Kurzbeschreibung

Die Debatte im Deutschen Bundestag zur atomaren Nachrüstung machte erneut die unterschiedlichen Positionen innerhalb der SPD deutlich und bewegte Bundeskanzler Helmut Schmidt zu einer vehementen Verteidigung seiner Nachrüstungspolitik, in der er die Demonstranten direkt ansprach.

Bundestagsdebatte zur Nachrüstung (10. Oktober 1981)

  • Helmut Schmidt

Quelle

Schmidt: Die Jugend soll auch die Sorgen unserer Generation ernst nehmen
Warnung vor „zwielichtigen“ Demonstranten in Bonn / Kohl: Zwei verschiedene Welten in der SPD

In einer über weite Teile eindrucksvollen Debatte hat sich der Bundestag am Freitag mit der sogenannten „Friedensdemonstration“ befaßt, mit der an diesem Samstag mehr als 200 000 Menschen in Bonn gegen den Doppelbeschluß der Nato protestieren wollen. Die Auseinandersetzung im Parlament wurde weithin geprägt von einer Rede des Bundeskanzlers, in der er entschlossen wie lange nicht mehr sich zu seinen politischen Vorstellungen bekannte, die sowjetische Aufrüstung als Ursache der Nato-Nachrüstung hervorhob und an die Demonstranten, zu denen auch bekannte Sozialdemokraten gehören, die Frage richtete, ob sie die Absicht hätten, die Fortsetzung seiner Politik zu hindern, indem sie ihm die innenpolitische Grundlage „zerbröseln“ ließen. Schmidt verurteilte das Zusammengehen von Sozialdemokraten und Kommunisten, denen er vorwarf, sich zum „gefügigen Werkzeug“ eines anderen Staates gemacht zu haben. Der Bundesaußenminister Genscher dankte dem Bundeskanzler für seine Rede und versicherte ihn der Unterstützung durch die FDP. Der Antrag der Koalitionsparteien — der den Doppelbeschluß als gültig bezeichnet, die Aufnahme von Rüstungskontrollverhandlungen begrüßt und friedlichen Demonstranten Respekt zusichert — wurde vom Bundestag mit 271 Ja-Stimmen gegen 218 Nein-Stimmen bei zwei Enthaltungen angenommen.

Schmidts Rede kontrastierte deutlich zu den Ausführungen zuvor durch den SPD-Vorsitzenden Brandt. Brandt wiederholte seine Bemerkung, daß er über Demonstrationen für den Frieden nicht besorgt sein könne, denn er habe in Deutschland schon Schlimmeres erlebt als junge Menschen, die für den Frieden auf die Straße gingen. Der SPD-Vorsitzende bestätigte, daß für seine Partei nach wie vor der Unvereinbarkeitsbeschluß gelte und daß die SPD „Aktionseinheiten“ mit Kommunisten ablehne. Doch sei dies zu unterscheiden von der Beteiligung an einer Demonstration, bei der nun einmal „einige Kommunisten“ mitliefen. Brandt sprach sich gegen Gewaltanwendung aus und begrüßte die Erklärung von Sozialdemokraten und christlichen Gruppen unter den Teilnehmern der Demonstration, nach der sie sich für einen friedfertigen Verlauf einsetzen wollten. „Wir dürfen das nicht auf den Rücken der Kollegen Polizisten abschieben wollen“, meinte Brandt. Er respektiere den Friedenswillen derer, die demonstrierten, Aufgabe der SPD sei es, aus dem Friedenswillen Politik zu machen.

Oppositionsführer Kohl setzte mit seiner Rede an diesen Unterschieden der politischen Bewertung in der SPD-Führung an. Beide Reden, jene Schmidts und Brandts, spiegelten zwei verschiedene Welten, sagte er. Brandt sei zu einem „neuen politischen Ufer“ in der deutschen und internationalen Politik aufgebrochen. Dies sei der Grund für die Unruhe, die in seiner Partei ausgebrochen sei. Vieles von dem, was Schmidt gesagt habe, werde von einem erheblichen Teil der SPD nicht mehr geteilt und es sei kein Zufall gewesen, daß er bei verschiedenen Passagen seiner Rede zwar Beifall aus der CDU-Fraktion erhalten habe, die ehrlichen unter den innerparteilichen Widersachern der SPD-Fraktion dagegen nicht applaudiert hätten. Was hier zutage getreten sei, sei nichts Geringeres als die Tatsache, daß er in entscheidenden Fragen seiner Politik keine Mehrheit mehr hinter sich habe.

