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Die zweite Heimat: „Gastarbeiter“ erzählen, wie sie in Deutschland Fuß gefasst haben
Sie wollten nur befristet nach Deutschland ein wenig Geld zu verdienen – und sie blieben ein Leben lang. Wannweiler „Gastarbeiter“ haben am Donnerstagabend vor 80 Zuhörern in der Gemeindebücherei von ihren Erfahrungen erzählt.
Wannweil. „Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen.“ Mit diesem Zitat von Max Frisch leitete Hauke Petersen vom Krankenpflegeverein die Veranstaltung ein. Es war in Kooperation mit der Gemeindebücherei schon das fünfte Zeitzeugengespräch. „Zu den Wannweilern, die etwas aus ihrem Leben zu erzählen haben, gehören auch die Mitbürger/innen mit ausländischen Wurzeln“, unterstrich Petersen.
„Ich bleibe gerne, denn meine Kinder sind hier.“ So wie Giuseppina Giani geht es den meisten Migranten. Giani kam 1964 mit 20 Jahren nach Deutschland – gegen den Willen der Eltern. „Sie sagten, die Deutschen sind schlechte Leute.“ Denn ihr Vater hatte im Zweiten Weltkrieg gegen die Deutschen gekämpft. Am Anfang gefiel es der 20-Jährigen gar nicht. „Ich habe viel geweint.“ Sie wohnte mit Landsleuten, verstand nichts, und die Einheimischen waren alles andere als freundlich. Mit ihrem italienischen Mann, den sie in Deutschland kennengelernt hatte, kehrte sie zeitweise zurück nach Italien – aber auch dort war der Neuanfang nicht einfach, so ging die Familie wieder nach Deutschland.
Giani fand wie ihre Kusine Arbeit und Wohnung in der Alten Spinnerei. Nach dem Krieg waren in der Textilfirma zunächst viele Heimatvertriebene beschäftigt, später bis zu 80 Prozent Ausländer. „Wir haben uns mit Händen und Füßen verständigt“, erzählte Eugen Schweizer, der dort seit 1975 Betriebsleiter war. Zwar seien die Löhne schlechter als in der Metallindustrie gewesen, in die damals viele einheimische Beschäftigte wechselten. Aber: „Bei uns konnten die Migranten wohnen und in Schicht arbeiten.“
Die Wohnungen hatten mit einer Ausnahme keine Duschen – es gab Betriebsduschen, die nur freitags und samstags benutzt werden durften. Unter den sechs Nationen habe es Verständigungsprobleme und Konflikte gegeben, erinnerte sich Schweizer. Er hielt sich raus: „Ich musste schauen, dass die Maschinen belegt sind und alles läuft. Was die Leute untereinander hatten, war nicht mein Problem.“
Viele Einwanderer planten eigentlich, nur befristet in Deutschland zu bleiben. „Ich wollte nur ein Jahr arbeiten, ein bisschen Geld verdienen und dann zurück“, erzählte Ali Alpaslan. Eigentlich heißt er Alparslan. Das „r“ in seinem Nachnamen hatte die Einwanderungsbehörde beim Ausstellen des Passes unterschlagen.
Er kam 1973 aus der Türkei, arbeitete auf Baustellen. Auf der Fahrt zum Bewerbungsgespräch zeigte er den Kollegen mit Keksen, wie man Mauern baut. Über verschiedene Stationen kam er 1988 zum damaligen Flender-Himmelwerk nach Kilchberg, wo er bis zur Rente als Springer arbeitete. Längst hat er ein Haus in Wannweil, seine Kinder und Enkel leben hier. „In Deutschland sagen mir die Leute Grüßgott. In der Türkei kenne ich niemanden mehr.“ Dennoch würde er heute nicht nach Deutschland gehen, wenn er nochmals die Wahl hätte.
Immer wieder in das kleine türkische Dorf, in dem er aufgewachsen ist, kehrt Mehmed Türkoglu zurück. Er spricht auch nach über 40 Jahren nur wenig deutsch, seine Tochter Ayse Bonhafa dolmetschte. Die Mutter war zuerst nach Deutschland gekommen – nach Nürnberg, später nach Wannweil in die Alte Spinnerei. Sie heiratete in der Türkei, der Mann kam nach. Die Mutter habe weniger Sehnsucht nach der alten Heimat. Und Tochter Ayse kennt das Land nur vom Urlaub. „Wir sind auch dort Ausländer“, sagte sie.
Viele Migranten lebten in der Wannweiler Fallenbachstraße. „Da haben wir Ausländer ein eigenes Land gebildet“, erzählte Ayse Bonhafa. „Wir waren wie eine Familie. Jeder hat jeden gekannt. Eine kleine Heimat.“ Übereinstimmend berichteten alle auf dem Podium von deutschen Nachbarn, Arbeitskollegen und Einzelhändlern, die ihnen halfen, Fuß zu fassen.
Abdullah Sezgin kam 1970 im Alter von 15 Jahren nach Deutschland. Der Vater arbeitete bei Daimler in Sindelfingen, Abdullah zunächst als Lackierer bei der AEG. Er erzählte vom Vorstellungsgespräch, das er, ohne ein Wort Deutsch zu können, bestritt. Später wurde Sezgin Maler in Pfullingen. Er kehrte zurück in die Türkei, absolvierte dort seinen Militärdienst, ließ sich sogar das deutsche Visum aus dem Pass streichen.
Doch dann packten ihn Zukunftssorgen, er rief beim früheren Chef an, und der schickte eine neue Einladung nach Deutschland. 1976 ging Sezgin wieder hierher, ein Jahr später holte er die Frau und den Sohn nach. Die Frau fand Arbeit in der Spinnerei. Sezgin ging zu Daimler ans Fließband, später war er fünf Jahre lang Vertrauensmann. Heute ist er im Ruhestand. Er hat mit den Söhnen, die bei Bosch und Daimler arbeiten, in Wannweil ein Haus gebaut. „Ich fühle mich nicht wie ein Ausländer hier – vielleicht, weil ich so jung hergekommen bin“, sagte er.
„In den 1970er Jahren war die goldene Zeit für Gastarbeiter“, sagte Abdullah Sezgin. Heute dagegen raten die Migranten ihren Landsleuten, nur dann nach Deutschland zu kommen, wenn sie die Sprache schon beherrschen und einen Beruf gelernt haben. Zuhörer und Podiumsteilnehmer waren beeindruckt vom Dialog in der Wannweiler Gemeindebücherei – die Migrant(inn)en hatten noch nie öffentlich aus ihrem Leben erzählt. „So eine Veranstaltung hätte man schon früher machen können", fand Ali Alpaslan.
Quelle: Matthias Reichert, „Die zweite Heimat: ‚Gastarbeiter‘ erzählen, wie sie in Deutschland Fuß gefasst haben“, Schwäbisches Tagblatt, 9. November 2013. © Schwäbisches Tagblatt. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung. Online verfügbar unter: https://www.tagblatt.de/Nachrichten/Gastarbeiter-erzaehlen-wie-sie-in-Deutschland-Fuss-gefasst-haben-103210.html