Kurzbeschreibung

In seinem auf Anfrage eines Leipziger Arbeiterkomitees verfassten „Offenen Antwortschreiben“ (1863) erläutert der Sozialistenführer Ferdinand Lassalle (1825–1864) sein ehernes Lohngesetz, ein Schlüsselkonzept der sozialistischen Wirtschaftskritik: auf dem freien Arbeitsmarkt hielten Angebot und Nachfrage die Arbeiterlöhne zwangsläufig am Existenzminimum. Von der Wertschöpfung durch Arbeit profitierten allein die Unternehmer, denn die durch steigende Produktivität und sinkende Verbraucherpreise gewonnenen zeitweiligen Lohnvorsprünge der Arbeiter würden durch Lohnsenkungen wieder aufgehoben.

Sozialistische Sicht der Folgen der freien Marktwirtschaft: Auszug aus Ferdinand Lassalles „Offenem Antwortschreiben“ (1863)

  • Ferdinand Lassalle

Quelle

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2. Das eherne ökonomische Gesetz, welches unter den heutigen Verhältnissen, unter der Herrschaft von Angebot und Nachfrage nach Arbeit, den Arbeitslohn bestimmt, ist dieses: daß der durchschnittliche Arbeitslohn immer auf den notwendigen Lebensunterhalt reduziert bleibt, der in einem Volke gewohnheitsgemäß zur Fristung der Existenz und zur Fortpflanzung erforderlich ist. Dies ist der Punkt, um welchen der wirkliche Tageslohn in Pendelschwingungen jederzeit herum gravitiert, ohne sich jemals lange weder über denselben erheben, noch unter denselben hinunterfallen zu können. Er kann sich nicht dauernd über diesen Durchschnitt erheben — denn sonst entstände durch die leichtere, bessere Lage der Arbeiter eine Vermehrung der Arbeiterehen und der Arbeiterfortpflanzung, eine Vermehrung der Arbeiterbevölkerung und somit des Angebots von Händen, welche den Arbeitslohn wieder auf und unter seinen früheren Stand herabdrücken würde.

Der Arbeitslohn kann auch nicht dauernd tief unter diesen notwendigen Lebensunterhalt fallen, denn dann entstehen — Auswanderungen, Ehelosigkeit, Enthaltung von der Kindererzeugung und endlich eine durch Elend erzeugte Verminderung der Arbeiterzahl, welche somit das Angebot von Arbeiterhänden noch verringert und den Arbeitslohn daher wieder auf den früheren Stand zurückbringt.

Der wirkliche durchschnittliche Arbeitslohn besteht somit in der Bewegung, beständig um jenen seinen Schwerpunkt, in den er fortdauernd zurücksinken muß, herumzukreisen, bald etwas über demselben (Periode der Prosperität in allen oder einzelnen Arbeitszweigen) bald etwas unter ihm zu stehen (Periode des mehr oder weniger allgemeinen Notstandes und der Krisen).

Die Beschränkung des durchschnittlichen Arbeitslohnes auf die in einem Volke gewohnheitsmäßig zur Fristung der Existenz und zur Fortpflanzung erforderliche Lebensnotdurft — das ist also, ich wiederhole es Ihnen, das eherne und grausame Gesetz, welches den Arbeitslohn unter den heutigen Verhältnissen beherrscht.

Dieses Gesetz kann von niemand bestritten werden. Ich könnte Ihnen für dasselbe ebenso viele Gewährsmänner anführen, als es große und berühmte Namen in der nationalökonomischen Wissenschaft gibt, und zwar aus der liberalen Schule selbst, denn gerade die liberale ökonomische Schule ist es, welche selbst dieses Gesetz entdeckt und nachgewiesen hat.

Dieses eherne und grausame Gesetz, meine Herren, müssen Sie sich vor allem tief, tief in die Seele prägen und bei allem Ihren Denken von ihm ausgehen.

Bei dieser Gelegenheit kann ich Ihnen und dem gesamten Arbeiterstand ein unfehlbares Mittel angeben, wie Sie ein für allemal allen Täuschungen und Irreführungen entgehen können.

Jedem, der Ihnen von der Verbesserung der Lage des Arbeiterstandes spricht, müssen Sie vor allem die Frage vorlegen:

ob er dieses Gesetz anerkennt oder nicht.

Erkennt er es nicht an, so müssen Sie sich von vornherein sagen, daß dieser Mann entweder Sie täuschen will oder aber von der kläglichsten Unerfahrenheit in der nationalökonomischen Wissenschaft ist. Denn es gibt, wie ich Ihnen bereits bemerkt, in der liberalen Schule selbst nicht einen namhaften Nationalökonomen, der dasselbe leugnete. Adam Smith wie Say, Ricardo wie Malthus, Bastiat wie John Stuart Mill sind einstimmig darin, es anzuerkennen. Es herrscht hierin eine Übereinstimmung aller Männer der Wissenschaft.

Und wenn nun derjenige, der Ihnen von der Lage der Arbeiter spricht, auf Ihre Frage dieses Gesetz anerkannt hat, so fragen Sie ihn weiter:

wie er dasselbe beseitigen will.

Und wenn er hierauf nicht zu antworten weiß, so wenden Sie ihm ruhig den Rücken. Er ist ein leerer Schwätzer, der Sie oder sich selbst täuschen und mit hohlen Phrasen verblenden will.

Betrachten wir einen Augenblick näher die Wirkung und Natur dieses Gesetzes. Sie ist mit anderen Worten folgende:

Von dem Arbeitsertrag (der Produktion) wird zunächst soviel abgezogen und unter die Arbeiter verteilt, als zu ihrer Lebensfristung erforderlich ist (Arbeitslohn).

Der ganze Überschuß der Produktion — des Arbeitsertrages — fällt auf den Unternehmeranteil.

Es ist daher eine Folge dieses ehernen und grausamen Gesetzes, daß Sie — und deswegen habe ich Sie in meiner Arbeiterbroschüre[1], auf die Sie sich in Ihrem Schreiben berufen, die Klasse der Enterbten genannt — sogar von der durch die Fortschritte der Zivilisation gesteigerten Produktivität, d. h. von dem gesteigerten Arbeitsertrage, von der gesteigerten Ertragsfähigkeit Ihrer eigenen Arbeit notwendig ausgeschlossen sind! Für Sie immer die Lebensnotdurft, für den Unternehmeranteil immer alles, was über dieselbe hinaus von der Arbeit produziert wird.

Weil aber bei sehr großen Fortschritten der Produktivität (der Ergiebigkeit der Arbeit) zugleich viele Industrieprodukte zur äußersten Billigkeit herabsinken, so kann es kommen, daß Sie durch diese Billigkeit nicht als Produzenten, wohl aber als Konsumenten zunächst einen gewissen indirekten Vorteil von der gesteigerten Ergiebigkeit der Arbeit haben. Dieser Vorteil trifft Sie überhaupt nicht in Ihrer Tätigkeit als Produzenten, er trifft und ändert nicht die auf Ihren Anteil fallende Quote am Arbeitsertrag, er trifft nur Ihre Lage als Konsumenten, wie er auch die Lage der Unternehmer als Konsumenten und auch die aller an der Arbeit gar nicht teil nehmenden Menschen als Konsumenten — und zwar in viel erheblicherem Grade als die Ihrige — verbessert.

Und auch dieser Sie bloß als Menschen, nicht als Arbeiter treffende Vorteil verschwindet wieder durch jenes eherne und grausame Gesetz, welches den Arbeitslohn auf die Länge immer wieder auf das Maß der zum Lebensunterhalt notwendigen Konsumtion herabdrückt.

Nun kann es aber vorkommen, daß, wenn eine solche gesteigerte Produktivität der Arbeit und die durch sie eintretende äußerste Billigkeit mancher Produkte ganz plötzlich eintritt, und wenn sie zweitens zugleich in eine länger dauernde Periode der steigenden Nachfrage nach Arbeiterhänden fällt, — daß dann diese jetzt unverhältnismäßig billiger gewordenen Produkte in den Umfang dessen aufgenommen werden, was gewohnheitsmäßig in einem Volke zum notwendigen Lebensunterhalt gehört.

Dies also, daß Arbeiter und Arbeitslohn immer herumtanzen um den äußersten Rand dessen, was nach dem Bedürfnis jeder Zeit zu dem notwendigsten Lebensunterhalt gehört, bald etwas über, bald etwas unter diesem Rande stehend, dies ändert sich nie!

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Anmerkungen

[1] Das „Arbeiter-Programm“.

Quelle: Ferdinand Lassalle, Gesammelte Reden und Schriften, herausgegeben und eingeleitet von Eduard Bernstein. Bd. 3. Die Agitation für den allgemeinen deutschen Arbeiterverein. Berlin: Paul Cassirer, 1919–20, S. 58–62.

Sozialistische Sicht der Folgen der freien Marktwirtschaft: Auszug aus Ferdinand Lassalles „Offenem Antwortschreiben“ (1863), veröffentlicht in: German History in Documents and Images, <https://germanhistorydocs.org/de/vom-vormaerz-bis-zur-preussischen-vorherrschaft-1815-1866/ghdi:document-470> [05.11.2024].