etwas ganz Allgemeines in sich tragen, mit welchem vor allem die Theorie es zu tun haben wird.

Die letzte Zeit, wo der Krieg seine absolute Gewalt erreicht hatte, hat des allgemein Gültigen und Notwendigen am meisten. Aber es ist ebenso unwahrscheinlich, daß die Kriege fortan alle diesen großartigen Charakter haben werden, als daß sich je die weiten Schranken, welche ihnen geöffnet worden sind, ganz wieder schließen können. Man würde also mit einer Theorie, die nur in diesem absoluten Kriege verweilte, alle Fälle, wo fremdartige Einflüsse seine Natur verändern, entweder ausschließen oder als Fehler verdammen. Dies kann nicht der Zweck der Theorie sein, die die Lehre eines Krieges nicht unter idealen, sondern unter wirklichen Verhältnissen sein soll. Die Theorie wird also, indem sie ihren prüfenden, scheidenden und ordnenden Blick auf die Gegenstände wirft, immer die Verschiedenartigkeit der Verhältnisse im Auge haben, von welchen der Krieg ausgehen kann, und sie wird also die großen Lineamente desselben so angeben, daß das Bedürfnis der Zeit und des Augenblickes darin seinen Platz finde.

Hiernach müssen wir sagen, daß das Ziel, welches sich der Kriegsunternehmer setzt, die Mittel, welche er aufbietet, sich nach den ganz individuellen Zügen seiner Lage richten, daß sie aber eben den Charakter der Zeit und der allgemeinen Verhältnisse an sich tragen werden, endlich, daß sie den allgemeinen Folgerungen, welche aus der Natur des Krieges gezogen werden müssen, unterworfen bleiben.

Anmerkungen

[1] Alle diese Zahlen sind aus dem Chambray genommen.

Quelle: Carl von Clausewitz, Vom Krieg (1832). 19. Auflage. Troisdorf: Dümmler im Bildungsverlag EINS GmbH, 1980, S. 507–17, 558–61, 562–65, 636–63, 966–74. Wiedergabe auf dieser Website mit freundlicher Genehmigung des Bildungsverlag EINS GmbH.