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Also: die mitteldeutsche Nischengesellschaft. Nur wenn es gelingt, sie zu beschreiben, kann man die inneren, die verdeckten, maßgeblichen Wirklichkeiten der DDR ins westdeutsche Bewußtsein heben. Nach der parteiamtlichen Lesart der SED von dem von ihr beherrschten Staat gibt es sie nicht, die Nischen des Privaten, in denen sich die Sachsen und Mecklenburger, die Brandenburger und Thüringer eingerichtet haben. Der, wie die Propaganda sagt, immer höhere materielle und kulturelle Lebensstandard der Bürger und Bürgerinnen der DDR ist, nach derselben Propaganda, eingebettet in Sein und Bewußtsein einer entwickelten sozialistischen Gesellschaft, die auf dem langen Weg zum Kommunismus ist. Läßt man einmal die Zukunft auf sich beruhen, so ist die Darstellung der SED natürlich gar nicht falsch: Die privaten Lebensräume der Mitteldeutschen sind einbezogen in die von der kommunistischen Staatspartei vorgegebenen gesellschaftlichen Bedingungen. Die Nischen existieren nicht außerhalb, sondern sie sind Nischen innerhalb des Sozialismus der DDR.
Der Unterschied ist wichtig: In den privaten Winkeln sind im Laufe der Jahrzehnte mehr Fakten, Vorstellungen und Maßstäbe des real existierenden Sozialismus heimisch geworden, als allen Nischenbewohnern immer bewußt ist. Es ist das Wort: Nische, das den Genossen der SED unbehaglich ist, das ihr Weltbild einschwärzt. In dem Wort schwingen mit – völlig zutreffend für den Zustand in der DDR, den ich damit benenne – ein Rückzug ins Private, die Befriedigung individualistischer Bedürfnisse, die vom Kollektivismus nicht ausreichend geleistet wird. Die privaten Lebensräume, als tiefe Nischen ausgestaltet, sind Freiräume von der herrschenden Lehre. Damit sind sie keineswegs auch grundsätzlich Widerstandsnester. Im Gegenteil: Sie haben eine Ventilfunktion. Es ist geradezu ein Kriterium der mitteldeutschen Nischen, daß ihre Inhaber, ihre Einwohner sich durch die Möglichkeit der Nische, des individuellen Glücks im Winkel mit dem Regime ihres Staats arrangiert haben. Wer sich mit ihm überwirft, tritt aus der Nische heraus.
Der Kummer der gläubigen Genossen der SED – manche täuschen ihre Gläubigkeit dem westdeutschen Gesprächspartner auch nur vor – hat als Kern die für sie traurige, bittere Einsicht, daß ein Nischenbewohner vom neuen Menschen weit entfernt ist. In der privaten Höhle wohnt der schon erwähnte alte Adam mit seiner Sippschaft, der schlau genug ist, gerade soviel von Partei und Staat verlangtes, genehmigtes Engagement zu demonstrieren, daß ihm der Rückzug ins Private offensteht. Das Arrangement zwischen ihm und dem Regime ist, wie könnte es anders sein, ein stillschweigendes. Ich denke, daß sicherheitsbewußte, illusionslose Genossen die allgemeine Druckminderung, die sich vom Nischendasein auf die Öffentlichkeit überträgt, nützlich finden. Die idealer Gesinnten aber wollen die Freiräume nicht sehen, sie leugnen die Existenz der Nischen. Nur Zyniker können sich an ihrem nagenden Zweifel, ob es sie vielleicht doch gebe, delektieren.
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Also: Was ist eine Nische in der Gesellschaft der DDR? Es ist der bevorzugte Platz der Menschen drüben, an dem sie Politiker, Planer, Propagandisten, das Kollektiv, das große Ziel, das kulturelle Erbe – an dem sie das alles einen guten Mann sein lassen, Gott einen guten Mann sein lassen und mit der Familie und unter Freunden die Topfblumen gießen, das Automobil waschen, Skat spielen, Gespräche führen, Feste feiern. Und überlegen, mit wessen Hilfe man Fehlendes besorgen, organisieren kann, damit die Nische noch wohnlicher wird. Wie schon gesagt, nichts Besonderes, sondern wie bei uns zu Haus, wenn man anstelle der Überlegung, wie etwas zu besorgen sei, das Rechnen setzt, welche weitere Ratenzahlung noch möglich wäre. Diese Einsicht bringt uns hinter unsere Klischees vom anderen deutschen Staat. Entgegen den Vorstellungen, die der totalitäre Antikommunismus, nein, darüber hinaus: die die irrationalen Ängste vor linken Ideen generell in unserem bürgerlichen Mehrheitsgemüt möglich gemacht haben – entgegen diesen Vorstellungen ist das private Nischendasein die vorherrschende Existenzform in der DDR. Die mit unseren Ängsten wuchernde westliche Agitation hat uns die – immer bedrückenden, oft bösen, katastrophalen – Ausnahmen davon als Regel des Lebens in Mitteldeutschland vorgegaukelt. Die große Zahl der Ausnahmen, die schrecklich große Zahl erleichtert ihr das.
Woraus die Ausnahmen – also die Existenzen, die aus den Nischen hinausdrängen, hinausfallen oder hinausgedrängt werden – entstehen, ist mit einem Grund nicht zu erklären. Ganz gewiß resultieren sie nicht aus den Bedingungen des Systems allein. Erst der Zusammenstoß zwischen individuellen Gegebenheiten, vielfältigen, inneren wie äußeren, und der Meinung der Mächtigen, die, je nach Konfliktanlaß in dem, was unter bestimmten Umständen nicht länger geduldet werden könne, öfter einmal auch die Mehrheit in den Nischen auf ihrer Seite haben, produziert viel Unglück, manchmal Tragik. Ich frage mich, wie viele Ausnahmen, wie viele Ausgrenzungen wir in unserem System kennenlernen könnten, wenn umständehalber die Mächtigen und ihre Mehrheit auch in der Bundesrepublik gewisse Abweichungen von der Verhaltensnorm nicht mehr als erträglich ansähen. Meine Skepsis gegenüber dem eigenen Nest – sie gehört übrigens zu den Ästen, die es stützen – habe ich im ersten Kapitel dieses Buches begründet. Sollte bei bestimmten Zuspitzungen der westdeutschen Verhältnisse in den kommenden Jahren eintreten, was völlig auszuschließen ich mich nicht getraue, so würde sich ja auch nur die Zahl der Ausnahmen vergrößern: denn ganz ohne Ausschlüsse aus den westdeutschen Nischen sind wir doch niemals gewesen. Nein, ich spreche nicht von den Terroristen. Ich meine, beispielsweise, Lehrer, die anecken; Leute, die Zivildienst leisten, in ihrem sozialen Umfeld von normalen Bundesbürgern; Lehrlinge, die aufmucken. Ach, nun soll der entscheidende Unterschied darin liegen, wie wir mit unseren Ausnahmen von der mehrheitlichen Regel umgehen und wie die DDR mit ihren umspringt? Ist das nicht ein Unterschied, den nur die jeweils Betroffenen nachmessen dürfen?
Die mitteldeutschen Nischen sind, wie überall anderswo auch, sehr vielfältig in ihren Formen. Sie sind – in den vergangenen Jahren stark zunehmend – die Lust am Besitz eines Automobils; Stoffpüppchen am Spiegel, umhäkelte Lautsprecherboxen, manchmal Zierkissen, mit Sprüchen bestickt, auf der hinteren Sitzbank; einmal habe ich einen Aufkleber im Rückfenster eines Trabant, des kleinsten Wagens drüben, gesehen; „Nie wieder Mercedes.“ Oder die Nischen bilden sich in der regelmäßigen Versenkung in Hausmusik; nach einem so gleichbleibenden Ritual vollzogen: den herben ungarischen Weißwein „Grauer Mönch“ und belegte „Schnittchen“ zu Beginn, daß der Gast vermuten möchte, so spielten sie nun schon seit dreißig Jahren einmal im Monat. Hoher Favorit unter den privaten Winkeln ist der Schrebergarten, wenn irgend möglich mit Wohnlaube. (Vor allem an den Rändern Berlins ist diese Holzbude des Glücks, ganz unter sich zu sein, seit bald hundert Jahren so populär, daß meine Mitarbeiter 1974, als wir die bundesrepublikanische Mission bei der DDR errichteten, den abhörsicheren Raum unserer Ständigen Vertretung „Laube“ tauften.) Zur Erntezeit sind die Wege in den Laubenkolonien – alte Sehnsüchte im Namen: Daheim, Eintracht, Sonnenland – bevorzugte Promenade jener Mitmenschen, die keinen Garten besitzen: Blumen, Früchte, Gemüse sind in Eimern und Körben am Gartentor aufgebaut und werden privat gehandelt.
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Zurück in die Nischen der DDR. Das eigene Automobil, Hausmusik, Schrebergarten mit Wohnlaube und Sommerfest. Auch Boote sind Nischen; Kanus, Segelboote, Motorboote, die bei den an Beziehungen Bessergestellten erstaunlich groß sein können; vor allem in Brandenburg und Mecklenburg unterwegs, von den natürlichen Gegebenheiten begünstigt, aber auch, flußauf und flußab, auf der Elbe bei Dresden. Vereinigungen für das Singen von Volksliedern, das Spielen von Handharmonikas, das Studium von Heimatkunde sind private Abseiten.
Bei den landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften gehen mehr Leute auf die Jagd oder zum Reiten, als wir es gerade bei diesen Beschäftigungen diesseits der Mauer für möglich halten. Nischen sind manche Wohnungen, in denen alte Möbel und andere Antiquitäten gesammelt werden, bei deren Erwerb man dem devisenhungrigen staatlichen Antiquitätenhandel zuvorkommen konnte.
Eine der schönsten Nischen ist die eigene Datsche, wie man – mit „e“ am Ende – das russische Wort „datscha“ gewöhnlich ausspricht: die Weiterentwicklung der Gartenlaube zum Sommerhaus am Waldrand oder Seeufer, möglichst winterfest ausgebaut. Westdeutsche Besucher empfinden es zunächst als eine Ironisierung, wenn die mitteldeutschen Gastgeber ihr Wochenendhäuschen eine Datsche nennen, bis sie merken, daß dies ein ganz selbstverständlicher Sprachgebrauch geworden ist. Manchen Westdeutschen fällt dann ein, daß sie in ihrem Teil des einst gemeinsamen Vaterlands genau das gleiche vollzogen haben: ohne zu stocken, sprechen sie von ihren Bungalows. Jüngste Lehnwörter eines geteilten Volks, beide gänzlich eingedeutscht, an denen sich der aktuelle Stand der Weltgeschichte ebenso ablesen läßt wie an den Speisekarten beiderseits der Elbe: Was mit den Hot dogs an bundesrepublikanischen Würstchenständen die vorderste Grenze unserer Vormacht markiert, das ist in der DDR mit der Soljanka, einer ukrainischen Bauernsuppe, ausgedrückt, die in den Dorfgasthäusern von Rügen bis zum Vogtland zur Tagessuppe geworden ist.
Eine besonders wichtige tiefe Nische sind der Freundeskreis und die Gespräche, die in ihm geführt werden – ein Fels in der Nischenlandschaft. Die Geselligkeit im kleinen Kreis erscheint auf den ersten Blick doppelgesichtig. Einerseits hat sie bisher keinen Anschluß gefunden an die scheinbare Beiläufigkeit des Nur-schnell-auf-einen-Drink-Kommens, aus der der westdeutsche Mittelstand inzwischen bereits wieder mit Hilfe der vom Handel angebotenen Beigaben eine neue Umständlichkeit gemacht hat. Wenn drüben eingeladen wird, dann geschieht es zu Kaffee und Kuchen oder zum Abendbrot, umfänglichen Veranstaltungen, die in hergebrachten bürgerlichen Formen stattfinden. Andererseits ist es gang und gäbe, wirklich nur hereinzuschauen, um die Beine auszustrecken und bei einem Schluck Wodka zusammenzusitzen.
Schließlich kommt man dahinter, daß eben dies – beisammensitzen, sich austauschen, Gespräche führen – auch der vorherrschende Sinn der förmlichen Einladung ist: Das Gastmahl, für die – meist berufstätige – Hausfrau eine größere Mühe als hierzulande, betont nur, feiert nur die Konzentration, die Bedeutung, die man auf das Zusammenkommen verwendet, die man ihm beimißt. Es gibt sowohl weniger Smalltalks als auch intellektuelle Verstiegenheiten, aus denen heraus bei uns die Frage zum strittigen, hitzigen Thema des Abends werden kann, wie viele Engel auf der Spitze einer Stecknadel Platz haben (ein austauschbares Beispiel). Verglichen damit kann ein Gespräch unter Intelligenzlern in der DDR habhafter, immer auch weniger verspielt genannt werden. Sie genieren sich nicht, über Probleme, ihre und allgemeine, ernsthaft zu reden; sie kennen kaum die modische Sorge, aus der schicken Rolle des Understatements herauszufallen; sie werden den Gründen, aus denen sie ihre Probleme wichtig nehmen müssen, gerecht; sie schlagen im Gespräch weniger Pfauenräder. Man nimmt sich mehr Zeit drüben, ist sozusagen langatmiger, weniger abgelenkt, ruhiger im Gestalten von Beziehungen, von Freundschaften, vom Zusammensein. Ein bißchen Bummelantentum, offiziell ein Delikt, durchzieht alle Nischen. Obwohl die sogenannte Verkehrsdichte mit privaten Automobilen in den letzten Jahren stark zugenommen hat, ist es nicht nur in Kleinstädten noch immer ein gewohntes Bild, daß Leute an den Ecken zusammenstehen, um miteinander zu reden, daß sie, ein Kissen unterm Ellenbogen, aus dem Fenster beobachten, was in der Nachbarschaft sich abspielt – ist es vorerst noch so, daß solche Akzente oft stärker sind auf Straßen und Plätzen als der aneinander vorbeirollende Verkehr.
