Kurzbeschreibung

Der Koalitionswechsel der FDP von der SPD zur CDU/CSU führte zu einer innerparteilichen Krise und zu Vorwürfen der Fahnenflucht und des Verrats am Koalitionspartner. Vor diesem Hintergrund erläutert Wolfgang Mischnick, Fraktionsvorsitzender der FDP, die Entscheidung der Parteispitze vor dem Bundestag.

FDP als Zünglein an der Waage (2./3. Oktober 1982)

  • Wolfgang Mischnick

Quelle

Erklärung von Wolfgang Mischnick, FDP, zum Bruch der sozialliberalen Koalition (1. Oktober 1982)

Dies ist eine schwere Stunde, meiner Überzeugung [nach] eine schwere Stunde für den Staat, deshalb, weil wir wissen – ganz gleich, wo wir stehen –, daß die Stabilität der Bundesrepublik Deutschland, die über 35 Jahre selbstverständlich war, heute nicht mehr die gleiche Selbstverständlichkeit hat. Landtagswahlen haben dies bewiesen. Dies ist eine schwere Stunde für dies Parlament, weil ich weiß (es geht mir selbst so), daß viele Abgeordnete quer durch alle Fraktionen hin und her gerissen sind zwischen dem, was in dem Wahlkampf 1980 als Grundlage der Entscheidung gesehen wurde, und dem, was die Verfassung dem Abgeordneten, wenn er gewählt ist, aufträgt zu handeln.

Es ist eine schwere Stunde für meine Partei, weil sich hier am meisten widerspiegelt, diese Diskrepanz, diese Spannung, das Spannungsverhältnis, was daraus entsteht. Und ich gestehe offen, es ist eine schwere Stunde für mich. Ich habe diese Koalition vor 13 Jahren bewußt mit herbeigeführt, ich habe zu ihr gestanden bis zur letzten Minute. Manche sagen, zu lange. Auch diese Kritiker mögen recht haben. Herr Bundeskanzler, Sie haben am 17. September in einem Gespräch, bevor Sie Ihre Rede hier hielten, deutlich gemacht, daß diese Koalition zu Ende geht. Ich habe Sie gefragt, ob das in Ihrer Rede steht. Sie haben mir geantwortet: ja. Ich habe Sie gefragt, ob Sie erwarten, daß die Minister der Freien Demokraten zurücktreten. Sie haben das bestätigt. Ich habe Ihnen gesagt: Wenn das nicht geschieht, werden Sie sie dann entlassen? Sie haben mir das bestätigt. Das ist von Ihrem Standpunkt her die Konsequenz Ihrer Rede: Es war nicht mehr zumutbar zusammenzuarbeiten. Herr Bundeskanzler, ich möchte allerdings auch hinzufügen: Wenn Sie dann zulassen, daß das als Verrat gekennzeichnet wird, enttäuscht mich das tief.

Ich weiß, daß da gemeint ist – Sie brauchen keine Sorge zu haben, daß ich auch nur einen Grund verschweige, den ich für notwendig halte zu nennen –, ich weiß, daß diese Entwicklung, die Sie meinten, daß sie unaufhaltsam sei, mit dadurch beeinträchtigt worden ist, daß unterschiedliche Meinungen aus meiner Fraktion, aus meiner Partei sichtbar waren. Aber es war doch nicht nur so, daß sie aus der FDP kamen, sondern sie kamen ja aus der SPD – über die Frage, ob es noch einen Sinn habe. Und wenn man das Postulat (und für mich ist es nicht nur ein Postulat, sondern es ist eine innere Einstellung) „Würde“ so stark herausstellt, dann, Herr Bundeskanzler und meine Kollegen von der SPD, bitte dann auch in einem Augenblick, wo man erkennt, daß es eben nicht mehr möglich ist, die gemeinsame Basis fortzusetzen, mit Würde festzustellen, daß es sachlich keine Gemeinsamkeit mehr in vielen Fragen gibt. Dies scheint mir notwendig zu sein.

