Kurzbeschreibung

Politische Kommentatoren stimmen überein, dass das Ende der sozialliberalen Koalition unausweichlich war, setzen jedoch, je nach politischer Orientierung, unterschiedliche Schwerpunkte. Während der Artikel im Tagesspiegel Fehler in der Wirtschafts- und Sozialpolitik in den Vordergrund stellt, betont der Text in der konservativen Frankfurter Allgemeinen Zeitung zusätzlich Elemente der ideologischen Erosion. Der Autor des Beitrags in der links orientierten Frankfurter Rundschau honoriert die sozialliberale Koalition als wichtiges Experiment, das nach wie vor wegweisend sei. Für den Verschleiß seien sowohl internationale wie nationale Gründe maßgebend.

Der Bruch der Koalition im Spiegel politischer Kommentatoren (18. September 1982)

Quelle

I. „Ende und Neuanfang“ (Der Tagespiegel, 18. September 1982)

J.B. Das Ende der sozialliberalen Koalition in Bonn ist gewiß ein historisches Datum. Nur ist es nicht genau festzulegen. Mit dem Rücktritt der vier FDP-Minister, die damit ihrer vom Bundeskanzler angekündigten Entlassung zuvorkamen, wurde die Auflösung der politisch-parlamentarischen Ehe lediglich noch notariell beglaubigt. Die ihr früher innewohnenden Gemeinsamkeiten waren schon eher zerbrochen. Der Vorgang ist denn auch ein Beweis dafür, daß sich sogenannte historische Ereignisse selten in einem Zeitraffer abspielen und auch nicht häufig dramatisch-eruptiv entfalten. Die Koalition ist vielmehr mit vielen kleinen Schritten ihrem Ende zugelaufen. []

Gleichwohl verdient angemerkt zu werden, daß mit dem Ende der Koalition ein neuer bedeutender Einschnitt in der politischen Nachkriegsentwicklung erreicht ist. Diese Koalition hat viele Spuren hinterlassen, die nicht mehr getilgt werden können. Mit der Ostpolitik hat diese Koalition der deutschen Politik eine Richtung gewiesen, die ebenso schwer umkehrbar ist wie die seinerzeit von Adenauer vollzogene Einbindung der Bundesrepublik ins westliche Bündnis und die Europäische Gemeinschaft, auf der die Nachfolger aufbauten. Unter Bundeskanzler Schmidt, als sich außenpolitisches Geschick und eine scheinbar ungefährdete wirtschaftliche Leistungskraft des Landes für einen Augenblick glücklich miteinander verbanden, konnte die Bundesrepublik sich tatsächlich rühmen, eine bestimmende Kraft im Kreis der Mittelmächte geworden zu sein. Aber gerade auf wirtschaftspolitischem Gebiet kündigte sich dann der Wechsel an.

Es wird immer schwer erklärlich bleiben, warum eine Koalition, die schließlich die tiefen Wirkungen des Schocks der ersten Ölkrise an sich erlebte, so wenig Sensorium für die heraufziehenden Veränderungen im weltwirtschaftlichen Gefüge hatte, warum sie die Warnungen von einem Ende des wirtschaftlichen Wachstums so geringschätzte. Sie trieb Umverteilungs- und Reformpolitik noch weiter, als die Verfügungsmasse immer kleiner wurde – nur, daß die Reformen schließlich nicht mehr alle zu Lasten der Staatskasse, sondern auf Kosten anderer beschlossen wurden. An der gesamtwirtschaftlichen Folge ändert sich dadurch nichts. Als die Krise der Staatsfinanzen dann sichtbar und der Handlungsspielraum der Politik geringer wurde, begann schließlich die Absetzbewegung beider Parteien voneinander. Innenpolitisch war der Wendepunkt erreicht, als man in der FDP feststellen mußte, daß der einsetzende Vertrauensverlust bei den Wählern, der über mehrere Landtagswahlen hinweg beobachtet werden konnte, die SPD schlimmstenfalls in die Opposition führen, der FDP aber das Lebenslicht ausblasen könnte.

II. „Das Ende einer Ära“ (Fritz Ullrich Fack, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18. September 1982)

[] Ein gerechtes Urteil über diese zweite große zusammenhängende Periode deutscher Politik in der Nachkriegszeit zu fällen bleibt den Historikern vorbehalten. Die Zeitgenossen sind nur legitimiert, sich über die Ursachen des Verfalls, eines am Ende wahrhaft dramatischen Verfalls, Rechenschaft abzulegen. Und da wird es nicht wenige geben, die die Schuld vorwiegend im Ökonomischen suchen werden: in der ganzen Deklination von Ölkrisen, Haushaltsmiseren und wirtschaftlicher Auszehrung, im Verfall der Innovationskraft, in Pleiten und steigenden Arbeitslosenzahlen, in Sanierungssackgassen und Verteilungskämpfen.

Das war so, gewiß, und es hat allemal etwas für sich – wie wir aus den Krisen der ersten deutschen Republik wissen –, politische und ökonomische Entwicklungen in enger Verbindung zu sehen. Aber es kam von Anfang an etwas anderes hinzu: Das Kennzeichen der verflossenen Ära war ein überwölbender ideologischer Druck, eine zeitweise höchst erfolgreiche Bewußtseinsveränderung in weiten Teilen des Volkes. Eine Art Taumel des Fortschritts, beflügelt von einem massiven personellen Schub in allen Einrichtungen der Sozialisation, vom Kindergarten bis zur Universität, der das Land mit vorwiegend sozialistischem Gedankengut durchtränkte.

Hier hat der eigentliche Erwartungszusammenbruch stattgefunden, und zwar lange bevor die politischen Krisen sich ankündigten. Die Ende der siebziger Jahre vieldiskutierte „Tendenzwende“ hat in Wahrheit niemals stattgefunden. Nicht eine konservative Gegenrevolution hat diese Republik ins Unglück gestürzt, sondern ein politischer, geistiger und am Ende – man denke an die Skandale um große Gewerkschaftsunternehmen – auch ein moralischer Erosionsprozeß. Ideale und Wirklichkeit begannen immer mehr auseinanderzuklaffen, mit der Folge, daß vor allem in der jungen Generation die Radikalisierung rasch fortschritt. Hier hatte freilich eine fortschrittliche Pädagogik den Boden bereitet, indem sie den Konflikt als gesellschaftlichen Normalfall, die Toleranz hingegen als eine Art Schwäche gegenüber der Reaktion abmalte. []

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III. „Das Ende einer Epoche?“ (Werner Holzer, Frankfurter Rundschau, 18. September 1982)

[] Der Versuch zweier Parteien, sich nicht nur aus taktischen und strategischen Gründen zusammenzutun, sondern durch das Zusammenfügen zweier gesellschaftspolitischer Theorien neue Mehrheiten zu schaffen, war ein großes und notwendiges Experiment. Daran kann das langsame und streckenweise peinliche Scheitern nichts ändern. Wenn eine große Sozialdemokratische Partei bereit war, sich von einem kleineren Partner wegführen zu lassen von der Grundüberzeugung, daß staatliche Steuermechanismen schon der halbe Weg zur Problemlösung seien, so war das ein ebenso einschneidender Schritt, wie die Bereitschaft der Liberalen in Zukunft nicht mehr ausschließlich auf das Durchsetzungsvermögen der Stärkeren und Aktiveren zu setzen. Hier lag die historische Bedeutung des Bündnisses zwischen SPD und FDP im Jahre 1969. []

Niemand kann sich wundern, wenn 13 Jahre später der Lack dieser Grundsatz-Entscheidung an manchen Stellen abgeplatzt war. Nichts, was mit Menschen zu tun hat, kann sich von Abnutzungserscheinungen freihalten. Das gilt ganz sicher auch für Politiker und parlamentarische Bündnisse. Die krisenhafte Entwicklung der Weltwirtschaft und die Vereisung des internationalen Klimas überhaupt konnten an der Koalition und an diesem Land nicht spurlos vorübergehen. Eigene Fehler haben den Verschleiß-Prozeß dann beschleunigt. Aber wenn auch der Schwung des Anfangs erlahmt war, wenn die rauhe Wirklichkeit das Bündnis am Ende eingeholt hat, ändert das nichts an der Tatsache, daß die politische Idee dieses Zusammengehens nicht nur 1969 richtig war, sondern auch noch heute richtig ist. []

Quelle: Alle drei Leitartikel wurden nachgedruckt in Hans Hermann Hartwich, „Der Bruch der sozialliberalen Koalition im September 1982“, Gegenwartskunde. Heft 4, 1982, S. 491–502.