Das größere Beharrungsvermögen der Mitteldeutschen weist sich ebenso wie im geistigen Verhalten auch in Äußerlichkeiten aus. Man besucht nicht nur die hauptstädtische Oper Unter den Linden, sondern auch das Provinztheater mehrheitlich im gedeckten Anzug und feinem, oft langem Kleid. Manche Sitten und Moden übernehmen sie vom Westen mit fünf- bis zehnjähriger Verzögerung: Erst in den letzten Jahren wächst, von den Jugendlichen ausgehend, der Anteil derer, die ohne Krawatte, in Pullover und Jeans zur Operette und Tragödie gehen.
Je mehr vertraute Selbstverständlichkeiten bei der Beschreibung des Privaten ins westdeutsche Bewußtsein treten, um so näher ist, was beschrieben wird, den mitteldeutschen Realitäten. Also Nischen wie überall – aber zwangsläufig, wie ebenfalls in aller Herren Länder, ideell wie materiell von den allgemeinen politischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten der jeweiligen staatlichen, gesellschaftlichen Umwelt mit ausgestattet. Für die Deutsche Demokratische Republik bedeutet das, um zunächst vom Materiellen zu sprechen, daß die privaten Winkel stark abhängig sind von Versorgungsmängeln sowie einengenden Verwaltungsvorschriften: und den Fähigkeiten, die von den Mitteldeutschen nun schon über Jahrzehnte hin ausgebildet worden sind, den Mängeln zu steuern und unter den Vorschriften hinwegzutauchen. Ein dichtes Geflecht von Beziehungen, mittels derer drei- und mehreckige Tauschgeschäfte möglich sind, bis das fehlende Gut an der richtigen Stelle angekommen ist, durchzieht das Privatleben (und gelegentlich auch, von Betrieb zu Betrieb, die Planwirtschaft). Der Besitz von D-Mark und der Zugang, direkt oder vermittelt, zu Feierabend-Brigaden, die schwarz arbeiten, verschönern die Wohnungen und befestigen die Datschen für die kalte Jahreszeit. Ein letztes Wertpapier wird in der DDR noch auf verschlungenen Wegen gehandelt: der Anspruchsschein auf Zuteilung eines Personenwagens; zur fälligen Zeit die Berechtigung verschleiert erworben, verkürzt sich so die vieljährige Lieferfrist. Trinkgelder in einer Höhe, in der sie von Schmiergeldern nicht mehr sicher zu unterscheiden sind – man sagt: ein Pfund wachsen lassen – , beschleunigen Installationen und Reparaturen.
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Der Erinnerungshauch, der drüben vom vertrauten Zusammenspiel der zueinander passenden Häuser und Straßen, der von den unverletzten Dorfenden mit den schmalen, nicht asphaltierten Wegen, die in die Feldmark hinausführen, ausgeht – dieser Erinnerungshauch wirkt oft nachhaltiger als die Zeichen des Verfalls. Die DDR also ein deutsches Freiluftmuseum, das nostalgisch stimmt? Gewiß nicht, obwohl für den westdeutschen Reisenden, dessen Gedächtnis ein paar Bilder aus der Vorkriegszeit mit einschließt, manche brandenburgische Allee und sächsische Elbe-Partie auch in Nostalgie getaucht sind. Für die Menschen drüben, jedoch und natürlich, ist das Land in dem Zustand, der den Besucher gelegentlich an alte, unnennbare Tage erinnert, die Bühne, der Lebensort ihrer Gegenwart: kein Reservat mit künstlich festgehaltenen Gestrigkeiten. Allerdings: Das Sein mitbestimmt das Bewußtsein. Haben die Mitteldeutschen also, bewußt wie unbewußt, einen Teil der sozialistischen Realitäten der DDR sich zu eigen gemacht – und daneben, dazwischen, dahinter in ihren (im Vergleich zu unseren) weniger veränderten, nur älter, schäbiger gewordenen Städten und Dörfern mehr von früher hergebrachte Gewohnheiten und Auffassungen bis heute tradiert, als wir es in Westdeutschland getan haben?
Deutscher geblieben: Was ist das, was soll das sein? Definiert man es zunächst einmal nur als eine stärkere Beharrungskraft, mit der am Vertrauten festgehalten wird und Neues also so gut wie möglich ausgesperrt bleibt, so ergibt sich, daß die jeweiligen Mehrheiten der Deutschen westlich und östlich der Elbe (nicht geographisch, sondern bildlich für die Bundesrepublik und die DDR verstanden) fast unmittelbar nach Kriegsende, jedenfalls Jahre vor den beiden Staatsgründungen, in dieser Hinsicht ihren Unterschied entwickelten: Das Beharrungsvermögen drüben stieg gewaltig an, indes es sich hüben schnell weitgehend verflüchtigte. Für mich drückt sich am deutlichsten aus, was die Mitteldeutschen bewahrten, in dem, was die Westdeutschen preisgaben. Zunächst war es, 1945 und die nächstfolgenden Jahre, noch kein Preisgeben, sondern eine Öffnung, die nach meinem Verständnis zum Besten gehört, zu dem die geschlagenen Deutschen seither imstande gewesen sind: Wer nicht verstockt war, der öffnete sich in den drei westlichen Besatzungszonen – fiebrig fast, glühend vor Neugier, nein: vor Begierde – auch dem, was die Sieger außer Nescafé, Kaugummi und aktiven Zigaretten (nicht aus Kippen gedreht) sonst noch mitbrachten. Jean-Paul Sartre; Thornton Wilder; der kräftige Ableger des britischen Broadcasting-Systems im Nordwestdeutschen Rundfunk – im Rekapitulieren noch schlägt die Stunde Null von damals wieder an. Fruchtbare Illusionen der schönsten Art, Utopien beleben sich, die von Wilders „Kleiner Stadt“ über die Bühnenrampe ins Parkett zu den Zuschauern gelangten: nicht mehr und nicht weniger als überschaubare gute Nachbarschaft, die auch im Unglück andauert; gewöhnliches Menschenmaß; Leben, erfüllt ohne pathetische Überanstrengungen.
Das blieb nicht lange so, was nicht zu verwundern braucht, denn, natürlich, war das, dem wir uns öffneten, war die Welt, die wir nicht gekannt hatten, so, wie sie sich uns nun zunächst erschloß, von den Realitäten abgehoben, war – eben – utopisch, war lebensfremd, unpraktisch. Das ist ebenso unironisch gemeint wie der Hinweis, daß dies – im Geistigen, im Füllen von Kopf und Gemüt – dem entsprach, was gleichzeitig jenseits der Elbe vorging, wo kommunistische Ideale angeboten wurden. Zurück zur Erde kam man im Laufe der Jahre beiderseits des Stroms, der in dieser Zeit zur Grenze in Deutschland wurde. Mit der Restauration wurde in der Bundesrepublik die Öffnung zum Westen handfester, praktikabler, im platten Sinne politischer: Die westdeutsche Mehrheit befriedigte in ihr die Überbau-Bedürfnisse der wirtschaftlichen Explosion.
Aus der Öffnung wurde weithin ein Identitätstausch. Mit den herrschenden Idealen vom Tüchtigen, von den Marktgesetzen, wie in den Konsumgewohnheiten wurden seit den fünfziger Jahren manche, viele Westdeutsche – das findet sich oft unter Konvertiten – sozusagen amerikanischer als die Amerikaner. Es war freilich weniger Wilders Amerika „Unserer kleinen Stadt“ als das „Babbitts“, als das, dem heute Ronald Reagan präsidiert: das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, mit der riesigen Glückslotterie, die dort eine Art Verfassungsrang hat und in der für jeden ein Los ist und die Nieten ein Fingerzeig Gottes sind. Die volle Anwendung solcher Freiheitsideale federten die Westdeutschen zwar durch praktizierten Sozialdemokratismus ab – wer immer regierte, solange es zu finanzieren war –, aber die Wertmaßstäbe und Mentalitäten der USA, wie sie die hiesige Mehrheit begriff, wurden fast ohne Hemmungen kopiert.
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Quelle: Günter Gaus, Wo Deutschland liegt. Hamburg: Hoffmann und Campe, 1983, S. 115–28.