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Freundschaft und Geselligkeit hängen eng mit dem Umfang und Inhalt der Freizeit zusammen. In diesem Zusammenhang ist eine vergleichende Gegenüberstellung zwischen dem Charakter der Freizeit im Kapitalismus und im Sozialismus von Interesse.
Die Freizeit der Werktätigen in der Deutschen Demokratischen Republik ist von der Freizeit im Kapitalismus durch vier Hauptmerkmale unterschieden:
Erstens entstehen im Sozialismus durch die Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse und die Vergesellschaftung der wichtigen Produktionsmittel erstmalig für alle Werktätigen Beziehungen der gegenseitigen kameradschaftlichen Hilfe, die vom Arbeitsprozeß ausgehend auch in die Freizeit hineinwirken.
Im Kapitalismus ist die gesamte Freizeitgestaltung, zeitweilig stärker oder schwächer, jedoch unabwendbar, von Existenzsorgen überschattet. Sie verflacht und isoliert, besonders kulturell, nicht zuletzt durch die Auswirkungen der Klassengegensätze, zu denen Engels sagte: „Die Möglichkeit rein menschlicher Empfindung im Verkehr mit andern Menschen wird uns heutzutage schon genug verkümmert durch die auf Klassengegensatz und Klassenherrschaft gegründete Gesellschaft, in der wir uns bewegen müssen.“
Zweitens gibt es im Sozialismus keinen Existenzkampf um die gesicherte Freizeit mehr. Die Freizeit wird sich mit der Steigerung der Arbeitsproduktivität gesetzmäßig erweitern. Im Kapitalismus dagegen hat der Berufstätige in Zeiten der Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit entweder unwillkommen viel «Freizeit» oder in der Hochkonjunktur, durch die Gier des Kapitals, den letzten Rest der Freizeit in profitbringende Arbeitszeit zu verwandeln, zu wenig Freizeit. Gesicherte und der Arbeit angemessene Freizeit wird so oder so nur im kräfteverzehrenden Klassenkampf erobert. Sie findet in der Regel einen ermatteten Arbeiter vor. Aufschlußreich sind in diesem Zusammenhang die Ausführungen in einer Nummer der „Neuen Rheinzeitung“ unter dem Titel „Der Arbeiter verzichtet weitgehend auf das Buch“. Dort wird festgestellt, daß der westdeutsche Arbeiter weder zu den Käufern noch zu den Lesern des Buches gehört. Und der Grund? Geben wir zwei Antworten westdeutscher Arbeiter wieder.
Ein 52jähriger Metallarbeiter aus Köln: „Ja, früher war ich abends froh, wenn ich ein Buch lesen konnte. Heute will ich meine Ruhe haben. Die Hetze im Betrieb macht mich so kaputt, daß ich abends höchstens noch mal in die Zeitung gucke. Meine Frau holt sich manchmal was aus der Leihbücherei. Aber da gucke ich nur mal sonntags rein. Meist ist das irgend so ein Kitsch.“
Ein 37jähriger Bauarbeiter aus dem Siegkreis: „Wenn ich von der Arbeit heimkomme, bin ich erst mal fertig. Meine Frau schaltet dann meistens das Fernsehen ein. Oft muß sie mich dann wecken, wenn die Sendung zu Ende ist.“
Im Sozialismus dagegen kann der Arbeiter auf dem Fundament sozialer Sicherheit und geordneter Arbeitszeit noch genügend Kraftreserven für die Freizeit erübrigen.
Drittens gibt es im Sozialismus erstmalig ein großzügig aufgebautes Netz kultureller und wissenschaftlicher Einrichtungen, die uneingeschränkt von allen Werktätigen genutzt werden können. Es besteht ein Gesetz zur Qualifizierung der Werktätigen und zur sozialistischen Entwicklung der Berufsausbildung. „Früher ging es schnell nach Feierabend in die nächste Kneipe“, berichtete Dieter Locha, Jugendbrigadier im VEB Maschinenbau Görlitz, „und dann wurde es immer ein oder zwei Uhr. Jetzt geht es nicht mehr. Der eine geht zum Meisterlehrgang, die anderen besuchen Abendkurse zur Erlernung des zweiten Berufes als Schweißer. Dann treffen wir uns auch sehr oft, um etwas durchzusprechen.“
Viertens bietet im Sozialismus die Freizeit, da sie sich gesetzmäßig mit der Steigerung der Arbeitsproduktivität vergrößert und die sozialistische Arbeit noch genügend Kraftreserven läßt, nicht nur die Möglichkeit der Entspannung und Unterhaltung, sondern auch der Persönlichkeitsentfaltung durch vielgestaltige kulturelle und wissenschaftliche Kontakte. „Nur keinen Bildungsfanatismus“, empfiehlt dagegen die offiziöse westdeutsche „Welt der Arbeit“. „Freizeit bedeutet Freiheit, zu tun, was einem gefällt ... Und wer stundenlang auf einer Brücke steht und in den Kahn spuckt, um zu sehen, ob die Spucke Kahn fahren kann – soll es tun dürfen ...“ Hier wird unmißverständlich eine individualistische, auf politische Enthaltsamkeit hinzielende Freizeitunterhaltung empfohlen. Sie steht im Einklang mit der verunglimpfenden Bemerkung des Ministerialdirektors Osterloh vom Bundesernährungsministerium: „Im sowjetischen Machtbereich wird die Freizeit vernichtet durch ihre Einplanung und durch die staatlich gelenkte Freizeitgestaltung.“ Realistische Kunst und Literatur, parteiliche Wissenschaft, allseitige Aus- und Weiterbildung der Werktätigen als größte humanistische Aufgabe einer Gesellschaft ist allerdings eine „Vernichtung der Freizeit“, einer Freizeit des angsterfüllten Dahindösens, des eifersüchtigen Klatsches, zotiger Biertischatmosphäre, in der unter dem Einfluß von Alkohol erst die Argumente und dann die Maßkrüge fliegen. Im Kapitalismus soll sich der Werktätige amüsieren, um gut arbeiten zu können; er soll aber nicht denken, nicht klassenbewußt handeln lernen. Kulturelle Erholung ist deshalb nur mit politischer Indifferenz erwünscht. Im Sozialismus dagegen dient die Freizeit neben der physisch und psychisch notwendigen Entspannung vor allem dem baldigen Sieg der Kulturrevolution, der Entwicklung eines hochgebildeten, kulturvollen Menschen. Die Kultur dient erstmalig uneingeschränkt dem Volke, und das Volk schafft erstmalig seine eigene Kultur, die sozialistische nationale Volkskultur.
Quelle: Herbert Zerle, „Freundschaft und Geselligkeit im Sozialismus“, in Pädagogik 16/1961, S. 581 ff; abgedruckt in Christoph Kleßmann, Georg Wagner, Das gespaltene Land. Leben in Deutschland 1945–1990. Texte und Dokumente zur Sozialgeschichte. München: C.H. Beck, 1993, S. 510–12.