Kurzbeschreibung

Kurz vor der dritten Direktwahl zum Europäischen Parlament im Juni 1989 wird in diesem Beitrag harte Kritik an den Entscheidungsmechanismen der EG geübt, bei denen laut des Verfassers das Parlament eine geringe, Eurokraten dafür aber eine wesentliche Rolle spielten. Während andere Mitgliedstaaten prominente Politiker nach Brüssel delegierten, was wiederum den nationalen Interessen nütze, diene in der Bundesrepublik eine Abberufung nach Brüssel oft als Abstellgleis für Politiker.

Demokratiedefizit (5. Juni 1989)

Quelle

„In Brüssel vordemokratische Zustände“

Eine gewaltige Wirtschaftsmacht ist die EG geworden, und mit dem Binnenmarkt 1992 wird sie noch imposanter -- Amerikaner und Japaner fürchten die „Festung Europa“. Doch nicht die Bürger oder die von ihnen gewählten Politiker haben in Brüssel das Sagen, sondern Heerscharen nationaler und europäischer Beamter. Die Europaparlamentarier, die am 18. Juni gewählt werden, haben in der Gemeinschaft wenig zu melden, die Wirtschaftsbosse umso mehr.

Verblendet waren sie und ewig miteinander verfeindet, verurteilt schienen sie zu aberwitzigen Glaubenskämpfen und mörderischen Eroberungskriegen – zur systematischen, selbstverschuldeten Selbstzerstörung.

Doch nun zeigen sich die Europäer plötzlich in Hochform. Ein Europa der Superlative tritt auf und stellt sich zur Wahl: Wenn Mitte Juni die 243,7 Millionen wahlberechtigten Bürger zwischen Faro im Süden Portugals und dem dänischen Skagen, zwischen Galway in Irland und Samos in Griechenland aufgerufen sind, ein gemeinsames Parlament zu wählen, dann präsentiert sich die Gemeinschaft so machtvoll wie nie zuvor in ihrer nunmehr 32jährigen Geschichte. 320 Millionen Konsumenten können ein Inlandsprodukt von acht Billionen Mark ausgeben. Weltmeister beim Importieren, Spitzenklasse im Exportieren. Und alles soll noch besser, größer, schöner werden, wenn am 31. Dezember 1992 im Binnenmarkt Europa die Grenzen fallen.

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Die vierte Europawahl, die dritte direkte, die erste in der auf zwölf Staaten gewachsenen Gemeinschaft, ist zugleich die erste, die unter politischer Hochspannung abläuft. Wie mächtig wird die neue Internationale der europäischen Ultrarechten am 19. Juni dastehen? Wie geschrumpft Bonns Helmut Kohl?

Wer aber bestimmt in diesem Europa, das nach der Prognose des Kanzlers „in zehn Jahren nicht wiederzuerkennen sein wird“? Wer entscheidet über Normen, Verordnungen und Richtlinien, die den Alltag der EG-Bürger fortwährend tief verändern, in die Produktion von Industriekonzernen und mittelständischen Betrieben eingreifen, den Handel kanalisieren, die Währungen koordinieren?

Nicht die am 18. Juni gewählten Volksvertreter aus rund 160 Parteien, nicht mal die großmächtigen Staats- und Regierungschefs, die ihre viel zu zahlreichen Gipfel zelebrieren. Vielmehr prägen Tausendschaften von Beamten aus den Nationalstaaten wie aus der Europa-Metropole Brüssel das Gesicht des künftigen Europa, setzen europäisches Recht. Richtlinien und Verordnungen werden von Beamten vorgeschlagen, von Beamten verhandelt, von Beamten entschieden: das neue Europa in den Händen einer der ältesten Mächte des alten Kontinents – der Bürokratie.

Die Brüsseler EG-Kommission mit ihren 17 Kommissaren und 22 Generaldirektoren ist die einzige Behörde der westlichen Welt, die das Recht zur Gesetzesinitiative hat, ohne dazu demokratisch legitimiert zu sein. Der Ministerrat, das oberste Entscheidungsorgan der Gemeinschaft, gibt nur allgemeine Leitlinien oder Rahmenbedingungen vor – der Vollzug im Detail liegt bei den Eurokraten.

Wenn die Fachminister aus den zwölf Hauptstädten im Brüsseler Ratsgebäude Charlemagne über eine neue Direktive abstimmen, dann geht es ihnen meist wie der ehemaligen Bonner Gesundheitsministerin Rita Süssmuth. Sie fühlte sich in der EG-Hauptstadt degradiert – zur „Sprechmaschine wohlmeinender Beamter“.

Von links flüsterte der stellvertretende deutsche EG-Botschafter auf sie ein, von rechts soufflierte ihr ein hochrangiger Fachbeamter. Hinter sich wußte sie mindestens vier Ministeriale, jederzeit auf dem Sprung, ihr die komplizierten Sachverhalte zu erläutern und mit taktischen Ratschlägen zu dienen. Auf dem Tisch die schriftlichen Regieanweisungen, ihr Sprechzettel, der nicht nur den Verlauf der Sitzung vorschrieb, sondern sie auch präzise anwies, zu welchem Punkt der Tagesordnung sie was zu sagen hatte.

Demokratische Kontrolle findet in diesem imposanten Verbund der westeuropäischen Demokratien nicht statt. Die Europaparlamentarier dürfen zwar ihre Meinung zu einer neuen Richtlinie kundtun. Doch weder Rat noch Kommission sind verpflichtet, das parlamentarische Mehrheitsvotum auch zu berücksichtigen.

Zu jenen Büros, in denen die Gemeinschaft ihre für alle bindenden Richtlinien und Verordnungen erläßt, etwa über Umweltnormen und Sicherheitsstandards, über die gegenseitige Anerkennung von Hochschuldiplomen oder die Harmonisierung der Steuern, haben die Abgeordneten keinen Zutritt.

Als die sozialdemokratische Umweltexpertin Beate Weber einmal ein Go-in zum Rat der Fachminister wagte, wurde sie freundlich, aber bestimmt wieder hinauskomplimentiert.

Denn im Rat ist die Exekutive zugleich die Legislative, verabschiedet die Ministerialbürokratie mit ihren Ministern oder Staatssekretären an der Spitze die EG-Gesetze ohne störende Mitwirkung der Parlamente.

Nur einen Bruchteil der neuen Verordnungen nehmen die Minister bei ihren Ratstagungen überhaupt zur Kenntnis. 80 Prozent der Vorschriften werden in 150 Arbeitsgruppen unter den Beamten des Rates ausgehandelt und im Ausschuß der EG-Botschafter, einem Gremium von Spitzendiplomaten, verabschiedet.

Die Eurokraten – das sind nicht nur die 12 000 Beamten der Kommission, die den Haushalt der Gemeinschaft verwalten, die Ausführung der erlassenen Normen überwachen, neue Verordnungen und Abkommen entwerfen.

Die Eurokraten – das sind auch die rund 2000 Bediensteten des Ratssekretariats, die für den organisatorischen Ablauf Dutzender Konferenzen der verschiedenen Ministerräte sorgen und die Arbeitsgruppen betreuen sowie der halbjährlich wechselnden Präsidentschaft des Rates – derzeit sind es die Spanier – zuarbeiten.

Die Eurokraten – das sind schließlich die Divisionen nach Brüssel anreisender nationaler Beamter, die hinter den verschlossenen Türen des Ratsgebäudes Charlemagne derzeit mit ihren Brüsseler Kollegen um die Gestalt des gemeinsamen Binnenmarktes feilschen.

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Die Protokolle der Ratssitzung sind so „geheim“, daß noch nicht einmal die Abgeordneten des Europaparlaments sie zu lesen bekommen. „Wie sollen bei diesem Verfahren“, fragt der Sozialdemokrat Thomas von der Vring, „die Entscheidungen überhaupt kontrolliert werden?“

In Brüssel herrschen, krittelt auch der Bonner Oppositionsführer Hans-Jochen Vogel, „vordemokratische Zustände“. Wenn Europas Bürger im Juni wählen, dann entscheiden sie nur über die Zusammensetzung des relativ machtlosen Straßburger Parlaments, nicht aber über die Politik der Gemeinschaft. Die wird in der Kommission, der EG-Verwaltung, entworfen, die in Bonn wie in Paris jahrzehntelang als Hort außergewöhnlicher Ineffizienz galt.

Es war der Franzose Jacques Delors, für Kanzler Kohl „ein Europäer mit ungeheurem Hintergrund, ein Mann mit Visionen und Engagement“, der die lähmende Eurosklerose beendete. Indem er seinen Beamten ein neues Sendungs- und Selbstbewußtsein vermittelte, festigte er freilich auch die ohnehin schon allumfassende Herrschaft der Bürokratie.

Er brachte die hoch frustrierten, hochbezahlten Bürokraten in der Kommission in Schwung und beendete abrupt den Schlendrian der EG-Behörde. Er preßte die Landwirtschaftsminister zu kräftigen Einschnitten bei den Preis- und Abnahmegarantien für die Agrarprodukte. Und er überredete die Regierungschefs der zwölf Mitgliedstaaten zu einem neuen Finanzierungskonzept der Gemeinschaft, um den ewig defizitären Haushalt zu sanieren.

Sein größtes Verdienst aber war es, der Wirtschaftsgemeinschaft wieder den Sinn für politisches Geschäft gegeben zu haben, das schon ihre Gründungsväter 1955 inspiriert hatte: die Vision von einem nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch zusammengehörenden Europa ohne innere Grenzen.

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Anders als die Bundesregierung, die die Brüsseler Kommission seit jeher als Endlagerungsstätte für abgeschlaffte Politiker und zweifelhafte Bürokraten nutzte, legte die französische Regierung stets Wert darauf, möglichst qualifiziertes Personal in die EG-Zentrale zu entsenden. Schließlich gibt es in der europäischen Zentrale nationale Interessen zu verteidigen.

Auch die Briten betreiben eine gezielte Personalpolitik und besetzen mit Vorliebe einflußreiche Positionen in den Forschungsabteilungen, wo sich inzwischen Englisch als Amtssprache durchgesetzt hat.

Griechenland und Luxemburg lösten ihre schwachen Kommissare ab, schickten mit dem Karriere-Diplomaten Jean Dondelinger und der Industrieministerin Vasso Papandreou – so die Einschätzung in der Kommission – „erstklassige Profis“.

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Quelle: „In Brüssel vordemokratische Zustände“, Der Spiegel 23/1989, 5. Juni 1989, S. 136–41. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung. Online verfügbar unter: https://www.spiegel.de/politik/in-bruessel-vordemokratische-zustaende-a-03d36731-0002-0001-0000-000013493198