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Interview mit Senator Scholz über den Besuch Honeckers
von Karl Wilhelm Fricke
Fricke: Herr Prof. Scholz, als Berliner Senator für Justiz und Bundesangelegenheiten sind Sie auch unmittelbar Mitgestalter der Deutschland- und Berlinpolitik insofern, als Berlinpolitik immer zugleich auch Deutschlandpolitik ist. Daher meine erste Frage an Sie: Wie lautet Ihre grundsätzliche Einschätzung des offiziellen Besuchs Erich Honeckers in Bonn? Wie urteilen Sie über seine politischen Ergebnisse aus Berliner Sicht?
Prof. Scholz: Berlin ist – und das hat der Bundeskanzler in der Debatte im Bundestag auch mit Recht noch einmal bekräftigt – und bleibt die Bewährungs- und Nagelprobe besonderer Art in der Deutschlandpolitik. Solange sich die Deutschlandpolitik insgesamt auf eine Gestaltung des innerdeutschen Verhältnisses, also des Verhältnisses der beiden deutschen Teilstaaten zueinander, konzentrieren muß, in Grundsatzfragen entsprechende Änderungen nicht möglich sind, solange wird immer wieder Berlin der schwierigste Punkt sein, weil die andere Seite, wie bekannt, nicht bereit ist, die Zugehörigkeit Berlins zum Bund in uneingeschränkter Form zu akzeptieren. Auch vor diesem Hintergrund muß man also die Ergebnisse dieses Besuches werten, und dabei ist zu sagen, daß sie insgesamt in der Summe gut sind und für Berlin wesentliche Fortschritte bringen. Ich nenne hier vor allem die beiden Beispiele Eisenbahnverkehr und Stromverbund.
Fricke: Wir werden darauf noch mal zurückkommen. Zunächst noch eine kritische Frage, die sich auf das Protokoll, auf den protokollarischen Aufwand bezieht, mit dem Honecker in Bonn empfangen wurde. Hat man hier in Berlin Verständnis dafür?
Prof. Scholz: Ich glaube, daß in Berlin die Situation sicherlich nicht anders und das Empfinden nicht anders ist als im übrigen Bundesgebiet auch. Die Gefühle sind zwiespältig, und das müssen sie sein; in Berlin vielleicht in besonderer Weise, weil man hier täglich mit der Mauer leben muß. Auf der anderen Seite glaube ich jedoch, daß die Deutschen insgesamt – in Ost wie West – inzwischen auch ein Gefühl dafür haben, daß unsere Lage derzeit nicht von Grund auf änderbar ist, daß wir mit den Realitäten leben müssen: Dazu gehört seit dem Grundlagenvertrag auch die Staatlichkeit der DDR, allerdings nicht im Sinne einer völkerrechtlich vollen Anerkennung. Im einzelnen sind hierbei auch wieder juristische Fragen im Spiel, die man dem Bürger nicht immer gleich bewußt machen kann.
Fricke: Die auch international schwer nachvollziehbar sind.
Prof. Scholz: Völlig richtig, auch das sind Probleme, und wir müssen das internationale Echo dieses Besuches sehr sorgfältig analysieren. Aber andererseits muß man sehen, was vor einer großen Öffentlichkeit – über das Fernsehen, über den Rundfunk – ausgesprochen worden ist. Dazu zähle ich vor allem die sehr, sehr klaren Worte des Bundeskanzlers zur offenen Deutschen Frage, zu unserem unveränderten Ziel der Wiedervereinigung. Das mußte Honecker hinnehmen. Das alles ist abgedruckt worden im Neuen Deutschland. Das heißt, den Menschen drüben in der DDR und in Ost-Berlin ist das jetzt alles gegenwärtig, es ist ein Thema. Man muß sich vergegenwärtigen, auch Herr Honecker mußte Beifall klatschen zu den Worten des Kanzlers. Das sind Dinge, glaube ich, die die politische Landschaft künftig maßgebend mitprägen werden.
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Fricke: Sie erwähnten eben die Geraer Forderungen schon. Sie haben offenbar in dem zweitägigen Meinungsaustausch in Bonn keine Rolle mehr gespielt, weil die Grundpositionen auf beiden Seiten klar waren?
Prof. Scholz: Die Geraer Forderungen haben tatsächlich keine Rolle gespielt. Die Bundesregierung hat keinerlei Zweifel daran gelassen – im Vorfeld wie bei den Gesprächen selbst –, daß über Staatsangehörigkeitsfragen, Umwandlung der Ständigen Vertretungen, über alle Fragen, die die Offenheit der Deutschen Frage insgesamt in Zweifel ziehen können, mit ihr nicht zu reden sein wird. Dies hat die andere Seite verstanden. Man hat im Grunde auch von der anderen Seite her sehr deutlich gemacht, daß man an praktischen Lösungen, an praktischen Fortschritten interessiert ist, daß man sich nicht in Grundsatzforderungen wechselseitig überfordern will. Das ist ein vernünftiger, realistischer Kurs, und er gibt einigen Anlaß für Optimismus in der weiteren Zukunft.
Fricke: Der Bundeskanzler hat im Bundestag betont, daß Berlin voll einzubeziehen sei in alle Regelungen zwischen beiden deutschen Staaten. Halten Sie es für denkbar, daß die DDR die Bindungen Berlins an den Bund in Zukunft stärker respektiert oder toleriert?
Prof. Scholz: Die DDR hat immer wieder Schwierigkeiten zu machen versucht, wenn es um die Einbeziehung Berlins in innerdeutsche Vereinbarungen ging. Das gleiche versuchen die Ostblockstaaten in ihrer Gesamtheit. Dies ist natürlich immer eine Strategie gewesen, die das, was im Viermächteabkommen über Berlin garantiert ist, in Zweifel ziehen sollte, nämlich: nicht nur die gegebenen Bindungen Berlins zum Bund zu gewährleisten, sondern diese Bindungen auch weiterzuentwickeln. Das ist eine Politik, die nicht hinnehmbar ist. Sie ist vertragswidrig. Dies ist auch deutlich gemacht worden, gerade indem der Bundeskanzler sehr klar gesagt hat – vor dem Bundestag, aber auch während der Gespräche –: Wenn die DDR wirkliche Fortschritte im innerdeutschen Verhältnis haben will, dann geht das nicht an Berlin vorbei, sondern dann geht das nur mit Berlin und vor allem auch für Berlin. Ich glaube, daß diese sehr klaren Worte verstanden worden sind. Berlin bleibt in der Tat auch insoweit die Nagel- und Bewährungsprobe, wie ich es vorhin schon formuliert habe, für die weitere Zusammenarbeit, für den weiteren Dialog zwischen den beiden Staaten in Deutschland.
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Quelle: Karl Wilhelm Fricke, „Interview mit Senator Scholz über den Besuch Honeckers“, Deutschland Archiv 20, Nr. 10 (1987), S. 1116–20. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Deutschland Archivs.