Als nahezu unfaßbar bewertete es der Oppositionsführer, daß Brandt in seiner Rede den Eindruck zu erwecken versucht habe, als brauche der Unvereinbarkeitsbeschluß über das Zusammenwirken von Sozialdemokraten und Kommunisten bei der Demonstration am Samstag nicht angewendet zu werden, obwohl doch vermutlich zehntausend oder mehr SPD-Mitglieder und Sympathisanten unter den Teilnehmern sein würden. Man müsse sich bewußtmachen, daß das SPD-Präsidiumsmitglied Eppler ebenso wie das FDP-Vorstandsmitglied Borm unter den Rednern dieser Demonstration seien und daß die von ihnen geforderte Politik auf die Einfrierung der militärischen Überlegenheit der Sowjetunion hinauslaufe. Würde die Bundesrepublik, so wie es die Veranstalter forderten, den Nato-Doppelbeschluß widerrufen, so träfe dies im Kern die Mitgliedschaft der Bundesrepublik im Bündnis und es stellte all das in Frage, worauf die Bundesrepublik seit dreißig Jahren aufgebaut sei. Es wäre die Pflicht Brandts gewesen, meinte Kohl, hier im Sinne von Kurt Schumacher für Klarheit zu sorgen, statt über die Teilnahme der Kommunisten im Gegensatz zu den klar verurteilenden Worten des Bundeskanzlers hinwegzureden.

[]

„Der gute Wille genügt leider nicht, um die Welt zu ändern. Wenn man das will, muß man sich sehr tief bücken . . . Denn dort unten liegen die Steine und Hindernisse, die man wegrücken muß, wenn man die Welt verändern will.“ So hatte Schmidt seinen verstorbenen Parteifreund Carlo Schmid zu Beginn seiner Rede zitiert. Was Carlo Schmid 1956 zur atomaren Problematik gesagt habe, gelte unverändert fort. Er verstehe die Sorge vieler Menschen um den Frieden und ihre Suche nach „Gleichungen, die ohne Rest aufgehen.“

Die Sorge um den Frieden sei berechtigt. Auch er habe Angst gehabt, als nach dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan das Gespräch zwischen den Weltmächten abgerissen sei. Aber Angst haben reiche nicht, man müsse die Gründe hierfür angehen. Dies sei geschehen, und wenn Moskau und Washington heute wieder miteinander redeten, so habe die Bundesregierung dazu „weiß Gott“ ihr Teil beigetragen. Wenn er bereit sei, die Jugend ernstzunehmen, so erwarte er allerdings, daß die Jugend die Sorgen „unserer Generation“ und ihre Erfahrungen, zu denen die Katastrophe des Krieges gehöre, ebenso ernstnehme. Angst könne die Handlungsfähigkeit der Bundesrepublik lähmen, und sie sei für die Bundesrepublik heute noch nötiger als sonst. Der Bundeskanzler gab zu verstehen, daß er seine Handlungsfähigkeit als Regierungschef durch die Demonstranten und ihre Organisation gefährdet sieht, weil dadurch die innenpolitische Grundlage seiner Regierung zu zerbröseln drohe: „Ist das gewollt, wollen die Veranstalter dies?“ fragte Schmidt. Ihm falle es schwer zu verstehen, daß Organisatoren und Redner der Demonstration, die Bemühungen seiner Regierung um die Sicherung des Friedens nicht anerkennen wollten. Ohne seine Bemühungen wäre es nach seinem eigenen Urteil nicht zu den am 30. November beginnenden Verhandlungen über die Mittelstreckenwaffen gekommen.

