Kurzbeschreibung

Eine Beobachterin aus dem Westen beschreibt die mangelnde Arbeitsmoral in der DDR, die sich aus dem Fehlen jeglicher Arbeitsanreize erklären würde. Das Desinteresse der Bürger an Arbeit schade nicht nur der ostdeutschen Wirtschaft, sondern fungiere auch als Ausdruck stillen Protests gegen ein im Kern verrottetes System, in dem sich persönliche Einsatzbereitschaft nicht lohne.

Der passive Widerstand der ostdeutschen Bevölkerung aus der Sicht einer Beobachterin aus dem Westen (1982)

  • Irene Böhme

Quelle

Am Eingang des Restaurants ein Schild: „Bitte warten Sie, Sie werden plaziert“. Vor dem Schild die Gäste, sie ordnen sich diszipliniert zur Schlange. Hinter dem Schild ein gähnend leeres Lokal. Niemand kommt, die Gäste einzuweisen. Kein Gast wagt, sich an einen Tisch zu setzen, er würde nicht bedient. Seit Jahren ist das Sitte in der DDR. Als kürzlich die Schilder entfernt wurden, blieben die Gäste weiterhin verunsichert am Eingang stehen, wartend auf ein Zeichen des Personals. Ein eingeschliffener Reflex. Der Bürger weiß, er kann von einem anderen Werktätigen keine Dienstleistung erzwingen. Er selbst wäre auch nicht dazu bereit. Es gilt das ungeschriebene Gesetz, nicht der Kunde, sondern der Arbeitende ist König. In der Präambel des „Gesetzbuches der Arbeit“ steht: „Aus der Last der unfreien Arbeit für schmarotzende Ausbeuter wurde die freie Arbeit der Werktätigen für sich selbst und die Gesellschaft.“ Das wird wörtlich genommen. An erster Stelle die freie Arbeit für mich selbst, an zweiter die für die Gesellschaft. Obwohl vielen der Text dieses Gesetzes nicht geläufig ist, handeln alle nach dieser Auslegung.

Der Kellner läßt die Tische unbesetzt, stellt grundlos auf einige das Schild „Reserviert“, bedient langsam und mürrisch. Am nächsten Tag versorgt er die Gäste flott, bedient zuvorkommend und freundlich. Im ersten Fall hat er keine Lust auf Gäste. Es ist ihm wichtiger, mit den Küchenmädchen zu plaudern, mit seinen Kollegen die neuesten Fußballergebnisse durchzugehen oder die Zeitung zu lesen. Im zweiten Fall hat der Kellner Lust auf Gäste. Es macht ihm Spaß vorzuführen, wie gut er sein Handwerk beherrscht. Sein persönliches Wohlbefinden ist ihm wichtiger als Trinkgeld.

Das Kellner-Beispiel ist exemplarisch. Es gilt für das ganze Land. Am Gemüse-Konsum hängt das Schild „Wegen Warenannahme geschlossen“ – die Verkäuferinnen sind unterwegs, um Salamanderstiefel zu ergattern. An der Kasse des Supermarkts wächst die Schlange – die Verkäuferin bespricht mit einer Freundin ihr Liebesleid. Auf dem Wohnungsamt sind zur offiziellen Besuchszeit alle Bürotüren zugesperrt, hinter einer erschallt Gelächter, man feiert den Geburtstag eines Kollegen. Allerorts gilt die Devise: Privat geht vor Katastrophe. Beschwert sich ein Kunde, hat das kaum Folgen für die Kritisierten. Dem aufgebrachten Bürger wird versichert, man habe „seine Kritik im Kollektiv ausgewertet“. Im Normalfall beschränkt sich die Auswertung auf einen Satz: „Übertreib’s nicht, Wilhelm.“ Kein Vorgesetzter wird sich wegen solcher Bagatellen mit seinen Mitarbeitern anlegen. Wagt er es, muß er damit rechnen, daß der Ermahnte sofort kündigt. Beschwert sich ein Kunde, hat das meist Folgen für ihn. Er läßt sich besser an diesem Ort nie wieder blicken, denn er hat versucht, seinesgleichen „in die Pfanne zu hauen“. Das ist eine hohe Form der Beleidigung und wird mit Verachtung geahndet. In einem Fahrradladen in Halle verkaufte eine Verkäuferin jahrelang grundsätzlich nichts aus dem Lagerraum. Sie hatte keine Lust, nach hinten zu gehen, womöglich noch auf die Leiter zu steigen. Lagen die Artikel nicht griffbereit im Verkaufsraum, gab es sie nicht. Die Kunden verwunderte das kaum, sie sind daran gewöhnt, die einfachsten Dinge nicht zu bekommen. Nach zwei Jahren fielen der HO-Zentrale der überhöhte Lagerbestand und der niedrige Umsatz auf. Die Verkäuferin wurde – ein seltener Fall in der DDR – fristlos entlassen.

Das Gefühl des DDR-Bürgers für Zeit ist von besonderer Art. Das russische „wsjo budjet“, es wird schon werden, ist zur Mentalität geworden. Das amerikanische „time is money“ kommt niemand in den Sinn. Langjährige Erfahrung lehrt, daß es in der zentral geleiteten Wirtschaft vollkommen sinnlos ist, sich bei der Arbeit „zu überschlagen“. Arbeitet man schnell, ist das Material schnell verbraucht, es stoppt die Zulieferung, es entstehen Wartezeiten. Schafft man sein Pensum vorfristig, muß man dennoch die Arbeitszeit absitzen. Die herausgearbeitete Sekunde schlägt auf dem persönlichen Konto nicht zu Buche. Deshalb hat sich eingebürgert, Arbeit erst einmal zu horten, dann läßt sich besser mit ihr umgehen. Variante eins: Die überdimensional angehäufte Arbeit wird termingerecht erledigt, das beweist, wie tüchtig man ist, es winkt die Prämie. Variante zwei: Die überdimensional angehäufte Arbeit wird durch Überstunden oder Sonderschichten geschafft, das bringt Zuschläge und Prämien. Variante drei: Die überdimensional angehäufte Arbeit wird überhaupt nicht geschafft, man fordert Aushilfskräfte oder zusätzliche Planstellen, also weitere Arbeitskräfte an. Alle drei Arten, mit Arbeit umzugehen, bringen dem Werktätigen Vorteile. Alles schnell zu erledigen und dann herumzusitzen, Wartezeiten zu einem Zeitpunkt zu haben, zu dem man sie nicht für Persönliches nutzen kann, widerspricht dem „sozialistischen Gang“. Lehrlinge, wenn sie in die Praxis kommen, lernen als erstes: „Hier geht alles seinen sozialistischen Gang.“ Eben „wsjo budjet“, es wird schon alles werden – Rußland ist groß und der Zar ist weit.

[]

Quelle: Irene Böhme, Die da drüben. Sieben Kapitel DDR. Berlin (West), 1982, S. 28 ff. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung der Autorin. Der Text ist abgedruckt in Christoph Kleßmann und Georg Wagner, Hrsg., Das gespaltene Land. Leben in Deutschland, 1945–1990. München, 1993, S. 40709.

Der passive Widerstand der ostdeutschen Bevölkerung aus der Sicht einer Beobachterin aus dem Westen (1982), veröffentlicht in: German History in Documents and Images, <https://germanhistorydocs.org/de/zwei-deutsche-staaten-1961-1989/ghdi:document-221> [01.10.2024].