Quelle
Ein Schlingerkiel für die Entspannung
Bilanz und
Ausblick zehn Jahre nach Helsinki
In Helsinki, wo sie vor zehn Jahren feierlich die „Schlußakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ verabschiedeten, treffen die Vertreter der 35 Unterzeichnerstaaten in der nächsten Woche erneut zusammen. So glanzvoll wie damals wird es diesmal nicht zugehen, auch nicht so erwartungsvoll; die Entspannungseuphorie ist längst verflogen.
Vor zehn Jahren noch versammelten sich die wichtigsten Männer der Ersten und Zweiten Welt zum Gruppenphoto in Finnlands Hauptstadt: Breschnjew und Ford, Giscard und Schmidt, Tito und Trudeau neben 29 anderen. Die Konferenz war, wie das Europa-Archiv damals schrieb, „das merkwürdigste diplomatische Unternehmen dieses Jahrhunderts“, schwer zu fassen in seiner Bedeutung und Auswirkung. Nur die Gegner wußten genau, was davon zu halten war. Ein „Jahrmarkt der Attrappen“, tönte die CDU-Fraktion damals. Eine Komödie, urteilte der französische Publizist Raymond Aron: „Noch nie hat eine Konferenz so lange gedauert und so viele Diplomaten zusammengebracht, um derart lächerliche Ergebnisse zu zeitigen.“ Und selbst Henry Kissinger, 1975 als amerikanischer Außenminister dabei und um griffige Formeln nie verlegen, mochte sich nichts Überliefernswertes entlocken lassen, als ein jugoslawischer Journalist ihn in den Konferenzkorridoren aufforderte, doch „etwas Historisches“ zu sagen.
Die zehn Jahre seither haben die Antwort auf die Frage gegeben, was die Helsinki- Konferenz kann und was nicht. Die Grenzen in Europa hat sie nicht neu fixiert, die waren längst durch die Kraft des Faktischen auf der Landkarte Europas festgenagelt und noch vor dem Treffen in den Ostverträgen der Bundesrepublik anerkannt worden. Abrüstung hat sie nicht ermöglicht; eine Neuerung der Konferenz, die „vertrauensbildenden“ Maßnahmen gegenseitiger Information über bevorstehende militärische Bewegungen, sind ein schüchterner, armer Verwandter der Rüstungskontrolle geblieben. Den „freien Austausch der Menschen und Ideen“ zwischen Ost und West hat Helsinki als Ziel formuliert, aber nicht verwirklichen können.
Die Barrieren des östlichen Systems waren einfach zu hoch, als daß eine bloße Absichtserklärung sie hätte überwinden können. Gerade jetzt sind wir erneut daran erinnert worden: Kurz vor dem zehnten Jahrestag beschuldigt die Schweizer Sektion von amnesty international die Sowjetunion der Folter an politischen Gefangenen, berichtet das Bonner Innerdeutsche Ministerium von vielerlei Verboten, mit denen DDR-Bürgern immer noch Kontakte zu Westdeutschen untersagt werden. Wer je von der Helsinki-Schlußakte einen Durchbruch zur ungestörten Zusammenarbeit zwischen Ost und West erhofft hatte, ist von den letzten zehn Jahren eines Besseren belehrt worden.
Wichtige Erfahrungen
Aber dieser zunächst enttäuschenden Bilanz stehen drei wichtige Erfahrungen entgegen:
Erstens: Die Schlußakte hat sich nicht bloß als Bestätigung des europäischen Status quo erwiesen, wie die Sowjets dies angestrebt hatten. Sie sahen in der Schlußakte vor allem den Ersatz für einen europäischen Friedensvertrag nach ihrem Gusto – die multilaterale Anerkennung des sozialistischen Lagers und seiner Grenzen. Aber mit diesem Konzept hat sich Moskau nicht durchsetzen können. Vielmehr mußte es die gesuchte Anerkennung des Bestehenden bezahlen mit der Legitimierung des Wandels, auch im eigenen Einflußbereich.
So enttäuschend langsam dieser Wandel auch verläuft, so demütigend stürmischere Umwälzungen, wie die Solidarnośč in Polen, immer wieder gewaltsam gebändigt werden – niemand kann heute bezweifeln, daß in den Ländern Osteuropas der Freiheitsraum des Einzelnen gewachsen ist. Hat Helsinki dafür den Ausschlag gegeben? Das läßt sich nicht beweisen. Aber eins ist sicher: Die Konferenz hat dem Wandlungsprozeß Flankenschutz gegeben. Veränderungen im Ost-West-Verhältnis sind nun einmal nicht gegen die kommunistischen Regime, sondern letztlich nur mit deren Duldung möglich. Sie sind weder im Wege politischer Destabilisierung à la Herbert Hupka, noch ungebremster Prinzipienreiterei à la Jimmy Carter durchzusetzen, sondern können sich allenfalls als Folge einer bemessenen, aber ständigen Entwicklung ergeben. Daß die Länder des Ostens dieser Entwicklung Tür und Tor öffnen würden, konnte niemand erwarten. Aber sie haben – auch mit Hilfe Helsinkis – die Tür wenigstens einen Spaltbreit öffnen müssen.
Zweitens: Helsinki ist Diplomatie auf Raten. Was Aron als Schwäche kritisierte, die endlosen Sitzungen unzähliger Diplomaten, ist in Wahrheit der Geniestreich des Unterfangens. Entspannung ist eben kein Zustand, sondern ein Prozeß, und dem entspricht, daß Helsinki nie abgeschlossen sein wird. Der Vorbereitungskonferenz folgt die Hauptkonferenz, der Hauptkonferenz das Expertengespräch, dem Expertengespräch die Nachfolgekonferenz - der Ball bleibt im Spiel. Immer wieder wird das Erreichte durch neue Absprachen diplomatisch eingedeicht, immer wieder werden die Taten der Regierungen an ihren Worten gemessen. Trotz aller völkerrechtlichen Unverbindlichkeit der Schlußakte wächst so ein Maßstab für internationales Verhalten heran.
Drittens: Helsinki hat die Ost-West-Beziehung europäisiert und damit stabilisiert. Unter das schlingernde Schiff der Entspannung haben die Schlußakte und die Folgekonferenzen einen Kiel gelegt, der die Ausschläge zwar nicht verhindert, aber vermindert – vor allem jene, die aus Verstimmungen zwischen Moskau und Washington herrühren. Die Macht und Gewichtsunterschiede zwischen den Großen und den Kleinen wurden dadurch nicht eingeebnet; wenn die Weltmächte nicht miteinander auskommen, dann bleibt, wie die jüngste Vergangenheit zeigt, auch der Spielraum ihrer Verbündeten und der bindungsfreien Staaten begrenzt. Doch hat das Helsinki-Forum den Kleinen ein Betätigungsfeld eröffnet, auf dem sie die Beziehungen zwischen den Supermächten ergänzen und die Großen in den Prozeß einbinden können.
Die Entspannungspolitik nicht allein den Großen zu überlassen – das war ja schon 1975 der Wunsch der meisten Europäer, als die Bonner Ostverträge, das Berlin- Abkommen und die Abrüstungsvereinbarungen zwischen Nixon und Breschnjew zu dem bisher umfassendsten Bündel der ost-westlichen Kooperation geschnürt wurden. Später, als zwischen Washington und Moskau die Gereiztheit zunahm, gab die Sicherheitskonferenz den Europäern ein diplomatisches Instrument an die Hand, den Dialog fortzusetzen – wie 1983 auf der Folgekonferenz in Madrid – und ihn sogar ein wenig voranzubringen – wie 1984 auf der Stockholmer Tagung über vertrauensbildende Maßnahmen. Die Europäer, voran die Bundesrepublik, haben dieses Instrument eifrig benutzt. Die Gefahr eines westlichen Auseinanderdriftens, die manche Warner 1975 beschworen, hat sich nicht bestätigt. Im Gegenteil: Selten hat die außenpolitische Zusammenarbeit der westlichen Länder besser funktioniert.
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Dennoch: Der Rahmen, der vor zehn Jahren in Helsinki zusammengezimmert worden ist, kann inmitten aller Ungewißheiten auf der nächsten Etappe der Ost- West-Diplomatie Halt geben. Die Prozedur und das Ziel für die Entspannungspolitik in Europa sind abgesteckt. Der Schlingerkiel ist in Position. Er hat in den vergangenen Jahren, als die Wogen des Mißtrauens zwischen Ost und West hochgingen, das Schiff vorm Kentern bewahrt. Die Minister kommen in der nächsten Woche deshalb nicht nur zu einem Klassentreffen der Erinnerungen zusammen. Sie können an der Zukunft weiterbauen.
Quelle: Christoph Bertram, „Ein Schlingerkiel für die Entspannung“, Zeit, Nr. 31/1985. © Die Zeit. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung. Online verfügbar unter: https://www.zeit.de/1985/31/ein-schlingerkiel-fuer-die-entspannung