Kurzbeschreibung

In einer Kolumne der liberalen Wochenzeitung Die Zeit denkt einer ihrer Herausgeber über den mangelnden Nationalstolz der Intellektuellen nach, beschreibt ihre schwache Bindung an die Bundesrepublik und spricht sich für die Anerkennung der deutschen Kultur und Sprache sowie für die Auffassung von der Bundesrepublik als einer Region im größeren europäischen Rahmen aus – womit er dem Nationalbewusstsein eine Absage erteilt.

Ein liberaler Intellektueller beschreibt die Last „Deutscher zu sein“ (1983)

  • Rudolf Walter Leonhardt

Quelle

Von der Last, Deutscher zu sein

Bloß nicht Deutscher sein – der Satz steht in dem Roman „Die Libelle“, John le Carrés neuem Weltbestseller „The Little Drummer Girl“ (siehe Seite 35). Die Gattung „Spionageroman“ steht bei uns nicht sehr hoch in der literarischen Hierarchie. Aber ein Autor vom internationalen Rang David Cornwells (alias John le Carré) will dennoch nicht diagonal, will Satz für Satz gelesen sein. Da wird der deutsche Leser vielleicht stutzig, wenn er liest: (Alexis, der Deutsche, beschloß,) „im nächsten Leben werde ich Jude oder Spanier oder Eskimo oder ein radikaler Anarchist wie alle Welt auch. Bloß nicht Deutscher – das tut man nur einmal, aus Buße, und damit hat sich’s auch.“

Der Satz muß einen Deutschen faszinieren und verstören. Nicht so sehr, weil er nun in Millionen-Auflage verbreitet wird. Eher schon, weil man seinem Autor, der lange unter Deutschen gelebt, der manche deutschen Freunde hat, eine „anti-deutsche“ Haltung nicht nachsagen kann. Vor allem jedoch, weil David Cornwell ja nur auf eine griffige Formel gebracht hat, was in aller Welt die vorherrschende Meinung über uns Deutsche ist – und was manche von uns manchmal selber denken. Machen wir uns da nichts vor, nur weil unsere französischen Freunde oder amerikanischen Kollegen höflich, wo nicht gar freundlich bereit sind, dem einen oder anderen von uns einen Sonderstatus einzuräumen. Daß viele von uns es als Kompliment empfinden, wenn sie gesagt bekommen, „Sie wirken aber gar nicht wie ein Deutscher“, sagt mehr, als wir wahrhaben wollen.

Wir Deutschen denken zu viel über uns selber nach und wollen zu sehr geliebt werden. Da man uns das ohnehin nachsagt, soll diesem Nationallaster auch hier gefrönt werden dürfen. Schließlich: Wer, außer J. R. Ewing, wollte nicht geliebt werden? Und über uns selber nachzudenken, haben wir gute Gründe.

Nach Spanien zieht es wie den Dr. Alexis so viele von uns, von der Legion Condor bis zu den Villen-Besitzern an der Costa Brava, daß irgendeine Affinität zu bestehen scheint, und stellte sie sich am Ende auch heraus als Sehnsucht nach Sonne und erschwinglichen Preisen. Ob ebensoviele Deutsche gern Juden wären, wie Juden gern Deutsche gewesen sind vor dem Schrecklichen: das darf bezweifelt werden, entzieht sich jedenfalls pointierender Erörterung. Die Eskimos sind ein Schriftsteller-Gag des John le Carré; „Neger“ wäre besser gewesen, schon in Erinnerung an Kurt Tucholsky, der sich gerade noch so eben einen Eskimo vorstellen konnte, der italienische Arien singt, aber keinen Neger, der sächselt.

Stolzer Patriotismus

Und wo bleiben die Deutschen, die lieber Engländer oder Franzosen wären oder, wenn Engländer und Franzosen nur mitmachen wollten, „Europäer“?

Eine Tatsache, über die immer einmal wieder nachzudenken sich lohnt, ist die, daß es ein sowohl verbindliches wie verbindendes Deutsch-Bewußtsein unter Deutschen heute tatsächlich nicht gibt. Wer von uns wollte denn Deutscher sein „aus Buße“, von Unbußfertigen rings umgeben?

Historisch gesehen, gab es bis 1871 Bayern und Badener, Sachsen und Preußen (und viele andere). Ein eben sich entwickelndes und dann, auf deutsche Art, gleich wieder übertriebenes Nationalbewußtsein wurde vom Überschwang 1914 auf den Nullpunkt 1918 gebracht. Die Demokratie von Weimar war durch Versailles eine Demokratie zweiter Klasse und kein Grund, sehr stolz darauf zu sein. Wieviel Hitler und seine Helfer davon profitiert haben, daß sie sich von einem wieder entstehen wollenden deutschen Nationalbewußtsein tragen lassen konnten, sollte von den Zeithistorikern stärker berücksichtigt werden. Für einige Deutsche bedeutete der Nationalsozialismus das Ende ihrer Identifizierungsmöglichkeiten mit dem gegenwärtigen Deutschland; für die meisten waren es dann die Katastrophen des Krieges und das Diktat der „Sieger-Mächte“, die zum völligen Verlöschen des Gefühls „Ich bin ein Deutscher“ führten. Es gibt keinen wehleidigen, es gibt nur einen stolzen Patriotismus. Und der ist bei uns in der Tat so fremd wie in keinem anderen Staat Europas.