Ich füge auch hier hinzu, daß das unterschiedlich ist, daß es Bereiche gibt, wo ich fest überzeugt bin, daß man auch morgen noch gemeinsam arbeiten könnte. Aber jetzt steht im Vordergrund das Problem der Wirtschafts-, Gesellschafts-, der Finanz- und Steuerpolitik. Und ich füge hinzu: Es steht vor uns die Frage auch von einer anderen Seite, als sie hier zum Teil angesprochen worden ist, nämlich: Ob hier dieses Parlament in einer so schwierigen Lage bereit ist zu handeln und in Kauf nimmt, den Vorwurf zu bekommen, nicht sofort zum Wähler zu gehen.

Ich kann das um so leichter sagen, weil ich ja schon am 9. September, Herr Bundeskanzler, als Sie zum erstenmal von Neuwahlen sprachen, als einziger hier eine andere Meinung vertreten habe. Wir waren uns beide in einem Gespräch darüber klar, daß das Grundgesetz unterschiedliche Möglichkeiten zuläßt. Aber ich wiederhole, was ich Ihnen sagte: Ich bin zutiefst überzeugt davon – das ist meine ganz persönliche Meinung –, daß das Grundgesetz in erster Linie das Parlament aufruft zu handeln und nur dann, wenn es nicht handeln kann, die Neuwahl als letzte Möglichkeit vorgesehen ist.

Dieses Verfassungsverständnis mag heute stärker als Anfang der siebziger Jahre im Widerspruch stehen zu dem allgemeinen Empfinden. Dies bestreite ich nicht. Und daß es harter Diskussionen bedarf, um dies sichtbar zu machen und deutlich zu machen, wird eine gemeinsame Aufgabe sein. Ich füge sofort hinzu, um hier gar keinen Irrtum aufkommen zu lassen: Es ist eine Vereinbarung in der Koalition getroffen worden. Ich habe gelernt, Mehrheiten zu respektieren. Ich erwarte von meinen Freunden, daß sie Mehrheiten respektieren. Ich respektiere auch Mehrheiten, wenn sie in einer Koalitionsvereinbarung für die Zukunft festgelegt werden. Ich bitte deshalb, nicht aus meiner grundsätzlichen Auffassung, die ich nach wie vor habe, etwa den Versuch des Herausgleitens aus einer Vereinbarung zu sehen. Aber ich halte es für die Pflicht, die grundsätzliche Meinung auch in diesem Augenblick in der gleichen Deutlichkeit darzulegen, wie ich das vor wenigen Tagen getan habe, weil das auch zur Glaubwürdigkeit gehört, die ja mehrfach beschworen worden ist.

Meine Damen und Herren, diese Pflicht zum Handeln steht ja auch nicht im Widerspruch zur Auffassung, die in diesem Hause schon geäußert worden ist. Herr Bundeskanzler, Sie haben als Vorsitzender der SPD-Fraktion in einer Antwort auf meine Rede, die ich damals zur Regierungserklärung der Großen Koalition zu halten hatte, wörtlich gesagt: „Es war das Parlament, das aus sich heraus die neue Regierung geschaffen hat – ein Beweis für die Funktionstüchtigkeit des Deutschen Bundestages.“ Ich stimme Ihnen voll zu. Heute sind nicht die gleichen Umstände, aber ähnliche Umstände. Und Helmut Schmidt hat damals weiter gesagt, eine Regierung muß nach den Möglichkeiten einer arbeitsfähigen Mehrheit gebildet werden. Dies soll geschehen.

Oder wenn jemand – dem damaligen Bundeskanzler Kiesinger zustimmend – zitierte, daß die neue Regierung, wörtlich, nicht aus einem glänzenden Wahlsieg hervorgegangen sei, sondern aus einer von unserem Volk mit tiefer Sorge verfolgten Krise. Sehen Sie, meine Damen und Herren, wenn man von Glaubwürdigkeit spricht, dann bitte ich auch, die Glaubwürdigkeit, die die damalige Äußerung hatte, nicht, wenn es in einer anderen Konstellation genauso zutrifft, in Zweifel zu ziehen.

Ich wiederhole, daß die Interessenlage bei solchen Situationen sich verändern kann. Ich werfe niemandem vor, wenn er aus seiner Interessenlage zu anderen Entscheidungen kommt. Da, wo ich aber das Gefühl bekomme, daß die eigene Interessenlage dann plötzlich verbrämt werden soll mit dem Vorwurf, die Interessenlage der anderen oder deren Entscheidungsbereitschaft sei gegen Recht und Sitte, muß ich darauf verweisen, daß Recht und Sitte im Grundgesetz den hier vorgesehenen Weg absolut legitimiert. Und wer dies bezweifelt, muß den Mut haben zu sagen, daß er das Grundgesetz in diesem Punkt für falsch hält oder ändern will.

Ich stehe auch in dieser Stunde nicht an, die 13jährige Regierungsverantwortung, die ja sehr viel Kritik erfahren hat, so zu beurteilen, wie ich es immer getan habe. Es waren entscheidende Schritte, neue Schritte in der Außen- und Ostpolitik, es waren entscheidende Schritte in der Innenpolitik, in der Gesellschaftspolitik, deren Grundlagen ich heute genauso positiv beurteile wie gestern. Ich bestreite nicht, daß dabei Fehler gemacht worden sind. Wo Menschen tätig sind, werden Fehler gemacht. Das war in der Regierungskoalition CDU/FDP so, das war in der Großen Koalition so, das war in der jetzigen Koalition so. Und das wird bei einer künftigen Koalition genauso sein. Worauf es hier ankommt, ab dann, wenn man erkannt hat, daß da oder dort ein Fehler gemacht worden ist, den Mut hat, aus diesen Fehlern zu lernen, und wenn man dann nicht mit Ideologie betrachtet, sondern aus der Vernunft heraus entscheidet, ist dies leichter. Wir bemühen uns, aus der Vernunft heraus zu entscheiden.

Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir zum Abschluß noch zwei persönliche Worte: Herr Bundeskanzler, wir haben über lange Jahre sehr eng zusammengearbeitet. Ich schätze diese Arbeit. Ich respektiere Ihre Leistung, ich stehe zu dieser Zusammenarbeit, ich bin Ihnen dankbar dafür. Daß wir jetzt getrennte Wege gehen müssen, das gehört zur Demokratie. Eins möchte ich Sie bitten, nicht zu vergessen, daß Sie und ich und alle in diesem Haus, diesem Staat, diesem Volk dienen wollen – und deshalb Handlungen, die so oder so gefällt werden, unter diesem Gesichtspunkt zu sehen sind. Und nicht unter anderen. Herzlichen Dank für die Zusammenarbeit!

Herr Kollege Wehner! Wir haben über 13 Jahre sehr schwere Entscheidungen treffen müssen. Wir haben manchmal allein vor Entscheidungen gestanden, von völlig divergierenden Standpunkten aus. Wenn ich an die Mitbestimmung denke, an die Verträge, wo wir die gemeinsame Grundlage hatten. Es war immer ein persönlich faires Verhalten. Ich danke Ihnen dafür. Wir haben in den schwersten Interessengegensätzen Lösungen gefunden und sie gemeinsam durchgesetzt, in Kompromissen, die ihre Tragfähigkeit auch später bewiesen haben. Ich habe Sie kennengelernt als einen fairen Partner, als einen Menschen, der in der Öffentlichkeit oft falsch dargestellt ist. Es tut mir weh, daß wir so auseinandergehen müssen. Herr Kollege Wehner, meine Hochachtung bleibt! Herr Kollege Kohl! Wenn die Wahl so ausgeht, wie wir es wollen – und ich bin überzeugt, sie geht so aus –, Sie werden einen fairen Partner haben, weil ich faire Partnerschaft als einen entscheidenden Teil der Glaubwürdigkeit dieser Demokratie ansehe.

Quelle: Erklärung von Wolfgang Mischnick, FDP, zum Bruch der sozialliberalen Koalition (1. Oktober 1982); abgedruckt in Irmgard Wilharm, Hrsg., Deutsche Geschichte 1962–1983. Dokumente in zwei Bänden, Bd. 2, Frankfurt am Main, 1989, S. 268–71. Online verfügbar unter: https://dserver.bundestag.de/btp/09/09118.pdf (Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 118. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1982, S. 7181–85).