Kurzbeschreibung

Das Kriterium der sozialen Herkunft für Beruf und Karriere im Arbeiter- und Bauernstaat der DDR karikiert dieser Beitrag, der in seinem zweiten Teil auf die positiven wie potentiell „gefährlichen“ Seiten einer gut gebildeten Bevölkerung für die Regierung eingeht.

Bildung und sozialer Aufstieg (1982)

  • Irene Böhme

Quelle

Stammbaum

In Werte oder Vorteile läßt sich nicht ummünzen, daß man zur führenden Klasse gehört. Arbeiter und Bauern sind Werktätige wie fast alle Bürger. Die Zuordnung zu einer Klasse oder Schicht wird abgefragt in Fragebögen, ist noch wesentlich für die Statistik. Das war nicht immer so. In den fünfziger Jahren, als das bürgerliche Bildungsprivileg gebrochen wurde, erhielten Arbeiter- und Bauernkinder bevorzugt Plätze auf Oberschulen und Universitäten. 1949 wurde die ABF (Arbeiter-und-Bauern-Fakultät) gegründet. Sie ermöglichte in Sonderlehrgängen das Abitur. Bereits 1950 waren 30 Prozent aller Studenten Arbeiter- oder Bauernkinder, bis 1966 erhöhte sich ihr Anteil auf 55 Prozent. So entstand eine neue Intelligenz; die ehemaligen ABF-Absolventen sind heute Führungskräfte in Politik, Wirtschaft und Kultur. Sie kämpfen dafür, daß ihre Kinder nicht zur „Intelligenzia“ zählen, nicht das Kainsmal dieser Herkunft tragen.

Nachdem in den sechziger Jahren die „sozialistische Menschengemeinschaft“, das „Reich der Menschlichkeit“ verkündet war, jeder Bürger seine sozialistische Persönlichkeit auszubilden hatte und die Klassen und Schichten einander als Brüder umschlungen halten sollten, warf der VIII. Parteitag der SED im Jahr 1971 die Klassenfrage erneut auf. Es war die Rede vom Proletariat, vom Kommunismus und davon, daß die Arbeiterklasse durch sozialpolitische und kulturelle Maßnahmen gezielt gefördert werden muß. Der alte Slogan aus den Wismut-Tagen: „Ich bin Bergmann, wer ist mehr?“ tauchte wieder auf. Die Berufsgruppe der Bauarbeiter erhielt propagandistische Aufwertung, weil der Wohnungsbau zum wirtschaftlichen Schwerpunkt erklärt war. Obwohl niemand abschätzte, in welcher Weise es sich auszahlen könnte, wurde es erneut wichtig, zur Arbeiterklasse zu gehören, am besten zu einem der Gewerbe der Bauindustrie. Es begann eine heftige Diskussion in Gewerkschaftsversammlungen und auch öffentlich. Sie zielte einzig darauf, daß jeder für sich ganz persönlich nachwies, aus der richtigen Ahnenreihe zu stammen. Die ehemaligen ABF-Absolventen waren darin führend, fragten, ob denn nur jede zweite Generation einer Familie zur „führenden Klasse“ gehören dürfe, und motivierten ihre Kinder umgehend, die Schule nach zehn Jahren zu verlassen. In Kultur- und Wissenschaftskreisen wurde es Mode zu prahlen: „Unser Sohn wird Arbeiter.“

Die Wogen der Debatte, wer denn nun zur „führenden Klasse“ gehöre, besänftigten sich nicht. Sie schlugen hinauf bis in die Führungsspitze. Die einzigen, die kein Interesse daran zeigten, waren die Arbeiter und Bauern sowie die selbständigen Handwerker. Unruhe störte empfindlich das Überbau-Gefüge, führte zu sogenannten „nutzlosen Diskussionen“. Das lenkte ab von der postulierten Hauptaufgabe: „Erhöhung des materiellen und kulturellen Lebensniveaus der Werktätigen“, die von den Beunruhigten agitatorisch und praktisch zu überwachen war. Aus der formulierten Hauptaufgabe entwickelte man nach einem knappen Jahr das Gentleman's Agreement: Wir sind allzumal Werktätige und mangeln des Ruhmes nicht, den wir vor der Partei haben sollen. Nun ist jeder, der Lohn oder Gehalt bekommt, ein Werktätiger und darf sich zur Arbeiterklasse zählen. Ausgenommen sind die Künstler, die jedoch, legen sie Wert darauf, selbstverständlich auch werktätig sind. Infolgedessen konnte Ende 1980 im DDR-Fernsehen eine Kommunalpolitikerin mit Fug und Recht verkünden, daß in die Wohnungen eines Berliner Neubaublocks ausschließlich Arbeiterfamilien einziehen. Eine Merkwürdigkeit ist aus der Abstammungs-Debatte zurückgeblieben. Die Kandidaten zu jedweder Wahl sowie die mit Orden und Ehrenzeichen geehrten Personen werden in den Zeitungen grundsätzlich mit zwei Berufen vorgestellt. Erich Honecker zum Beispiel: Dachdecker, Vorsitzender des Staatsrates der DDR. Der glückliche Zufall, daß der erste Mann des Staates einst der Bauarbeiter-Zunft angehörte, verleitet jedoch keinen Bauarbeiter zu utopischen Wünschen.

Bildung

Wissen zählt in der DDR. Wissen bedeutet zwar nicht Macht, Kenntnisse und Fertigkeiten sind jedoch Werte. Die Erfahrung zweier Weltkriege wirkt nach: „Was man im Kopf hat, kann nicht enteignet werden.“ Die Tradition der deutschen Arbeiterbewegung seit Bebel ist präsent: Bildungsprogramme stehen seit dem Leipziger Vereinstag des „Verbandes Deutscher Arbeitervereine“ 1864 ständig auf der Tagesordnung. Lenins Losung „Lernen, lernen und nochmal lernen“ ist zur volkstümlichen Redewendung aufgestiegen. Die Maxime des Mittelstandes aus den Gründerjahren der Industriegesellschaft blieb lebendig: Lernen, um es besser zu haben, um aufzusteigen. Qualifizierung und Weiterbildung gehören zum DDR-Alltag. Man macht auf der Abendoberschule den 10. Klasse-Abschluß oder das Abitur nach, im Abend- oder Sonderstudium wird der Facharbeiter- oder Fachschulabschluß erworben, im Fernstudium das Hochschuldiplom. Wer aus dem „einheitlichen sozialistischen Bildungssystem“ aussteigt, findet viele Möglichkeiten des erneuten Einstiegs. Daneben gibt es Teilstudien, Speziallehrgänge und Volkshochschulkurse. Sie sind vorwiegend dazu bestimmt, den Werktätigen für den Arbeitsplatz, den er bereits einnimmt, besser auszurüsten. Großbetriebe leisten sich eigene Betriebsakademien. Im Jahr 1977 bildeten sich 1 455 300 Beschäftigte der sozialistischen Wirtschaft weiter, 573 200 davon waren Frauen. Jeder Betrieb ist durch den Betriebskollektivvertrag (jährliche Vereinbarung zwischen Leitung und Gewerkschaft) gesetzlich verpflichtet, einen Frauenförderungsplan, einen Jugendförderungsplan und einen Plan der Qualifizierung aufzustellen. Die Pläne „mit Leben zu erfüllen“, wie es in der Funktionärssprache heißt, ist schwierig, denn verständlicherweise sind weniger Frauen als Männer bereit und in der Lage, sich durch zusätzliches Lernen zu belasten. Die gesetzlichen Voraussetzungen, die praktischen Möglichkeiten sowie die sozialen Vergünstigungen (zusätzliche Freizeit, finanzielle Unterstützung) sind beispielhaft. Für Frauen sind sie günstiger als für Männer, für Mütter mit Kindern noch attraktiver als für Mädchen. So trifft man nicht selten Leute mit zwei abgeschlossenen Berufsausbildungen, mit staatlichen Befähigungsnachweisen für mehrere Fertigkeiten, mit doppeltem Hochschuldiplom.

Obwohl die fachspezifische Ausbildung den Vorrang hat, wird die Allgemeinbildung nicht total vernachlässigt. Wer beispielsweise einen Meisterabschluß macht, muß mindestens fünf schöngeistige Bücher gelesen haben und darüber Auskunft geben können, zwei des „kulturellen Erbes“, drei der Gegenwart. Die geforderten Titel wechseln von Zeit zu Zeit.

Kenntnisse und Fertigkeiten sind auch Tauschobjekte, das ist ganz offensichtlich im technischen Bereich. Wer etwas konstruieren oder reparieren kann, hat eine „Ware“ zu bieten. Gleiches gilt für Beratungen aller Art. Normalerweise steigen mit dem Bildungsgrad die Einkünfte. Doch nicht in jedem Fall ist ein sozialer Aufstieg auch ein finanzieller. Ein Setzer verdient mehr als einer, der sich zum Lehrausbilder für Setzer qualifiziert hat, ein Bauarbeiter kann mehr ausgezahlt bekommen als ein Bauingenieur, ein Universitätsabsolvent wird in jedem Fall schlechter bezahlt als ein Fensterputzer. Diese Diskrepanzen im Lohngefüge und eine allgemeine Staatsverdrossenheit halten einen Teil der jungen Leute davon ab, nach weiterer Bildung zu streben. Erfahrungsgemäß hält diese Müdigkeit nicht jahrelang an. Bald nach der Eheschließung, dem Einrichten der Wohnung und dem ersten Kind entschließt sich einer der Partner zur Weiterbildung. Qualifiziert sich der Mann zum Ingenieur, will die Frau wenigstens ihren Meister machen Ein geflügeltes Wort von jungen Frauen: „Jetzt bin ich mal dran.“ Der Ausbildungsgrad ist das Markenzeichen einer Familie. Die Profession der Frau zählt mit, sie wird meist aufmerksamer bewertet, weil das Rückschlüsse auf Lebenshaltungen zuläßt. Beim Vorstellen in Gesellschaften wird grundsätzlich der Beruf beider genannt, meist dazu die Arbeitsstelle und die Art der Tätigkeit: Frau Meier, Brigadierin im Fernmeldewerk, Herr Meier, Teilkonstrukteur im Baukombinat. Der Beruf ist Anknüpfungspunkt für Gespräche, die Aus- und Weiterbildung ist nach dem Warentausch häufigstes Thema der Unterhaltungen.

Das staatlich geförderte Bildungsstreben birgt Gefahren für den Staat. Wer besser Bescheid weiß, bringt sein Wissen zwar „zum Nutzen der Gesellschaft“ ein, beurteilt gesellschaftliche Prozesse jedoch kritischer. Durch erweitertes Wissen werden Ansprüche geboren, sind die Auseinandersetzungen sachkundiger, also komplizierter. Die Verbitterungen der Kundigen, die sehr oft erleben, daß Entscheidungen nicht nach fachlichen Gesichtspunkten getroffen werden, nehmen zu. Proportional zum Wissen steigen Kritik und Unruhe. Was sich daraus entwickelt, ist nicht abzusehen. Jedoch stellt niemand den Wert von Kenntnissen und Fertigkeiten in Frage, sie sind das sicher angelegte Kapital jedes einzelnen.

Quelle: Irene Böhme, Die da drüben. Sieben Kapitel DDR. Berlin: Rotbuch Verlag, 1982, S. 75–79. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung der Autorin.