Psychologisch gesehen, haben wir keine nationale Identität, mit der sich jemand, der 1945 ein Kind oder noch gar nicht geboren war, identifizieren könnte. Diese Bundesrepublik ist ja, nehmt alles nur in allem, kein schlechter Staat, vielleicht wirklich der beste, den es je auf deutschem Boden gegeben hat. Aber wer vermag sich denn als „Bundesrepublikaner“ zu fühlen? Da war es doch wirklich noch leichter, in den späten vierziger Jahren, trotzig gegen die Besatzungsmächte, als „Eingeborener von Trizonesien“ aufzutreten.

Sehr wahrscheinlich wäre es etwas einfacher mit einem deutschen Nationalbewußtsein, wenn die Demarkationslinie zwischen Ost und West nicht auch noch Rest-Deutschland in zwei Hälften geteilt hätte. Freilich hätte auch eine „Deutsche Demokratische Bundesrepublik DDBR“ schwer zu tragen gehabt am Erbe Hitlers, an den verlorenen Ostgebieten und am Mißtrauen der Supermächte. Dazu an dem, was in der Welt als „deutscher Nationalcharakter“ gilt. So ein richtig fröhlicher Nationalstolz wäre da auch nicht aufgekommen.

Aber was heißt: wenn die Teilung Europas nicht auch Westdeutschland geteilt hätte? Sie hat, und es ist sinnlos, über verschüttete Milch zu heulen. Unlängst wurden in Bonn Ergebnisse einer Umfrage veröffentlicht, die noch zu Zeiten der sozial-liberalen Koalition vom Ministerium für Innerdeutsche Beziehungen bei dem Meinungsforschungsinstitut Infratest in Auftrag gegeben worden war. Das aufschlußreichste Ergebnis: Während von der westdeutschen Gesamtbevölkerung etwa zwanzig Prozent einer Wiedervereinigung gegenüber sich gleichgültig oder ablehnend verhalten, sind es unter den jungen Leuten zwischen 14 und 21 Jahren doppelt so viele. Das bedeutet: In die Vorstellungen von „Deutschland“ auch Leipzig und Dresden mit einzubeziehen, wird die erwachsenen Deutschen von morgen nicht gerade natürlich ankommen.

Die jungen Deutschen fühlen sich als Angehörige einer Generation – das ist am eindeutigsten, am einleuchtendsten und am vergänglichsten. Denn was macht der Vierzigjährige, der einst gelobt hatte, „keinem über dreißig“ zu trauen? Die Solidarität der „Jugend“ trügt, weil Jugend so schnell vergeht. Die Bastion der deutschen Familie ist zerbröckelt, sicher nicht so ganz, sicher nicht so stark, wie es einseitige Soziologen darstellen; aber sicher auch stärker als in den romanischen Ländern. „Die Heimat“, sie hat wohl die am ehesten noch bindende Kraft. Wenn einer hierzulande schon noch stolz sein will, dann ist er stolz darauf, vom Bodensee oder von der Waterkant zu kommen, aus dem Schwarzwald oder aus dem Rheinland zu stammen, ein Bayer oder ein Hansestädter zu sein.

Wenig Gemeinsames

Dann fehlt etwas. Das Wort „Vaterland“ können wir kaum noch aussprechen. „Sterben für Bonn“ wäre den meisten von uns lächerlich – was auch sein Gutes hat. Wir sind Weltbürger, Kosmopoliten, hervorragend in der Kenntnis fremder Sprachen, jenseits der Staatsgrenzen reisend wie sonst keiner.

Aber wenn wir darüber nachdenken, was es denn eigentlich heute bedeutet, Deutscher zu sein, was das meint, wo der Inhalt der Aussage ist, dann fällt uns als definierbares Gemeinsames nur die Geschichte ein, die Kultur und die Sprache. Lauter schwankende Grundlagen. Hitlers Erben sind wir, ob wir wollen oder nicht. Mozart, der Österreicher, und Kafka, der Tscheche, und viele andere „Kulturträger“, um die wir mit der DDR konkurrieren, Luther, Schiller, Goethe, eignen sich kaum als Träger bundesrepublikanischen Deutschbewußtseins. Und aus der gemeinsamen Sprache werden eben auch vorschnelle Schlüsse gezogen auf eine Gemeinsamkeit, die sich Ostdeutsche, Österreicher und Schweizer mit guten Gründen verbitten.

Kurioserweise wird die Frage der nationalen Identität nur von wenigen Deutschen als besonders drängend empfunden. Die meisten arrangieren sich: in der Familie, im Freundeskreis, in der Solidarität der Betriebs- oder Berufsgemeinschaft, in der Nachbarschaft. Und alle haben viele ausländische Freunde. Es ist uns beinahe egal, ob wir als Eskimos wieder auf die Welt kommen oder als Deutsche; um so mehr, als keiner von uns glaubt, noch einmal wieder „auf die Welt“ zu kommen.

Wenn Wunschvorstellungen geäußert werden, läßt sich ein leichtes Pathos schwer vermeiden. Sei’s drum: Deutsch sein bedeutet für uns, uns deutscher Kunst und Wissenschaft noch bewußt zu sein, unsere deutsche Sprache zu pflegen, unsere Familie nicht zu verlieren, unsere Heimat . . . da ist sogar „zu lieben“ erlaubt, und hinzustreben auf jene „Vereinigten Staaten von Europa“, in die wir mehr einbringen könnten als die immer wieder von uns geforderte D-Mark: zum Beispiel den, wenn auch sicher nicht ganz freiwilligen, Verzicht auf ein Nationalbewußtsein.

Quelle: Rudolf Walter Leonhardt, „Von der Last, Deutscher zu sein“, Die Zeit, 2. September 1983. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung.