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Ein Ende der Krise ist nicht in Sicht
Die europäische Stahlkrise ruft immer drängender nach Lösungen. Mit den nicht unumstrittenen Vorschlägen der „Stahlmoderatoren“ liegt nun ein Konzept der Stahlindustrie für die Bundesrepublik vor. Seine Realisierungschancen sind gegenwärtig noch nicht abzuschätzen. Wie kam es zur Stahlkrise? Ist eine schnelle Gesundung der Stahlindustrie zu erwarten?
Die einst blühende Stahlindustrie in den Ländern der Europäischen Gemeinschaft befindet sich seit 1975 in einer schweren Krise. Voll betroffen ist davon auch die Stahlindustrie in der Bundesrepublik Deutschland: Ihre Rohstahlerzeugung hatte im Jahre 1974 mit 53 Mill. t ihren Höhepunkt erreicht. Im Jahre 1982 wurden dagegen nur noch 36 Mill. t erschmolzen, was bei betriebsbereiten Kapazitäten von 68 Mill. t[1] einer Auslastung der Anlagen von nur 53% entspricht.
Die Ursachen der Stahlkrise in den Ländern der Europäischen Gemeinschaft reichen bis weit in die sechziger Jahre zurück. Das inflationsgetriebene gesamtwirtschaftliche Wachstum jener Dekade – im Durchschnitt der westlichen Industrieländer wuchs das Sozialprodukt um jahresdurchschnittlich 5% – drückte den Stahlverbrauch kräftig in die Höhe und regten den Bau immer neuer Stahlwerke an. Der Stahlbedarf schien grenzenlos zu sein, innerhalb der Europäischen Gemeinschaft hatte er um jährlich 4½%, in der Welt sogar um 6% zugenommen. Die schwere Krise der Stahlmärkte in den Jahren 1971/72 war zwar ein erstes Warnzeichen gegen die Fortschreibung solcher Zuwächse, der Inflations- und Stahlboom der Jahre 1973/74 – im Rückblick die Schaumkrone der sich brechenden Welle – ließ jedoch aufkeimende Befürchtungen rasch vergessen.
Verlust an Wettbewerbsfähigkeit
Aber nicht nur der künftige Stahlbedarf wurde falsch eingeschätzt, auch die Veränderungen der Wettbewerbsfähigkeit wurden nicht ausreichend klar erkannt. In den fünfziger Jahren war die Stahlindustrie in den Ländern der Europäischen Gemeinschaft zum führenden Stahllieferanten der übrigen Welt herangewachsen.[2] Diese Position wurde zwar im Verlauf der sechziger Jahre mehr und mehr erschüttert und schließlich von den aufstrebenden Stahlunternehmen in Japan übernommen.[3] Die Stahlwerke in der Europäischen Gemeinschaft wollten aber durch Investitionen im Stile der japanischen Konkurrenten gegenhalten. Blütenträume von riesigen Stahlwerken mit einer Kapazität von 15 Mill. Jahrestonnen – die alten integrierten Werke erreichten nur 2 bis 4 Mill. t – an den Küsten Europas[4] beherrschten die Vorstellungen. Der sich abzeichnenden Verschlechterung der Wettbewerbsfähigkeit von integrierten Großstahlwerken in hochindustrialisierten Ländern wurde, beeindruckt von der technischen Produktivität der modernen Großaggregate,[5] wenig Beachtung geschenkt.
Die Vorteile bei der Stahlherstellung in Japan beruhten nicht nur auf dem Einsatz hochproduktiver Großtechnologie und Organisation der Rohstoffbeschaffung. Sie ergaben sich auch aus niedrigen Lohnkosten und einem im Zuge der rasch fortschreitenden Industrialisierung mehr als doppelt so schnell wie in den Ländern der Europäischen Gemeinschaft wachsenden inneren Stahlverbrauch. Deshalb konnte der Wettbewerbsvorsprung Japans durch Großinvestitionen in den Ländern der Europäischen Gemeinschaft zwar verringert, nicht aber eingeholt werden.
Solche Vorteile waren zudem nicht auf Japan beschränkt, sondern stellten sich zunehmend auch in einer Reihe von neuen, aufstrebenden Industrie- und Entwicklungsländern ein, die zuvor Stahl aus Europa bezogen hatten und nun in rascher Folge zur eigenen Stahlerzeugung übergingen.[6] Zu alledem entstand den integrierten „Riesen“ auch innerhalb der Europäischen Gemeinschaft eine überlegene Konkurrenz – die flexibleren „Mini-Stahlwerke“ machten ihnen im Bereich der „leichten Profile“ erfolgreich den Markt streitig.[7]
Riesige Überkapazitäten
Mit der Krise im Jahre 1975 begann der Kreuzweg der Stahlindustrie in der Europäischen Gemeinschaft. Die Rohstahlerzeugung in der Welt brach um 9%, die in der Europäischen Gemeinschaft um 19 % und die in der Bundesrepublik sogar um 24% ein.
Was zunächst nur ein zyklischer Abschwung zu sein schien, erwies sich immer mehr als Dauerzustand:
-- Der Stahlverbrauch in der Gemeinschaft stagniert, ja geht sogar zurück,
-- Die Exportmärkte wuchsen nur wenig und werden härter als je zuvor umkämpft.
Kräftiges Wachstum gab es allein bei der Kapazität, denn wegen der langen Ausreifezeit von
Investitionen in der Stahlindustrie hatten die im Stahlboom der Jahre 1973/74 beschlossenen Expansionsvorhaben noch mehrere Jahre lang Kapazitätserweiterungen zur Folge, zumal der nachhaltige Wandel zunächst nicht gesehen und erst Ende der siebziger Jahre eindeutig erkannt wurde.[8]
Von 1970 bis 1980 wuchs die Stahlkapazität in den Ländern der Europäischen Gemeinschaft von knapp 160 Mill. t auf reichlich 200 Mill. t. Der innere Stahlverbrauch fiel dagegen um 20 Mill. t auf rund 100 Mill. t zurück. Der Export ließ sich trotz erheblicher Preiszugeständnisse kaum steigern, obwohl der Stahlbedarf in den jungen Industrie- und Entwicklungsländern – anders als in den hochindustrialisierten Ländern – auch in den siebziger Jahren kräftig wuchs.
Faßt man die Länder Lateinamerikas, Afrikas, des Mittleren und Fernen Ostens (ohne Japan und die Volksrepublik China) zusammen, so stieg deren Stahlbedarf von knapp 40 Mill. t im Jahre 1970 um jahresdurchschnittlich 8½ % auf 90 Mill. t im Jahre 1980. Dieser Anstieg wurde jedoch fast vollständig aus eigener Erzeugung gedeckt. Die Rohstahlerzeugung in diesen Ländern wuchs von 20 Mill. t um jahresdurchschnittlich 11% auf fast 60 Mill. t, ihr Anteil an der Erzeugung in der Welt erhöhte sich von 3,5 auf 8%[9].
Der Anteil der Erzeugung in den Ländern der Europäischen Gemeinschaft an der Weltproduktion fiel dagegen im gleichen Zeitraum von 23 auf 18%. Der Produktionshöchststand im Jahre 1974 – damals wurden 155 Mill. t Rohstahl erschmolzen – ist seitdem auch nicht annähernd wieder erreicht worden, die Kapazitätsauslastung war seit 1975 nie höher als 70%.
Versäumte Anpassung
Eine solche hartnäckige Unterauslastung ist selbst für die in langen Zeiträumen planende Stahlindustrie ungewöhnlich: die erforderliche Anpassung der Kapazität an die verringerte Nachfrage ist dennoch bisher nicht erfolgt.
Die Gründe dafür sind vielfältig. Sie hängen einerseits eng mit der immer mehr um sich greifenden regional- und arbeitsmarktpolitisch begründeten staatlichen Subventionierung der Stahlindustrie,[10] andererseits aber auch damit zusammen, daß die integrierten Hüttenwerke zum Sterben zu groß, zur Anpassung innerhalb bestehender Unternehmen aber zu klein sind. Daher wurden vermutlich in der – vergeblichen – Hoffnung auf das Ausscheiden von Konkurrenten jahrelang Verluste hingenommen.[11]
In der Sackgasse
Das von der Kommission der Europäischen Gemeinschaft – sie ist nach dem Montanunion-Vertrag von 1951 für die Stahlpolitik zuständig – seit 1977 verfolgte Ziel der „Restrukturierung“ sah zunächst eine Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit ohne einschneidenden Kapazitätsabbau vor. Im Laufe der Jahre erwuchs daraus jedoch ein immer dichter werdendes Geflecht von Preis-, Produktions- und Handelsüberwachungen. Zudem begannen in vielen Ländern immer stärker Erhaltungssubventionen für die Stahlunternehmen – nach dem Montanunion-Vertrag sind sie ausdrücklich verboten – zu wuchern, so daß die nicht begünstigten Unternehmen zunehmend in Schwierigkeiten gerieten.
Der Weg, nur die Wettbewerbsfähigkeit zu steigern, erwies sich wegen der hartnäckigen Schwäche der Nachfrage inzwischen als Sackgasse. Nun soll der zuvor versäumte Abbau von Kapazitäten in einem Parforce-Ritt bis 1985 nachgeholt werden,[12] und zwar ohne daß das Ziel der „Opfergleichheit“ zwischen den einzelnen Stahlunternehmen der Länder der Europäischen Gemeinschaft aufgegeben wird, das auf den unterschiedlichen Stand der Produktivität nur wenig Rücksicht nimmt.
Auch die Bundesregierung hatte der um sich greifenden Subventionierung der Stahlunternehmen in den anderen Ländern der Europäischen Gemeinschaft lange Zeit nur unzureichenden Widerstand entgegengesezt, wohl in der Hoffnung, die im Schnitt produktiveren deutschen Unternehmen würden im Wettbewerb mit den staatlich subventionierten mithalten können. Doch diese Hoffnung trog: Die subventionierten Konkurrenten in den anderen Ländern haben ihre Betriebe inzwischen mit Staatshilfe zum Teil erheblich modernisiert, während die Werke in der Bundesrepublik die dafür notwendige Substanz verloren und inzwischen selbst auf Subventionen angewiesen sind,[13] so daß sich nun das Ende 1981 auf Druck der Bundesregierung erreichte Verbot von Subventionen[14] in fast tragischer Weise gegen sie und die Stahlindustrie in der Bundesrepublik kehrt.
Zukunftsaussichten
Als Anbieter auf den Weltmärkten wird die Stahlindustrie in der Europäischen Gemeinschaft auch künftig weiter an Boden verlieren. Für die Herstellung von Massenstahl wird wenig hochqualifizierte Arbeit benötigt, so daß junge Industrieländer, in denen der Stahlverbrauch mit der Industrialisierung rasch wächst und in denen die Arbeitskosten niedriger als in den Ländern der Europäischen Gemeinschaft sind, zu einem überlegenen Produktionsstandort werden, zumal dort die Bezugs- und Absatzwege häufig günstiger sind als hier[15]. Der nach wie vor beträchtliche Stahlausfuhrüberschuß der Länder der Europäischen Gemeinschaft wird sich also künftig wohl vermindern.
Die Erzeugung hängt daher weniger von der Entwicklung des Stahlverbrauchs in der Welt, als vielmehr vom Verbrauch in den Ländern der Europäischen Gemeinschaft selbst ab. Bei Fortdauer des niedrigen gesamtwirtschaftlichen Wachstums ist ein weiterer Rückgang des Stahlverbrauchs vorgezeichnet, denn in hochindustrialisierten Ländern wächst der Stahlverbrauch nur bei einem gesamtwirtschaftlichen Wachstum von mehr als 3 bis 4% pro Jahr. Solche Zuwachsraten gelten für die nächsten Jahre als unwahrscheinlich, so daß ein Hereinwachsen der Nachfrage in die bestehenden Kapazitäten nicht zu erwarten steht.
Ein weiteres Aufrechterhalten der Kapazität würde vermutlich rasch wachsende staatliche Subventionen erfordern und damit Mittel binden, die in anderen Bereichen wachstumsgerechter angelegt werden könnten, zumal die komparativen Vorteile der Länder der Europäischen Gemeinschaft sicher nicht bei der Herstellung von Stahl liegen. Es bleibt also nur ein rascher Abbau der Überkapazitäten. Über das Wieviel, Wo und Wie gehen die Meinungen auseinander, hier sind vor allem die Stahlunternehmen selbst gefordert.
[…]
Anmerkungen
Quelle: Helmut Wienert, Ein Ende der Krise ist nicht in Sicht: Stahlkrise, Wirtschaftsdienst, Band 63, 2. Hamburg: Verlag Weltarchiv, 1983, S. 72–75. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung des Autors.