Quelle
[…] Wer auch immer an der Spitze Frankreichs steht, sieht sich veranlaßt, die langfristigen strategisch-politischen Interessen seines Landes zu analysieren. Frankreichs Interesse an Deutschland lag und liegt in einer engen Einbindung der Deutschen in einen größeren (west-) europäischen Verbund und deshalb in einer engen Kooperation zwischen der französischen und der deutschen Politik. Dies ist das kardinale Motiv für Frankreichs europäische Integrationspolitik seit Jean Monnet und Robert Schuman – und nicht etwa ein allgemeiner Europa-Idealismus, den es daneben auch gibt. Dieses kardinale Motiv gewinnt seit der deutschen Vereinigung zusätzlich an Gewicht; denn inzwischen übertrifft die Einwohnerzahl Deutschlands diejenige Frankreichs um bald die Hälfte. Sofern nicht von deutscher Seite ganz außerordentliche Fehler gemacht werden, wird jeder französische Präsident dieses strategische Motiv Frankreichs verfolgen. Das gilt mit hoher Wahrscheinlichkeit auch für Jacques Chirac.
Die enge Zusammenarbeit mit Frankreich und die Selbsteinbindung Deutschlands liegen aber auch in unserem eigenen kardinalen Interesse. Die politische Klasse Deutschlands stimmt in diesem lebenswichtigen Punkt mit der politischen Klasse Frankreichs überein. Wer auf die letzten zwei Jahrhunderte und auf vier Kriege zwischen Franzosen und Deutschen zurückblickt – von Napoleon bis zu Hitler –, der muß erkennen: Die Aufrechterhaltung dieser Übereinstimmung ist der Garant für den Frieden zwischen den beiden Völkern.
Gleichwohl wird es über wichtige Fragen immer wieder auch zu Meinungsverschiedenheiten zwischen Paris und Bonn oder dann Berlin kommen. Sie können das Verhältnis zu den USA oder Rußland betreffen oder die Konflikte auf dem Balkan. Es wird Differenzen geben über die „Südpolitik“ der EU, über das Gewicht Italiens, Spaniens, Portugals, für Frankreich wichtigere Handelspartner als für uns, und über die Mittelmeerpolitik. Andererseits haben wir Deutsche wegen unserer unmittelbaren Nachbarschaft ein deutlich größeres Interesse an der Einbeziehung Polens und Tschechiens in die EU. Auch im Blick auf die Institutionen, die Finanzierung der EU und die Agrarpolitik werden Spannungen nicht ausbleiben. Wenn aber Deutsche und Franzosen ihr gemeinsames Interesse im Auge behalten, so werden sie diese Differenzen überbrücken.[1]
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Mein mit Abstand engster französischer Freund bleibt natürlich Valéry Giscard d’Estaing. Wir haben von Anfang an nicht nur ökonomisch weitgehend übereingestimmt, sondern ebenso in unserer zweigleisigen Strategie gegenüber der Sowjetunion – einerseits den Willen und die Fähigkeit zur gemeinsamen Verteidigung zu demonstrieren, aber andererseits zugleich unsere Bereitschaft zu Verhandlung und Détente. Vor allem hatten wir von Anfang an – nämlich seit wir beide im Mai 1974 in die Chefpositionen in unseren Ländern eingerückt waren – übereingestimmt in der strategischen Vernunft der in überragenden Interessen unserer beiden Nationen begründeten Zusammenarbeit und der stetigen gegenseitigen Annäherung zwischen Deutschland und Frankreich wie ebenso der Einbindung beider Länder in die Europäische Gemeinschaft (heute: Europäische Union).
Für uns beide war die Summe der geschichtlichen Erfahrungen beider Nationen miteinander der ausschlaggebende Schlüssel zur Erkenntnis dieses vitalen Interesses unserer beiden Nationen. Aus französischer Sicht mußte damit gerechnet werden, daß Deutschland – damals noch geteilt – sich in einem nicht allzu langen Zeitraum zu der industriell, finanziell und monetär dominierenden Macht innerhalb Europas entwickeln würde. Der seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hergebrachte Argwohn sehr vieler Franzosen gegen Deutschland mußte daraus zwangsläufig auf einen späteren deutschen Willen auch zur politischen Dominanz schließen. Schließlich waren von 1870 bis 1945 dreimal deutsche Truppen in Frankreich eingefallen und hatten große Teile des Landes besetzt; in den beiden Weltkriegen war Frankreich entscheidend auf das Zusammenwirken mit Amerika, England und Rußland/Sowjetunion angewiesen, um wenigstens bei Kriegsende auf der Seite der Sieger zu sein. Sollte in der Zukunft vermieden werden, daß diesen drei Akten der französisch-deutschen Tragödie ein vierter Akt hinzugefügt wurde, so verlangte das französische Interesse eine politische und ökonomische Einbindung Deutschlands. Dabei wußten die strategisch denkenden Franzosen natürlich, daß eine dauerhafte Einbindung Deutschlands nur dann zu erreichen ist, wenn sich auch Frankreich auf gleiche Weise einbindet. Von dieser Erkenntnis war Jean Monnet ausgegangen; Charles de Gaulle hatte sie, wenn auch zunächst sehr zögerlich, schließlich akzeptiert; für Giscard d’Estaing dagegen war sie selbstverständlich.
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Valéry und ich waren visionären oder umstürzend neuen Entwürfen sehr abgeneigt – und erst recht jeglichen phrasenhaften Erklärungen darüber. Statt dessen bevorzugten wir in aller Regel ein schrittweises sachliches Vorgehen. Auf diese Weise gelang es uns, an einer Reihe wichtiger Fortschritte mitzuwirken oder sie in Gang zu setzen – was die anderen Regierungen in Europa dazu veranlaßte, etwas mokant von der Achse Paris-Bonn zu sprechen.
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Das Schwergewicht der gemeinsamen Politik durch Valéry Giscard und mich lag indessen innerhalb der Europäischen Gemeinschaft. So konnten Valéry und ich unsere Kollegen in den Regierungen der übrigen Mitgliedsländer dazu gewinnen, oberhalb der wuchernden Vielzahl von Ministerratssitzungen der EG den Europäischen Rat der Regierungschefs einzurichten. Inzwischen gehen vom Europäischen Rat alle entscheidenden Direktiven aus, damit ist das Gewicht der Brüsseler Verwaltung und ebenso der nationalen Bürokratien zunächst erheblich zurückgedrängt worden. Allerdings ist es beim Europäischen Rat ähnlich wie bei den Weltwirtschaftsgipfeln inzwischen leider wieder zu einer Verwässerung durch die vorbereitende Beteiligung der Brüsseler wie der nationalen Bürokratien und durch die zu große Nähe der Fernsehreporter gekommen.
Ebenso haben Giscard und ich unsere Kollegen von der Notwendigkeit überzeugen können, dem Parlament der EG dadurch eine echte demokratische Legitimität zu verschaffen, daß seine Abgeordneten direkt von den Bürgern gewählt wurden, anstatt, wie bis dato, von den nationalen Parlamenten delegiert zu werden. Es wird jedoch noch einige Jahre dauern, bis dieses Parlament lernt, seine politischen Kontrollfunktionen voll auszuschöpfen.
Unser schwierigstes gemeinsames Projekt war die Schaffung des Europäischen Währungssystems (EWS)[2]. Es diente mehreren Zwecken zugleich. Zum einen war uns klar, daß ein gemeinsamer Markt bei einem Dutzend verschiedener Währungen und mehreren Dutzenden von häufig sich ändernden Wechselkursen zwischen den Währungen der EG-Staaten die großen wirtschaftlichen und Wohlstandsvorteile, die von einem gemeinsamen Markt erwartet werden, nur sehr eingeschränkt ermöglichen kann. Zum anderen war uns deutlich, daß die Mehrzahl der europäischen Währungen allein auf sich gestellt den Stürmen der Weltwirtschaft, der weltweiten Währungsunordnung und speziell der Schwäche des amerikanischen Dollars nicht Paroli bieten kann. Und schließlich hatten wir drittens die spätere Schaffung einer gemeinsamen europäischen Währung im Auge, die zur inneren Festigung der Europäischen Gemeinschaft (heute EU) unausweichlich notwendig ist.
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Anmerkungen
Quelle: Helmut Schmidt, Weggefährten. Erinnerungen und Reflexionen. Berlin, 1996, S. 257–69.