Kurzbeschreibung

Richard Schröder, ein Theologe und aktives Mitglied in der Friedensbewegung der DDR, erinnert sich an die bescheidenen Anfänge der Friedensgebete in der Leipziger Nikolaikirche. Außerdem beschreibt er die Konflikte, die zwischen den kirchlichen Autoritäten und den engagierten ostdeutschen Bürgern bei der Organisation dieser Gebetstreffen entstanden. Die Leipziger Friedensgebete sendeten ein Signal an andere Orte der DDR, wo ähnliche Veranstaltungen entstanden.

Die Nikolaikirche und die Friedensgebete (Rückblick, 2014)

Quelle

Vor 25 Jahren
Schwerter und Pflugscharen

Die Erinnerung an den Herbst 1989 ist im Westen meist mit dem Datum des 9. November verbunden: Mauerfall. Im Osten markiert der 9. Oktober die Wende: In Leipzig brachten die Montagsdemonstranten die SED-Diktatur zu Fall. Wir dokumentieren eine gekürzte Fassung der Laudatio auf die Montagsdemonstrationen aus Anlass der Verleihung des Nationalpreises 2014 der „Deutschen Nationalstiftung“.

Die Erinnerung an den Herbst 1989 kommt in Ost und West mit verschiedenen Akzenten daher. Im Westen ist der 9. November das entscheidende Datum, weil die Öffnung der Berliner Mauer den Weg zur deutschen Einheit öffnete. Im Osten ist für viele der 9. Oktober das Schlüsseldatum, weil der Erfolg dieser Montagsdemonstration die SED-Diktatur zu Fall brachte.

Die Montagsdemonstrationen nahmen ihren Ausgang von den Friedensgebeten, die an jedem Montag um 17 Uhr in der Leipziger Nikolaikirche stattfanden. Und die kamen so zustande: 1978 führte die DDR-Bildungsministerin Margot Honecker ein neues Schulfach ein: Wehrerziehung. Das stieß auf den Protest vieler Eltern. Die Evangelische Kirche forderte dagegen eine Erziehung zum Frieden – vergeblich. Darauf beschloss sie, in jedem Jahr an den letzten zehn Tagen des Kirchenjahres eine Friedensdekade abzuhalten mit täglichen Friedensandachten.

1980 fand die erste Friedensdekade statt. Der Dresdner Jugendpfarrer Harald Brettschneider hatte für diese Andachten eine Materialmappe für die Gemeinden erstellt, dazu ein Lesezeichen, gedruckt auf Vlies. Es zeigte eine sowjetische Plastik von Jewgeni Wutschetisch, nämlich einen Mann, der aus einem Schwert eine Pflugschar schmiedet. Diese Plastik hatte die Sowjetunion 1959 den Vereinten Nationen geschenkt. Sie nahm ein biblisches Motiv des Propheten Micha auf, wo es heißt: „In den letzten Tagen werden die Völker zum Zion kommen und sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen umschmieden.“ Es konnte doch wohl nicht verboten sein, diese sowjetische Plastik, umgeben mit den Worten „Schwerter zu Pflugscharen“ und der Angabe „Micha 4“, auf Vlies drucken zu lassen (und zwar deshalb auf Vlies und nicht auf Papier, weil das Bedrucken von Papier der Zensur unterlag, das Bedrucken von Textilien dagegen als Oberflächenveredelung galt)?

Deshalb ließ sich das Lesezeichen, was gar nicht beabsichtigt war, gut auf Jackenärmel nähen. Lehrer und Polizisten begannen daraufhin eine Jagd auf dieses Abzeichen. Es musste sofort entfernt werden, oder die Jacke wurde beschlagnahmt. Studenten wurden deshalb exmatrikuliert. Manche Jugendliche nähten sich daraufhin einen weißen Fleck auf den Ärmel mit der Inschrift: „Hier war ein Schmied“.

Diese Friedensdekade fand auch in der Leipziger Nikolaikirche statt. Zu den wöchentlichen Friedensandachten in Nikolai kam es so: In Leipzig-Probstheida stand für die Gemeindearbeit nur eine Zweiraumwohnung zur Verfügung. Nach einem Planungsfehler standen eines Abends zwei Gruppen vor der Tür, die 15- bis 19-Jährigen der Jungen Gemeinde und der Bibelkreis, Alter 60 aufwärts. Was tun? Der Jugenddiakon Günther Johannsen schlug vor: Dann redet eben heute mal Jung mit Alt. Die Alten fragten: Warum provoziert ihr Jungen mit den Aufnähern „Schwerter zu Pflugscharen“ den Staat und riskiert eure Zukunft? Die Jungen antworteten: Der Staat wird immer militanter, wir werden massiv bedrängt, drei oder gar zehn Jahre in der Volksarmee zu dienen, sonst dürfen wir nicht studieren. Die Alten waren erstaunt. Das wissen wir ja alles gar nicht. Da wurde die Idee eines Friedensgebetes geboren: im Stadtzentrum, nach Arbeitsschluss und montags, weil das der Pastorensonntag ist.

Man wandte sich an den Superintendenten Friedrich Magirius, der die Idee befürwortete. Der Kirchenvorstand unter Vorsitz von Pfarrer Christian Führer hatte viele kritische Fragen, öffnete aber schließlich die Kirchentüren. Damit begann die sehr wechselvolle und oft streitbelastete Geschichte der wöchentlichen Friedensgebete in Nikolai. Richtig begeistert war der Kirchenvorstand über die Friedensgebete nicht. Das bringt uns Ärger, die Stasi wird auf uns aufmerksam, am Ende gibt es Verbote und Auflagen und Dauerkontrolle. Und so kam es ja auch. Pfarrer Führer und Superintendent Magirius haben das Verdienst, dass sie trotz mächtigen staatlichen Drucks kein einziges Montagsgebet abgesagt und keines an einen anderen Ort verlegt haben, und das acht Jahre lang. Dadurch wurden die Nikolaikirche und ihr Vorplatz zur Institution.

Die Anfänge allerdings waren deprimierend. Zum ersten Friedensgebet 1982 kamen sieben, zum zweiten elf, zum dritten dreizehn Teilnehmer. Sie trösteten sich mit einem Wort Jesu: „Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.“ Ein Jugendlicher aus Probstheida malte ein Plakat mit dem Motiv „Schwerter zu Pflugscharen“, das noch heute zur Erinnerung in der Nikolaikirche zu sehen ist. Im November 1983 kam es zum ersten Mal zu einer Demonstration nach einem Friedensgebet. Etwa 50 Jugendliche setzten sich auf dem Markt mit Kerzen in einem Kreis auf den Boden, ohne Sprechchor, ohne Plakat. Sechs Teilnehmer wurden für diese Freveltat zu Haftstrafen bis zu zwei Jahren verurteilt.

Für die weitere Geschichte der Montagsgebete wurde Christoph Wonneberger wichtig. Er war zuvor Pfarrer in Dresden und hatte sich durch die Idee eines Sozialen Friedensdienstes (SOFD) profiliert, die in den Synoden der Landeskirchen zunächst Unterstützer fand, aber von der SED als Wehrkraftzersetzung bekämpft wurde. Darauf entzogen die Kirchenleitungen der Idee ihre Unterstützung und gaben sich mit dem Institut der Bausoldaten (Soldaten ohne Waffendienst) zufrieden, das es in keinem anderen sozialistischen Land gab. Und sie erreichten Haftverschonung für Totalverweigerer.

Wonneberger übernahm im September 1987 die Koordinierung der Friedensgebete in Nikolai. Inzwischen hatte Gorbatschow Glasnost und Perestrojka verkündet und selbst in der DDR neue Hoffnungen geweckt. Auch in Leipzig hatten sich Gruppen von aufmüpfigen Jugendlichen gebildet, darunter die Initiativgruppe Leben (IGL) und die Arbeitsgruppe Menschenrechte, die sich auf die Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) aus dem Jahr 1975 in Helsinki berief. Das Interesse dieser Gruppen war politisch. Die Nikolaikirche war für sie ein geschützter Raum und eine Bühne, aber an Gebet und Gottesdienst hatten sie kein Interesse. Darin lag der Stoff für einen kräftigen Konflikt, auch zwischen Pfarrern.

Wonneberger ließ jenen Gruppen alle Freiheiten, Führer und Magirius wollten das Gemeindeleben nicht durch die Montagsgebete gefährdet sehen. Als „Hausherren“ wurden sie vom Staat für alles verantwortlich gemacht, was in der Nikolaikirche geschah. Nach dem letzten Friedensgebet vor der Sommerpause 1988 entband Magirius Wonneberger von der Aufgabe der Koordination und schloss die besagten Gruppen von der weiteren Gestaltung der Friedensgebete aus. Beim nächsten Friedensgebet wollten Vertreter der Gruppen eine Protesterklärung verlesen, aber Magirius schaltete das Mikrofon ab. Als die Orgel den Protest übertönte, schalteten Gruppenvertreter den Motor der Orgel ab. Man darf sich die Friedensgebete nicht als Idylle und Übung in christlicher Eintracht vorstellen.

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Quelle: Richard Schröder, „Schwerter und Pflugscharen,“ Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5. Oktober 2014. © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Online verfügbar unter: http://www.faz.net/aktuell/politik/die-gegenwart/vor-25-jahren-schwerter-und-pflugscharen-13190515.html