Quelle
„Es ging so nicht mehr weiter!“
Die Flucht der Siebzigjährigen
Unter den wagemutigen Unternehmungen, durch die es trotz aller Absperrungen und Gewaltmaßnahmen der Sowjetzonenbehörden doch immer wieder Menschen aus der Zone und aus Ost-Berlin gelingt, in die Freiheit zu entkommen, gehört diese wohl zu den erstaunlichsten: zwölf alten Leuten ist es gelungen, in mühevoller Arbeit einen Tunnel unter der Zonengrenze im Norden Berlins hinweg zu graben und durch ihn nach West-Berlin zu gelangen. Die Leitung der Gruppe hatte ein 81jähriger Mann aus Glienicke, der dort ein eigenes Grundstück und ein selbständiges Fuhrgeschäft besaß. Die meisten der übrigen beteiligten Männer sind um 70 Jahre alt. Erst am letzten Tag stieß ein sechzehnjähriger Junge zu der Gruppe.
Es ist wahrhaft bezeichnend für die Zustände im Zonen-Staat, daß selbst alte Leute, die ihr materielles Auskommen haben und seit Jahrzehnten innerlich in ihrer engeren Umgebung verwurzelt sind, sich zur Flucht entschließen. Wer weiß, was es für eine Familie wie die des Flüchtlings Max Th. bedeutet, ihr seit 41 Jahren bestehendes selbständiges Geschäft, ihr Haus und ihren Garten unter Lebensgefahr zu verlassen, der kann ermessen, unter welchem Druck die Menschen im SED-Staat Ulbrichts leben. Als der 81jährige Th. auf einer Pressekonferenz der Berliner Häftlingskreise, in der die Flüchtlinge gestern vorgestellt wurden, gefragt wurde, weshalb er Mühsal und Gefahr der Flucht auf sich genommen habe, antwortete er: „Weil wir in die Freiheit wollten. Es ging so nicht mehr weiter. Ich möchte dort drüben auch nicht einmal, wenn ich tot bin, beerdigt werden.“
Der Tunnel, aus dem die sieben Männer und vier Frauen sowie der Sechzehnjährige am 5. Mai in Frohnau, diesseits der Oranienburger Chaussee, die dort die Zonengrenze bildet, herauskletterten, ist inzwischen, fünf Tage nach der Flucht, von der „Volkspolizei“ entdeckt worden. Das Haus des Max Th., in dessen Hühnerstall der Tunnel begann, ist von Vopos besetzt. Durch die Mitteilung der Umstände der Flucht entsteht nach der Überzeugung der Geflüchteten und der Berliner Häftlingskreise keine Gefahr für andere.
Die Flüchtlinge berichteten, daß sie 16 Tage an dem Tunnel gearbeitet hätten. Nahezu 4000 Eimer Erde hätten zwei 70jährige Männer aus dem Tunnel herausgeschafft und zu einem 25 Meter entfernten Schuppen getragen, während Max Th. Gartenarbeiten vorgetäuscht und jedesmal bei Herannahen einer Vopo-Streife die Arbeitenden gewarnt habe. Da etwa jede Viertelstunde eine Grenzstreife vor dem Haus auf der Oranienburger Chaussee vorübergegangen sei, habe die Arbeit immer wieder unterbrochen werden müssen. Dennoch scheinen die Familien, nach ihren Berichten, geradezu in einer Hochstimmung gewesen zu sein. Die Frauen erzählten, wie sie ihren Männern Bier geholt und ihnen Essen gekocht hätten, und eine „Krise“, daß man etwa die Arbeit aufgeben wollte, habe es nie gegeben.
Nur vier Grundstücke von dem Haus des Max Th. entfernt befand sich der Einstieg zu dem Tunnel, durch den im Januar 28 Personen die Flucht in den Westen geglückt war. Damals hatte man die alten Leute, die von dem Fluchtplan wußten, nicht mitgenommen, weil man fürchtete, durch sie behindert zu werden.
Die zwölf alten Menschen erledigten ihre Arbeit ganz besonders gründlich. Sie legten einen Gang an, durch den sie fast aufrecht gehen konnten: stellenweise war er 1,75 Meter hoch. Er hatte eine Länge von 32 Metern. Auf die Frage, weshalb der Tunnel so hoch gebaut worden sei, was doch die Arbeit erschwert habe, kam eine erstaunliche Antwort: „Wir wollten mit unseren Frauen bequem und ungebeugt in die Freiheit gehen“.
Quelle: C. Gennrich, „‚Es ging so nicht mehr weiter!‘ Die Flucht der Siebzigjährigen“, Tagesspiegel, 19. Mai 1962.