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Mitglieder des SED-Politbüros an das KPdSU-Politbüro und Generalsekretär L.I. Breshnew
Teure Genossen!
Wie Ihnen bekannt ist, kam es bei uns in den letzten Monaten in wachsendem Maße zu einer außerordentlich schwierigen Lage im Politbüro. Das hat seine Ursache darin, daß seit Mitte 1970 von Genossen Walter Ulbricht immer wieder Einschätzungen gegeben und Fragen aufgeworfen werden, die nicht mit der realen Lage der Deutschen Demokratischen Republik und unseren Aufgaben in Übereinstimmung stehen.
Das erfüllt uns mit großer Sorge, weil dadurch die politische und organisatorische Führungstätigkeit der Partei in einer Situation geschwächt wird, in der sowohl angespannte innere Probleme als auch komplizierte außenpolitische Aufgaben unsere ganze Aufmerksamkeit und Kraft verlangen. Genosse Walter Ulbricht hält sich gar nicht an Beschlüsse und getroffene Vereinbarungen. Er geht nicht von den ZK- und Politbüro-Beschlüssen aus, sondern stellt gefaßte Beschlüsse immer wieder in Frage und zwingt dem Politbüro ständig Diskussionen auf, die es in nicht mehr zu vertretender Weise von der konkreten Arbeit bei der Lösung der wichtigsten Aufgaben abhalten.
Wir haben uns bemüht und bemühen uns, die im August 1970 in Moskau getroffenen Vereinbarungen konsequent durchzuführen und faßten dementsprechend für die Stabilisierung der Lage in der Deutschen Demokratischen Republik bereits am 8. September 1970 einen grundlegenden Beschluß. Genosse Walter Ulbricht trat mehrfach außerhalb des Politbüros vor einem breiten Auditorium gegen diesen Beschluß auf.
Nachdem die 14. Tagung des Zentralkomitees (9. bis 11. Dezember 1970) eine realistische Einschätzung der inneren, insbesondere der wirtschaftlichen Entwicklung und eine entsprechende Zielstellung erarbeitet und gebilligt hatte, hielt Genosse Walter Ulbricht ein Schlußwort, das in seiner Grundtendenz nicht mit dem, was auf dieser Tagung gesagt wurde, und unserer gemeinsamen Linie übereinstimmte. Das Politbüro war gezwungen, die Veröffentlichung dieses Schlußwortes abzulehnen. Dasselbe war bereits mit einer Rede eingetreten, die Genosse Ulbricht auf einer erweiterten Sitzung der Bezirksleitung Leipzig im November 1970 gehalten hatte. Das Politbüro mußte auch im Januar 1971 ein von Genossen Walter Ulbricht überraschend eingebrachtes Material ablehnen, das zur Vorbereitung des VIII. Parteitages der SED an alle Bezirks- und Kreisleitungen sowie an die Grundorganisationen der Partei versandt werden sollte. Auch darin wurden zwar die Beschlüsse der 14. Tagung des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands und vorangegangener Politbüro-Sitzungen verbal anerkannt, in der Tat aber versucht, eine andere Einschätzung der Lage zu geben und erneut die Partei auf irreale Ziele zu orientieren. In diesem Material ist vorgesehen, zum VIII. Parteitag eine Orientierung zu geben und Beschlüsse zu fassen, die nicht auf die Fragen des Lebens Antwort geben und um das gültige Programm entsprechend der Entwicklung zu konkretisieren, sondern durch lebensfremde, pseudowissenschaftliche teilweise „technokratische“ Theorien einer sogenannten Vorausschau bis 1990 und darüberhinaus ersetzt werden sollen. In der Einschätzung internationaler Fragen wird von ihm teilweise in den Formulierungen hinter die Beschlüsse der Moskauer Beratung der kommunistischen und Arbeiterparteien und der verschiedenen Beratungen der Staaten des Warschauer Vertrages zurückgegangen. Das würde dazu führen, daß wir zum VIII. Parteitag nicht mit einer einheitlichen Meinung kommen, sondern mit der Meinung der Mehrheit des Politbüros und des Zentralkomitees auf der einen und der des Genossen Walter Ulbricht auf der anderen Seite. Sein ganzes Verhalten behindert in der letzten Zeit unsere Vorarbeiten zum Parteitag.
Nicht nur in der Innenpolitik, sondern auch in unserer Politik gegenüber der BRD verfolgt Genosse Walter Ulbricht eine persönliche Linie, an der er starr festhält. Damit wird ständig der zuverlässige Ablauf des zwischen der KPdSU und der SED koordinierten Vorgehens und der getroffenen Vereinbarungen gegenüber der BRD gestört.
Leider sind die Meinungsverschiedenheiten nicht nur in unserer Partei, sondern dank der Umgebung des Genossen Walter Ulbricht auch im Westen bekannt geworden.
Wir sehen die Ursachen für die zunehmenden Schwierigkeiten, die für unsere Partei durch die Handlungsweise des Genossen Walter Ulbricht entstehen, auch im Zusammenhang mit seinem hohen Alter. Hier geht es sicherlich um ein menschliches und biologisches Problem. Wir verstehen – und jeder in unserer Partei wird verstehen – daß es im Alter von 78 Jahren äußerst kompliziert ist, den großen Umfang von Arbeiten und Verpflichtungen wahrzunehmen, die sich aus der Funktion des Ersten Sekretärs des Zentralkomitees der SED und des Vorsitzenden des Staatsrates der DDR ergeben, insbesondere, wenn man berücksichtigt, daß die gegenwärtige und künftige politische Situation an uns hohe Anforderungen stellt.
Wir können mit voller Verantwortung sagen, daß wir alles getan haben, um Genossen Walter Ulbricht zu helfen. Wir schätzen aber auch seine Verdienste in der Vergangenheit hoch ein. Leider können wir nicht umhin festzustellen, daß sich bei Genossen Walter Ulbricht in der letzten Zeit bestimmte negative Seiten seines auch ohnehin schwierigen Charakters immer mehr verstärken. In dem Maße, in dem er sich vom wirklichen Leben der Partei, der Arbeiterklasse und aller Werktätigen entfremdet, gewinnen irreale Vorstellungen und Subjektivismus immer mehr Herrschaft über ihn. Im Umgang mit den Genossen des Politbüros und mit anderen Genossen ist er oft grob, beleidigend und diskutiert von einer Position der Unfehlbarkeit. Es tritt immer stärker hervor, daß Genosse Walter Ulricht von dem Gefühl seiner Unfehlbarkeit geleitet, für kommende Jahrzehnte, ja, bis zum Jahr 2000 politische und andere Prognosen vorlegt, die sich keine andere Partei der sozialistischen Staatengemeinschaft stellt. Aus vielen Bemerkungen und manchem Auftreten geht hervor, daß sich Genosse Walter Ulbricht gern auf einer Stufe mit Marx, Engels und Lenin sieht. Genosse Walter Ulbricht betrachtet es als eine seiner wesentlichsten Aufgaben, den Marxismus-Leninismus auf den verschiedensten Gebieten „schöpferisch weiter zu entwickeln“.
Seine Haltung gipfelte in einer Behauptung im Politbüro, daß er „unwiederholbar“ sei. Die übertriebene Einschätzung seiner Person überträgt er auch auf die DDR, die er immer wieder in eine „Modell-“ und „Lehrmeisterrolle“ hineinmanövrieren will. So stellte er allen Ernstes der Partei und dem Staat die Aufgabe, in den nächsten Jahren eine jährliche Zuwachsrate der Industrieproduktion und der Arbeitsproduktivität von 10 % unter allen Umständen zu erreichen, weil das angeblich objektiv notwendig sei. Gleichzeitig vertrat er den Standpunkt, daß es darauf ankomme, „bisher Nichtgedachtes“ einzuschätzen und zu bilanzieren.
Sicherlich waren auch wir in der Vergangenheit der nicht angebrachten übertriebenen Selbstbewertung des Genossen Walter Ulbricht gegenüber nicht immer kritisch und konsequent genug.
In der Haltung und im öffentlichen Auftreten von Genossen Walter Ulbricht liegen ernste Gefahren für die Beziehungen unserer Partei zur Kommunistischen Partei der Sowjetunion und zu den Bruderparteien. Deshalb mußte das Politbüro sich schon mehrfach mit ihm auseinandersetzen, um größten Schaden und ernste Konflikte zu verhindern. Wir berücksichtigen dabei auch bestimmte Lehren aus den Ereignissen in Volkspolen und der ČSSR.
Angesichts der Verantwortung unserer Partei in der gegenwärtigen inneren und internationalen Situation und auch angesichts der Erfahrungen, daß sich trotz vieler Diskussionen und Bemühungen die mit der Haltung des Genossen Walter Ulbricht verbundenen Belastungen nicht mindern, sondern im Gegenteil erhöhen, halten wir es für unsere internationalistische Pflicht das Politbüro des ZK der KPdSU über diese uns entstandene Lage zu informieren und zu bitten, uns bei der Lösung dieser komplizierten Frage zu helfen.
Wir sind der Ansicht, daß eine solche Lösung darin bestehen könnte, daß die Funktion des Ersten Sekretärs des Zentralkomitees der SED sehr bald von der des Vorsitzenden des Staatsrates der DDR getrennt wird und Genosse Walter Ulbricht nur die Funktion des Vorsitzenden des Staatsrates der DDR ausübt. Dabei wäre es gleichzeitig geboten, die bisher übertriebenen und künstlich ausgeweiteten Befugnisse des Staatsrates zu beschränken. Die Tätigkeit des Staatsrates, die heute oft dazu benutzt wird, um ohne das Politbüro Entscheidungen zu treffen, wäre der Kontrolle des Politbüros zu unterstellen. Der Staatsrat müßte seine Aktivitäten auf den Gebieten einstellen, die voll zum Verantwortungsbereich der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik gehören. Bei unseren Erwägungen können wir auch nicht daran vorbeigehen, daß nach offiziellem ärztlichem Befund die gegenwärtige arbeitsmäßige Belastung des Genossen Walter Ulbricht unverantwortlich ist. Es wurde ihm von den ihn betreuenden Ärzten dringend und wiederholt empfohlen, täglich nur vier Stunden zu arbeiten, sich mittwochs, sonnabends und sonntags zu erholen und nur einmal in der Woche abends für zwei Stunden an Veranstaltungen teilzunehmen. Zu unserer Sorge hält sich Genosse Walter Ulbricht nicht an diese und andere ärztliche Ratschläge. Dadurch kann sowohl für Genosse Walter Ulbricht persönlich als auch für Partei und Staat eine komplizierte Lage entstehen.
Wir lassen uns bei unseren Vorschlägen auch davon leiten, daß Genosse Walter Ulbricht möglichst lange für unsere Sache erhalten bleibt. Im Interesse unserer Partei und in seinem eigenen Interesse ist eine möglichst baldige Lösung wünschenswert, da sonst der Schaden für unsere Partei, der dann schwer wieder gutzumachen ist, immer größer wird, aber auch eine offene Austragung der Differenzen vor der Partei und die Zurückweisung seiner falschen Auffassungen immer schwieriger zu verhindern ist.
Deshalb wäre es sehr wichtig und für uns eine unschätzbare Hilfe, wenn Genosse Leonid Iljitsch Breshnew in den nächsten Tagen mit Genossen Walter Ulbricht ein Gespräch führt, in dessen Ergebnis Genosse Walter Ulbricht von sich aus das Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands ersucht, ihn auf Grund seines hohen Alters und seines Gesundheitszustandes von der Funktion des Ersten Sekretärs des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands zu entbinden. Diese Frage sollte möglichst bald gelöst werden, das heißt, unbedingt noch vor dem VIII. Parteitag der SED.
Indem wir Ihnen diese große Bitte unterbreiten, gehen wir davon aus, daß immer zwischen unseren Parteien und Staaten, seit der Zeit Thälmanns und Piecks eine gute, feste, unverbrüchliche Kampfbereitschaft bestand und auch heute besteht, die sich auf den Marxismus-Leninismus gründet und daß die Lösung der uns außerordentlich bewegenden Frage dazu beitragen wird, all das Große und Gute, das unsere Beziehungen bestimmt, weiter zu vertiefen. Wir erwarten Ihre Antwort und Hilfe.
Mit kommunistischem Gruß
Berlin, den 21. Januar 1971
gez. H. Axen, G. Grüneberg, K. Hager, E. Honecker, G. Mittag, H. Sindermann, W. Stoph, P. Verner, E. Mückenberger, H. Warnke, W. Jarowinsky, W. Lamberz, G. Kleiber
Quelle: Mitglieder des SED-Politbüros an das KPdSU-Politbüro und Generalsekretär L.I. Breshnew, 21. Januar 1971, SAPMO-Bundesarchiv, DY 30/J IV 2/2A/3196; abgedruckt in Andreas Herbst et al., Hrsg., Die SED. Geschichte, Organisation, Politik. Ein Handbuch. Berlin, 1997, S. 719–21.