Scharf setzte Schmidt sich mit den Organisatoren der Demonstration auseinander. Er kritisierte, daß sie nicht bereit waren, sich von kommunistischen Gruppen abzusetzen. Damit hätten sie die Chance verpaßt, „ausgewogen zu formulieren“. Dem Friedenswillen der Deutschen helfe es nicht, wenn sie es zuließen, daß er von kommunistischen Gruppen organisiert werde. „Wir Deutschen dürfen uns nicht mitbestimmen lassen von jenen, die sich selbst zu gefügigen Werkzeugen eines anderen Staats gemacht haben“. Er fügte hinzu, die deutschen Kommunisten, die ausländische politische Zwecksetzungen mit Manipulationen in der Bundesrepublik unterstützten, seien „im besten Fall“ im Irrtum. Das Gesetz gestatte ihnen, so zu verfahren, aber sie sollten wissen, fuhr Schmidt unter dem donnernden Applaus des ganzen Hauses fort, daß seine politischen Freunde weder in der Sowjetunion noch in der DDR demonstrieren dürften und sie sollten auch wissen, daß es dort keine Wehrdienstverweigerung gebe. Ebenso Beifall gab es für Schmidt, als er die Demonstranten aufforderte, sich nicht einreden zu lassen, die Bundeswehr diene anderen Zwecken als dem, die Bundesrepublik zu verteidigen.

Auffallend war an Schmidts Rede weiter, wie scharf er sich in der Sache mit der Sowjetunion auseinandersetzte. Er warf ihr vor, sich „leider“ nicht an die gemeinsame Erklärung gehalten zu haben, in der er sich zusammen mit Breschnew im Mai 1978 zu einer Politik des „ungefähren Gleichgewichts“ im militärischen Bereich bekannt hatte. Die Tatsache, daß die Sowjetunion sich im Bereich der Mittelstreckenwaffen hieran nicht gehalten habe, sei die Ursache für den Doppelbeschluß der Nato, um den es jetzt gehe.

Die am 30. November beginnenden Verhandlungen dürften nicht zur Festschreibung bestehender — oder zur Schaffung neuer Ungleichgewichte benutzt werden, sondern dazu, ein Gleichgewicht auf niedrigerem Niveau zu vereinbaren. Alle seien sich einig, daß das ideale Verhandlungsergebnis eine „beiderseitige“ Nulllösung wäre; durch Beseitigung der sowjetischen Hochrüstung. Keine Seite könne aber bestimmen, was Gleichgewicht sei. Doch werde eine Einigung erleichtert, falls die Sowjetunion Transparenz auf diesem schwierigen Verhandlungsgebiet ermögliche und schon jetzt aufhören würde, jede Woche eine neue SS-20-Rakete zu installieren. Diese Problematik werde wichtiges Thema sein, wenn er demnächst mit Breschnew zusammenkomme. Schmidt beteuerte, daß er sich auf diese Gespräche freue und daß er sie als „Teil des westlichen Bündnisses“ führen werde.

An die Demonstranten gerichtet sagte Schmidt, er werfe sie nicht in einen Topf mit denen, die Gewalt als ein Mittel der Politik ansähen. Er forderte sie aber auf, zu bedenken, daß sich „sehr zwielichtige Gestalten an ihre Rockschöße gehängt“ hätten. Von ihnen sollten sie sich nicht mißbrauchen lassen. „Wenden Sie sich an alle, die Atomwaffen besitzen, daß sie ihre atomare Rüstung verringern, wenden Sie sich auch an alle, die ihren Rüstungsaufwand steigern“, sagte Schmidt und forderte die Demonstranten auf, die Sowjetunion nicht als Adressaten ihres Protestes zu übersehen.

Quelle: „Schmidt: Die Jugend soll auch die Sorgen unserer Generation ernst nehmen / Warnung vor ‚zwielichtigen‘ Demonstranten in Bonn / Kohl: Zwei verschiedene Welten in der SPD “, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10. Oktober 1981. © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt.