Kurzbeschreibung

Nur sehr wenige DDR-Bürger hatten den Mut, die ostdeutsche Führung offen zu kritisieren. Die meisten wollten lieber anonym bleiben. Dieser Brief, der im Stasi-Unterlagen-Archiv gefunden wurde, stammt aus der Feder eines besorgten Mitglieds der herrschenden SED. Sein Autor hatte sich von den Entwicklungen in der Sowjetunion unter Michail Gorbatschow begeistern lassen, doch die Reaktion der SED-Führung entmutigte ihn. Der Brief unterstreicht den Kontrast zwischen Propaganda und Realität und Theorie und Praxis im Leben der DDR-Bürger.

Interne Kritik am SED-Regime (28. September 1988)

Quelle

Dresden, den 28.9.88

Genosse Dr. H. Modrow
Mitglied des ZK
1. Sekretär der Bezirks-Leitung der DDR
Devrientstr. 4
Dresden
8010

Sehr geehrter Genosse Dr. H. Modrow,

Dies ist ein sehr ungewöhnlicher Weg Dir, lieber Genosse, meine Ideen zur gegenwärtigen Lage in der DDR mitzuteilen. In der Grundorganisation wurden diese und ähnliche Probleme seit Jahren diskutiert, doch erhalten wir nie eine entsprechende Antwort. Das sind angeblich alles Tabus und werden auch entsprechend geahndet. Deshalb auch diese für einen Genossen unwürdige Form, doch die vorherrschenden Umstände zwingen mich dazu, da wir unter Erscheinungen des Absolutismus leben.

Man kann in größeren Gremien der Partei nicht mehr offen sprechen. Wir haben ähnliche Verhältnisse wie vor der Umgestaltung in der KPdSU. Wir sind ja alle so glücklich, daß es gelungen ist in der Vorreiterpartei den Ursprung des Marxismus-Leninismus wieder aufzudecken und, das ist das allerwichtigste, danach zu handeln. Wo ist bei uns der Marxismus-Leninismus hingekommen, wir reden nur noch schwülstig davon.

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Bitte mach mit dem Papier was Du willst, vielleicht gelangt es entsprechend den Gepflogenheiten – aber einer hat es gelesen – gar nicht bis zu Dir. Ich wünsche Dir im Kampf für das gute Ansehen der Partei noch viel Kraft und Gesundheit.

Mit sozialistischem Gruß
ein dem M[arxismus]-L[eninismus] versessener Genosse

[Anlage]

Kritische Anmerkungen zum realen Sozialismus in der DDR

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Nun hat jede Partei ein Programm und ein Statut. Am Programm [ist] an dieser Stelle keine Bemerkung erforderlich. Doch wenden wir uns dem Statut zu, so ergeben sich bestimmte Folgerungen. Im Wort des Statutes wird zusammengefaßt ausgedrückt, was in den nachfolgenden §§ geregelt wird.

„Die Partei wacht über die strikte Einhaltung des demokratischen Zentralismus und den Leninschen Normen des Parteilebens, der Kollektivierung der Leitungen und der innerparteilichen Demokratie. Sie entwickelt die Aktivität und schöpferische Initiative al­ler Mitglieder und fördert allseitig Kritik und Selbstkritik ...“ Wenn es doch so wäre, könnten alle Genossen sagen, doch wie sieht die tägliche Praxis aus. Die tägliche Arbeit der Partei ist weit von der Theorie abgerückt. Man lauert ja nur darauf welche Meinungsäußerung vom Politbüro gestattet ist – der „demokratische Zentralismus“ funktioniert.

Beginnen wir bei der Betrachtung der innerparteilichen Demokratie. Ein maßgeblicher Faktor ist hierbei die Wahl der Leitungsorgane und der Delegierten für die oberen Leitungsgremien und die offene Diskussion von Problemen, die zu Beschlüssen führen.

In den Grundorganisationen kennen sich die Genossen noch, doch auch hier ist die Wahl der Leitung eine Farce. So lange nicht mehr Kandidaten zur Auswahl stehen wie benötigt werden, so lange funktioniert die Demokratie nicht. Das Mitglied muß die Möglichkeit haben in geheimer Wahl seine Genossen zu wählen, die sein Vertrauen genießen. Doch mit der gegenwärtigen Praxis kann er nur den Kandidaten streichen, denen er seine Stimme nicht geben will. Auch hier klafft Theorie (Statut) und das seit Jahrzehnten praktizierte weit auseinander. Nun setzt sich dieses „demokratische Wahlsystem“ in die oberen Leitungsorgane fort. Wobei noch erschwerende Bedingungen hinzu kommen. Die Delegierten kennen die Kandidaten zu wenig, die Liste der Kandidaten wird bereits vom Parteiapparat erstellt. So baut sich also eine Staatspartei (siehe Verfassung) bis in die höchsten Gremien auf. Damit wird das Politbüro zur entscheidenden machtausübenden Versammlung von Genossen. Damit geht von diesem Gremium der „demokratische Zentralismus“ aus. Mit diesem Wirksamkeitsprinzip desselben werden die Grundorganisationen völlig entmündigt und das Mitglied den Ereignissen ohnmächtig gegenüber steht.

Vom Politbüro wiederum werden der Generalsekretär und die übrigen Fachsekretäre mit einer unbeschreiblichen Machtfülle ausgestattet, wobei der Parteiapparat eine nicht zu unterschätzende Rolle ausübt. Im Politbüro werden die zentralen Beschlüsse kol­lektiv gefaßt (Leninsches Prinzip) und in bestimmten Abständen wird die Arbeit dieses Gremiums vor dem „gewählten“ Zentralkomitee abgerechnet. Dies läuft in der Regel wie ein gut inszeniertes Drehbuch ab. Die Diskussionsredner befleißigen sich einen guten Eindruck zu machen und unterstützen vorbehaltlos den abgegebenen Rechenschaftsbericht, man hört nur Lobeshymnen auf das Leben in der DDR es geht nur vorwärts, wir haben keine kritischen Aspekte zu diskutieren. Eine Kritik ist nicht zu erkennen, die Arbeit des Politbüros war eben eine »weise« unfehlbare. Also hat die Partei – sprich Politbüro – immer recht.

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Es muß das alte Wirkprinzip wieder zum Durchbruch kommen: Gute Arbeit – höhere Leistung – höheres Geldeinkommen – gutes Warenangebot entsprechend den Bedürfnissen – höherer Lebensstandard (Lebensqualität).

Zur Zeit wird jedoch folgender Teufelskreis vorgefunden: Keine gute Warenbereitstellung entsprechend den Bedürfnissen (hochwertige Konsumgüter werden illegal gehandelt – Auto, Obstversorgung diskontinuierlich, dadurch überhöhte Käufe) weniger gezeigte Leistung auf der Arbeitsstelle – weniger Waren – geringeres Angebot – fehlender Export, damit fehlender Import – Geldüberhang bei der Bevölkerung (Lohnzahlungen ohne Leistung – siehe Materialbereitstellung –)

Aufbau eines illegalen Marktes mit weit überhöhten Preisen für hochwertige Konsumgüter – das soziale Gefüge ist völlig gestört.

Grundsätzlich gilt, daß die Menschen materialistisch eingestellt sind, das beweist ja gerade die marxistische Philosophie. Nur muß sich die Parteiführung daran halten. Allein mit dem Enthusiasmus der Massen über einen längeren Zeitraum kann man keine Produktion betreiben. Mit den wenigen in der Öffentlichkeit propagierten guten Arbeitsleistungen von Werktätigen kann die riesige Zahl der abwartend, den negativen Kreislauf bewirkenden Massen nicht zum Umschwung gebracht werden, die Quantität dieser Massen zeigt eben diese negative Qualität.

[Es folgt eine Aufzählung von Funktionsdefiziten in der DDR-Wirtschaft.]

Das Problem der Renten ist nicht gerecht gelöst, es existiert keine Rentenanpassung (Leugnen der Inflationsrate u.a.). Die Renten werden nach dem Lebensverdienst berechnet, dadurch werden die in der Folgezeit eingetretenen Lohnerhöhungen nicht beachtet. So bleibt der Widerspruch zwischen Alt- und Neurentner bestehen, trotz gleicher gehabten Tätigkeit und Lohn- bzw. Gehaltsgruppe.

Die Disziplin im Betrieb wird zu sehr von der „Kollegialität“ abgeleitet. Die Leiter besonders in der unmittelbaren Produktion stehen immer zwischen Pflicht und „Kollege“. Dadurch sind die notwendigen Maßnahmen nicht möglich.

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Aus dem bisher dargelegten Sachverhalten, denen man noch weitere hinzufügen kann, wird auch für die SED ein radikales Umdenken zur Lebensnotwendigkeit. Die Partei kann sich nicht länger auf die Beschlüsse des VIII. Parteitages berufen.

Trotz bestehender Unterschiede und Besonderheiten in den einzelnen sozialistischen Ländern muß auch in die SED Offenheit und mehr Demokratie in Gesellschaft und Betrieb Einzug halten. Auch der Innenpolitik muß wesentlich mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden, man kann nicht nur eine gute Außenpolitik – Kampf um den Frieden – betreiben und alles dahinter verstecken. Die kritischen Auseinandersetzungen zu den herangereiften Problemen und Widersprüchen bleiben nicht aus. Sollte dies nicht in absehbarer Zeit erfolgen, und alles der überalterten Parteiführung mit dem eingeschliffenen System des „demokratischen Zentralismus“ überlassen werden, so kann es ein böses Erwachen geben. Die vielen Menschen, die eine Übersiedlung in die BRD wollen, [wollen] auch nicht ohne weiteres ihre angestammte Heimat aufgeben. Doch die Zahl dieser DDR Bürger spricht für sich, man kann dies auch nicht mit Egoismus und Abenteuertum abqualifizieren. Es sind häufig gute Fachkräfte im besten Arbeitsalter und sehr leistungswillig.

In den zurückliegenden Zeiträumen wurde sehr viel vom Marxismus-Leninismus gesprochen und noch mehr geschrieben, doch in der täglichen Praxis hat man sich meilenweit entfernt. Wie man den Marxismus-Leninismus richtig handhabt, ohne diesen Begriff ständig zu gebrauchen, bewies die KPdSU auf ihrem Parteikongreß. Es ist ein Gebot der Vernunft von diesem Kongreß zu lernen und nicht in Überheblichkeit zu verfallen, als hätten wir keine Widersprüche zu lösen, wie es von führenden Genossen der Parteiführung wiederholt praktiziert wurde.

Es wird die Zeit kommen, wo der Genosse in der Grundorganisation unüberhörbar seine Forderungen stellt und die führenden Genossen zur Verantwortung zieht. Wir können mit der Erneuerung des Politbüros bis zum XII. Parteitag, bzw. durch den biologischen Effekt, nicht mehr warten. Wir brauchen eine Parteispitze, die in der Lage ist auch bei uns die Umgestaltung einzuführen.

Die Losung heißt: Mehr Demokratie – mehr Sozialismus!!!

Quelle: Anonymer Brief aus Dresden an Hans Modrow (Dresden, den 28. September 1988); abgedruckt in Siegfried Suckut, Hrsg., Volkes Stimmen: „Ehrlich, aber deutlich“ – Privatbriefe an die DDR-Regierung. München: DTV, 2016, S. 395–402. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers.