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„Man lebt damit, man wird alt damit“
West und Ost erinnern diese Woche an den Bau der Mauer vor 25 Jahren - mit Totengedenken hüben, Aufmärschen drüben. Die ohnmächtige Wut über die „Schandmauer“, an der 74 Menschen starben, ist der Gewöhnung gewichen. Künstler, Käuze, Alternative bestimmen den Alltag an der Mauer.
Wenn Horst Halwass an Wochenenden im Havelflecken Kladow ausspannt, ist er vor unangenehmen Überraschungen sicher. Hier hat er eine fahrbare Laube („Det neueste uff‘m Markt“), ein gastfreundliches Vorzelt („Cafe Achteck“), vor sich die Freizeitfreunde vom Camping-Club, hinter sich die DDR: „Die beginnt praktisch an der Deichsel meines Wohnwagens.“
Der Hain zwischen Trailer und Mauer („Allet reinste Natur“) gehört als sogenanntes Unterbaugebiet formal schon zur anderen Seite und darf noch nicht einmal von Berliner Amtspersonen betreten werden. Doch dort geht schon mal einer „in die Pilze“, Siemens-Mann Halwass schwärmt: „Der ruhigste Ort von ganz Berlin.“
Gleich hinter den Tennisplätzen der Betriebssportler von Schering, nicht weit vom Übergang Chausseestraße, klettern die Kinder aus dem Wedding über den Zaun am Grünstreifen vor der Mauer. Da spielen sie in einem umfriedeten Klein-Urwald voller Wuchergestrüpp und Getier („‘ne Schlange, ‘n toter Hase, ‘ne tote Katze“) und sind lediglich im Blickfeld der Ostgrenzer („Die ham immer geglotzt, wa“).
Kürzlich habe, berichtet ein Junge, eine, die „ja nu nicht gerade wenig“ unterm Pulli trage, glatt „Striptease jemacht für die da drüben, ey. Hab‘ mir halb krank jelacht“. Und ein 14jähriges Mädchen meditiert: „Wenn ick auf der Ecke hier sitze, dann bin ick hier in Berlin. Wenn ick auf der anneren Seite sitze, bin ick im Osten. Und wenn ick so jenau drauf sitze, dann bin ick jenau in die Mitte.“ Berliner Lagebeschreibung für eine Studie über „Kinder und Jugendliche in der Großstadt“, aufgenommen von einem Pädagogenteam an „Orten, wo Träume noch möglich sind.“[1]
Im Stadtteil Buckow, Ecke Ringslebenstraße und Auf der Planweide, ist die Katze von Gerhard Dieterich über die alte Betonmauer der Demarkationslinie geklettert. Dieterich steigt auf einer Leiter die Mauer hoch und zeigt den DDR-Organen, die auf dem naheliegenden Beobachtungsturm – Koordinaten nach Karten der West-Polizei: UU 94 8 08 8 – Dienst tun, ein Pappschild mit der Aufschrift: „Katze ist rübergegangen, dürfen wir sie von hier aus zurücklocken?“
Weder Grenzer noch Haustier lassen sich locken. Darauf beschallen Polizisten die DDR-Seite per Megaphon: „Besteht die Möglichkeit, die Katze herüberzugeben?“ Der Besitzer erhält zwei Tage später sein Katzenvieh zurück – „auf unbekanntem Weg“ (Polizeibericht).
Die Camper, die ihre Nische im Niemandsland gefunden haben, die Jugendlichen im verbotenen Grenzdickicht, das entlaufene Haustier – inzwischen alltägliche Geschichten von der Mauer. Haben sich die Berliner an das Bauwerk gewöhnt?
Dort sind seit 1961 nach westlicher Zählung 74 Menschen gestorben. Das letzte amtlich bekanntgewordene Todesopfer an der Mauer war eine 18jährige DDR-Bewohnerin; sie ließ im November 1980 im Kugelhagel ihr Leben. Doch wenn es nun knallt, wie mal wieder am 25. Juni, versucht die DDR zumindest eine Erklärung, in diesem Fall: Der Grenzsoldat Jürgen Zöller habe nach einem Hitzeschock „durch Abgabe von Signalschüssen Hilfe herbeirufen“ wollen. Schlechtes Gewissen nach all den Jahren, in denen die Vopos „auf Menschen wie auf Hasen“ schossen, wie es Lothar Loewe 1976, damals Ost-Berliner ARD-Korrespondent, dem Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker vorhielt?
Für Ausdeutungen jeglicher Art besteht wieder mal Anlaß, am 13. August wird die Mauer 25 Jahre alt. Das Ereignis soll auf beiden Seiten begangen werden, mit Sonntagsreden und Menschenkette hier, mit Aufmarsch paramilitärischer Betriebskampfgruppen dort. Die Westseite plant ein Totengedenken, die in Ausübung ihres Dienstes hingeschiedenen DDR-Grenzer eingeschlossen. Die Ostseite lädt die Bürger zur Mauer-Reminiszenz ins Museum, Abteilung „Sozialistisches Vaterland DDR“.
Die größte städtebauliche Veränderung der Stadt seit dem Kriege hat das Bewußtsein von Erbauern und Anrainern geformt. Der „stachelbewehrte Wurm“ („Neue Zürcher Zeitung“), der zum vierten Mal ausgebaut, renoviert, erneuert worden ist und sich inzwischen auf 165,7 Kilometer Länge um West-Berlin ringelt, hat die DDR letztlich vor dem ökonomischen Kollaps bewahrt.
Die Abriegelung beendete die „Abstimmung mit den Füßen“, wie Westpolitiker, eine wirtschaftliche Schwächung des Ulbricht-Regimes im Kalkül, den ständigen Menschenstrom aus dem Osten nannten. Allein im August 1961, jenem Wendepunkt, „als es dann plötzlich 13 schlug“ (Schlagzeile der Ost „Berliner Zeitung“), flüchteten 47 437 DDR-Bürger über die damals noch offenen Übergänge von Ost- nach West-Berlin. 50 000 waren bis dahin ohnehin im Westen beschäftigt.
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Je weiter Ost-Berlin das Tor aufmachte – seit 1971 fuhren die West-Berliner zu rund 37 Millionen Ostbesuchen – , desto mehr geriet den Bewohnern die Mauer aus dem Blick. Die gelegentlich auftretende Klaustrophobie kurierten die West-Berliner bevorzugt an der Costa Brava oder auf Sylt, noch heute stehen sie an der Spitze der westdeutschen Urlauber-Statistik. Doch je glatter das Betonband wurde, das die düsteren grobkörnigen und unsauber vermörtelten Hohlblocksteine der ersten Bauphase abgelöst hat, desto aufdringlicher rückte das Mauerwerk wieder ins Stadtbild und ins Bewußtsein der Menschen.
Diese „Schandmauer“, so die Stereotype der ersten Jahre, blieb mit Erinnerungen an die hilflose Ohnmacht gegen die Zerschneidung eines einst natürlich zusammengewachsenen Stadtzentrums behaftet: 193 Haupt- und Nebenstraßen waren abgeriegelt, 74 Übergangsstellen dichtgemacht worden. Rechtsgerichtete Täter, wie 1985 die „Konservative Jugend Deutschlands“, rückten der Mauer mit der Spitzhacke zu Leibe; Ende Juli sprengten bisher Unbekannte gar ein etwa ein Quadratmeter großes Loch in das Bauwerk.
Befrachtet wurde die Abschottung durch Legenden von Sperrbrechern und Fluchthelfern. Belastet wurde jeder Versuch, die Mauer differenziert zu betrachten, durch Flüchtlingsschicksale wie das von Peter Fechter, dessen Name seit dem 17. August 1962 stellvertretend für die „Opfer der kommunistischen Mauer“ (Senatsbroschüre) steht.
Der junge Mann war beim Fluchtversuch auf der Mauerkrone angeschossen worden. 50 Minuten lag er, gerade noch auf Ostgebiet, am Boden, Hunderte von West- und Ost-Berlinern hörten seine Schreie, ein amerikanischer Offizier wagte nicht einzuschreiten: „Sorry, but this isn‘t our problem.“ Selbst alarmierte US-Generäle scheuten die Verantwortung. Als Präsident John F. Kennedy endlich zwecks „Weisung“ unterrichtet worden war, meldete der Lagedienst aus Berlin, der Fall habe sich „soeben erledigt“. Fechter war verblutet.
[…]
Bis heute biegen die meisten West-Berliner am liebsten vor der Mauer ab - es sei denn, sie hätten Besuch von westdeutscher Verwandtschaft. „Die Mauer im Kopf einreißen“, so sieht es der West-Berliner Autor Peter Schneider („Der Mauerspringer“), „wird länger dauern, als irgendein Abrißunternehmen für die sichtbare Mauer braucht“ (siehe auch Seite 47). Der aus der DDR stammende Schriftsteller Karl-Heinz Jakobs traf vor Jahren den Punkt: „Eines Tages wachten wir auf und stellten fest, wir lebten mit der Bombe, mit der Ehe, mit der Mauer.“
Zwischen politischem Fatalismus und dem „tagtäglichen, sonntäglichen und alltäglichen Gleichmut“, den die „Frankfurter Allgemeine“ beobachtete, wechselt denn auch die Mauerbefindlichkeit der Berliner.
Während Mauer-Mahner Axel Springer – das West-Berliner Verlagsgrundstück in der Kochstraße grenzt 410 Meter lang an die Mauer – einst die „grauenhafteste Absurdität“ in Europa anklagte, mögen es die Berliner heute een bißchen kleener.
Seine Frau habe noch 1961 „mit Blumentöpfen auf die Vopos geschmissen“, erinnert sich ein Bewohner des Leuschnerdamms in Kreuzberg. Nun, 25 Jahre später, sitzt er in seiner Geranienpracht auf dem Balkon über DDR-Territorium und zeigt Verständnis für die Weltläufte: „Die Volkspolizisten tun ja auch nur ihre Pflicht.“
Ein Arbeiter vom Bethaniendamm, der in den Tagen nach dem Mauerbau am Brandenburger Tor selber „ohnmächtig die Faust in der Tasche geballt“ hatte, gibt sich heute abgeklärt: „Man lebt damit, man wird alt damit.“
Anmerkungen
Quelle: Wolfgang Bayer, „Man lebt damit, man wird alt damit,“ Der Spiegel 33, 11. August 1986, S. 40–42. © DER SPIEGEL. Wiedergabe auf dieser Website mit Genehmigung des Spiegel Verlags. Online verfügbar unter: https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13518778.html