Kurzbeschreibung

Diese ausführliche Rezension von Günter Grass’ Roman Hundejahre beschreibt die literarischen Bemühungen von Grass und anderen Nachkriegsautoren, mit dem Erbe der NS-Diktatur fertig zu werden. Indem sie die grenzenlose Absurdität der Diktatur in pikaresken Details entlarvten, trugen diese kritischen Schriftsteller dazu bei, eine Generation antifaschistischer Intellektueller in Westdeutschland heranzuziehen.

Günter Grass’ Hundejahre (1963)

Quelle

Einen „Brocken, an dem Rezensenten und Philologen mindestens ein Jahrzehnt lang zu würgen haben“, so nannte Hans Magnus Enzensberger 1959 die „Blechtrommel“.

In diesen Tagen, das Jahrzehnt ist noch nicht herum, gibt „Blechtrommel“-Autor Günter Grass der literarischen Welt einen neuen, nicht minder monströsen Brocken zu würgen: den 684-Seiten-Roman „Hundejahre“.

Fast vier Jahre lang, seit Fertigstellung der „Blechtrommel“, hat der heute 35jährige Erzähler, Dramatiker, Lyriker und Graphiker Grass an seinem zweiten Roman gearbeitet. Als er zwischendurch einmal nicht recht vorankam, schob er die Novelle „Katz und Maus“ ein - sie konnte sein Renommee kaum mehren oder mindern. Erst die „Hundejahre“ werden den ungewöhnlichen Erfolg des aus Danzig stammenden, in Berlin lebenden Autors auf die Probe stellen: Mit der „Blechtrommel“ hatte Günter Grass der deutschen Nachkriegsliteratur einen ihrer wenigen Welterfolge erschrieben.

Das realistisch-phantastische 734-Seiten-Epos vom deutsch-kaschubischen Glas-Zersinger Oskar Matzerath, der als Dreijähriger sein Wachstum einstellt, um die Welt, die er als universales Schlamassel erkannt hat, nur noch aus der Giftzwerg-Perspektive zu sehen, hatte 1959 den größten Teil deutscher Nachwuchsdichtung in den Schatten gestellt.

Grotesk und obszön, lästerlich und tendenzfrei, vital, aber alles andere als naiv, machte die „Blechtrommel“ Furore und Skandal, erregte sie Ekel und Enthusiasmus. Sie lehrte schließlich auch das Ausland, daß von zeitgenössischer deutscher Literatur nun wieder mehr zu erwarten war als lederne Zeitkritik und verblasenes Experiment, mehr als Gesinnungsernst und Einfallsarmut, als brave Moral und stumpfer Stil. Mit seinem „wilden und bizarren Gesang“, so befand der Pariser „Express“, habe Grass der „zahmen deutschen Literatur wieder Klang verliehen“.

Was keinem hochliterarischen deutschen Buch nach 1945 gelang, schaffte der Grass-Roman: „Le tambour“ wurde 1961 in Frankreich, „The Tin Drum“ 1963 in den USA zum Bestseller. Die französische Auflage liegt heute bei 60 000, die amerikanische über 90 000. Im nächsten Frühjahr kommt eine Paperback-„Blechtrommel“ auf den US-Markt; Erstauflage: 100 000. Die deutsche Gesamtauflage (einschließlich Taschenbuch- und Buchklub-Ausgaben) beträgt rund 300 000. In Frankreich wurde die „Blechtrommel“ von einer Jury unter dem Vorsitz des „Zazie“-Autors Raymond Queneau zum „besten ausländischen Buch des Jahres“ erwählt; vier US-Buchklubs setzten sie auf ihre Listen.

Mit Anstrengung und Ausdauer kauten die Kritiker den epischen Brocken durch. Der „durch die Erinnerungen eines pikaresken Zwerges vermittelte Alptraum vom Deutschland des 20. Jahrhunderts“ („Saturday Review“) wurde als Allegorie oder Satire, als avantgardistischer Heimatroman, moderner Schelmenroman oder travestierter Bildungsroman gedeutet. Grimmelshausen, Rabelais, Sterne, Jean Paul, E. T. A. Hoffmann, Melville, Joyce, Döblin („Berlin Alexanderplatz“) und die Gebrüder Grimm wurden dem jungen Autor als Vorbilder nachgesagt. Blechtrommler Oskar wurde mit Simplicius Simplicissimus und Tristram Shandy, mit Max und Moritz und dem Rattenfänger von Hameln verglichen, er wurde zu Parzival, Wilhelm Meister und Felix Krull in Beziehung gesetzt.

Grass, resümierte „Time“, „ist wahrscheinlich das erfindungsreichste Talent überhaupt seit Kriegsende“.

An Erfindungs- und Einfallsreichtum, an Witz und Präzision („Amsels Kniestrümpfe mit Gummizug schnürten unterm Knie die dicklichen Waden ab: rosa Fleisch warf ein Puppenwülstchen“) steht das neue Grass-Werk „Hundejahre“ hinter der „Blechtrommel“ nicht zurück. Aber auch an Überlänge und Übergenauigkeit, an heißlaufender Phantastik und drastischer Rücksichtslosigkeit kann es sich mit dem Erstlingsbuch messen.

Kernfabel ist die Geschichte einer komplizierten Blutsbrüderschaft: die Kain-und-Abel-Variante vom zähneknirschenden Müllersohn, Schüler, KP-Mann, SA-Mann, Schauspieler, Antifaschisten und Heimkehrer Walter Matern und seinem pfiffigen halbjüdischen Freund, dem Krämersohn, Schüler, Künstler, SA-Opfer, Ballettmeister und Vogelscheuchen-Fabrikanten Eduard Amsel.

Der kräftige Knabe Walter beschützt den dicklichen Eddi vor seinen Altersgenossen, die ihn „Itzig“ hänseln. Der SA-Mann Matern schlägt seinen Jugendfreund zusammen und „rollt“ ihn im Schnee. Dem schmelzenden Schneemann entsteigt ein schlanker Amsel, der unter falschem Namen Naziregime und Krieg überlebt. Nach dem Krieg versucht der Heimkehrer und Anti-Nazi Matern die Erinnerung an den mißhandelten Freund zu verdrängen, doch er kann Amsel, kann der ironischen Zuneigung des verratenen Blutsbruders schließlich nicht entgehen.

Amsel bedenkt das Volk, „unter dem es zu leiden galt, vor und nach dem Schneemann“, mit „perfiden Lobsprüchen“ und „zynischem Lorbeer“: „Nein, lieber Walter, Du magst Deinem großen Vaterland noch so sehr grollen – ich jedoch liebe die Deutschen. Ach, wie sind sie geheimnisvoll und erfüllt von gottwohlgefälliger Vergeßlichkeit! So kochen sie ihr Erbsensüppchen auf blauen Gasflammen und denken sich nichts dabei. Zudem werden nirgendwo auf der Welt so braune und so sämige Mehlsoßen zubereitet wie hierzulande.“

In dieses deutsche „Märchen“ hineinverwoben sind eine skurrile Allegorie der Kunst als Herstellung von Vogelscheuchen („Die Vogelscheuche wird nach dem Bilde des Menschen geschaffen“) und die Chronik des Schäferhundes Prinz, der als Lieblingshund Hitlers „Geschichte macht“, den Führer überlebt, am 8. Mai 1945 die Elbe durchschwimmt und sich „westlich des Flusses einen neuen Herrn“ sucht.

Schon der Blechtrommler Grass hatte, nach eigenem Zeugnis, „das Dritte Reich entdämonisieren“ wollen. Dieselbe Absicht verfolgt er in seinem Hundejahrbuch. Gegen Ideologen-Bombast und Historiker-Pathos, gegen Mythen- und Theorien-Schwulst verschreibt Grass die penetrante Komik des Trivialen. Die Geschichte ist blutig, aber lächerlich; sie wird grundsätzlich von unten anvisiert und im banalen Detail erfaßt.

In der „Blechtrommel“ krochen die Ameisen um den Vater Matzerath, der sein Parteiabzeichen verschluckt hatte, bevor er von einem Rotarmisten erschossen wurde, auf einen geplatzten Zuckersack zu: „Denn jener ... Zucker hatte während der Besetzung der Stadt Danzig durch die Armee Marschall Rokossowskis nichts von seiner Süße verloren.“ In „Katz und Maus“ wurde Joachim Mahlke nur wegen seines monströsen Adamsapfels zum Held und Ritterkreuzträger. Hundejahre, mehr nicht, sind Hitler-Deutschlands „große Zeit“, sind die nicht zu bewältigende Vergangenheit und die konjunkturfrohe Gegenwart. Grass, der aggressive Infantilist, streckt – wie der Hund auf dem von Grass gezeichneten Buchumschlag – aller Prätention die Zunge heraus.

Auch in seinem neuen Roman hat der Autor Fiktion und Zeitgeschichte zu einem krausen Muster verstrickt. Hundeheld Prinz, der dem Führer zum 46. Geburtstag von Danzigs Gauleiter Forster geschenkt wird – Grass fand den Hund in den Memoiren des ehemaligen Danziger Senatspräsidenten Rauschning erwähnt –, ist auf dem Obersalzberg dabei, wenn Hitler „von Stiel und Stumpf, von Strasser, Schleicher, Röhm, von Stumpf und Stiel“ spricht und dazu Apfelkuchen ißt, „den Frau Raubal gebacken hatte“. Prinz stiehlt sich am 20. Juli 1944 davon, als Stauffenberg, der „ungelernt nicht aufs Ganze ging ... und sich aufsparen wollte für große Aufgaben nach geglücktem Attentat“, seine Bombe placiert.

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Es gibt fachmännische Exkurse über Schlag- und Faustballspiel, über Ballet-Exercise und Freibankfleisch, Großmutter-, Zigeuner-, Nonnen-, Ritter- und Pennäler-Geschichten: brillante, aber meistens allzu ausführliche Geschichten. Es gibt ausgesuchte Scheußlichkeiten – etwa eine Kopulation im Beichtstuhl – und poetische Wortspiele, wie die Beschreibung eines Hundefells: „ ... glänzte sein Haar schwarz, regenschirmschwarz, priesterschwarz, witwenschwarz, schutzstaffelschwarz, schultafelschwarz, falangeschwarz, amselschwarz, othelloschwarz, ruhrschwarz, veilchenschwarz, tomatenschwarz, zitronenschwarz, mehlschwarz, milchschwarz, schneeschwarz.“

Ein Bravourstück liefert der „Zigeunervirtuose unter den jungen deutschen Erzählern“ (Marcel Reich-Ranicki über Grass) mit einem Kapitel, in dem das Wirtschaftswunder einmal nicht sozialkritisch bejammert, sondern grotesk veralbert wird.

Grass läßt die nachkriegsdeutsche Presse-, Politiker- und Industrie-Prominenz Revue passieren - als Klientel der prophetisch begabten Mehlwürmer des heimatvertriebenen Müllers Matern. Springer, Bucerius, Augstein (siehe Seite 74), Flick, Mannesmann, Phoenix-Rheinrohr, Hoesch, Krupp, Beitz, Nordhoff, von Bülow-Schwante, Münemann, Neckermann, Grundig, Schlieker, Reemtsma, Pferdmenges, Ruhrgas, Abs, Mercedes, Bayer, Feldmühle und Hertie erhalten von den Mehlwürmern Tips für Gründungen und Entflechtungen, für Investitionen, Transaktionen und Fusionen, fürs Abstoßen, Ausschütten, Aufstocken und Majorisieren: „Du, glücklicher Portland-Zement, heirate!“ Erhard darf einen Mehlwurm verschlucken und wird dadurch selbst zum Konjunktur-Propheten: „Von Anfang an war im Vater des Wirtschaftswunders der Wurm drinnen, wundersam wunderwirkend.“

Eine andere Glanznummer im Roman-Zirkus Grass ist die Geschichte von Walter Materns schaurig-komischer Entnazifizierungs-Tour.

Kreuz und quer reist der Heimkehrer aus einem englischen Antifa-Lager mit dem ihm zugelaufenen Ex-Führerhund Prinz, jetzt Pluto genannt, durch Nachkriegsdeutschland, um sich an ehemaligen Nazis zu rächen. Matern sucht Göttingen, München, Stade, Witzenhausen, Kleve, Freudenstadt und Rendsburg heim, ferner Oldenburg, Detmold, Passau und Bielefeld, „wo die Makkowäsche blüht und der Kinderchor singt“. Er trifft im Heide-Versteck den gewesenen Pimpfenführer Uli Göpfert, der sich später „nach Umwegen den Liberalen anschließen und als sogenannter Jungtürke in Nordrhein-Westfalen Karriere machen“ wird.

Doch Materns private Spruchkammer-Praxis zeitigt nur Halbheiten: Dem einen Ex-Nazi verbrennt er die wertvolle Briefmarkensammlung, einem anderen defloriert er die Tochter. Der Heimkehrer prallt am dicken Fell seiner moralisch nicht irritierbaren Landsleute ab. Hauptmann Hufnagel in Altena, der Matern einst vors Kriegsgericht brachte, hat sogar schon Borchert bewältigt: „Ohne mich stünden Sie nicht hier und spielten den wildgewordenen Beckmann. Übrigens ausgezeichnetes Theaterstück. Hat die gesamte Familie sich in Hagen, notdürftiges Zimmer-Theaterchen. Geht an die Nieren, der Stoff ...“

Der Rache-Reisende Matern erliegt schließlich den immer neuen erotischen Freuden, mit denen er auf seiner Tour de force durch das Milieu der alten Kämpfer beschwichtigt wird. In Saarbrücken zieht er sich ein Leiden zu, für das Grass, neben vielen anderen Umschreibungen, die Volksmundprägung „Edelschnupfen“ parat hat.

Die „Hundejahre“ sind, was der „New York Times“ schon der Roman vom Blechtrommler Oskar war: „ein teutonischer Nachtmahr“.

Und wiederum nimmt alles seinen Anfang dort, wo schon der erste Grass wurzelte, wo er auch „Katz und Maus“ spielen ließ. Nicht nur Trommelbube Oskar ist am Rande wieder mit von der Partie, auch seine Väter, der deutsche Kolonialwarenhändler Matzerath und der polnische Postsekretär Bronski, finden Erwähnung. Tulla Pokriefke, das gräßliche Gör aus „Katz und Maus“, wuchs in „Hundejahre“ zu einer Hauptfigur heran. Die „Stäuberbande“ aus der „Blechtrommel“, die Studienräte Brunies und Mallenbrandt aus „Katz und Maus“ kommen vor, und auch die Aale sind wieder da – diesmal hängen sie, Milch säugend, an Kuheutern.

Mit der „Blechtrommel“ und mit „Katz und Maus“ hatte Grass seine Vaterstadt Danzig – genauer: Danzig-Langfuhr –, hatte er ihre deutsche und polnische Bevölkerung und den überlebenstüchtigen Slawenstamm der Kaschuben, hatte er die Landschaft der Weichselmündung und die „bräsig-werdersche“ Mundart, „die bald, mit den Flüchtlingsverbänden, aussterben wird“, weltliterarisch notifiziert.

Mit dem neuen Roman wird deutlich, daß Grass, unbekümmert um mögliche Grenzen des Leserinteresses, auch weiterhin und nun erst absichts- und planvoll auf der Suche nach der verlorenen Heimat schreibt. Grass: „Ich fürchte, mit diesem Thema bin ich noch lange nicht fertig.“

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Quelle: „Schriftsteller/Grass. Zunge heraus“, Der Spiegel 36/1963, S. 64–66. © DER SPIEGEL. Wiedergabe auf dieser Website mit Genehmigung des Spiegel Verlags. Online verfügbar unter: https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-46171737.html

Günter Grass’ Hundejahre (1963), veröffentlicht in: German History in Documents and Images, <https://germanhistorydocs.org/de/zwei-deutsche-staaten-1961-1989/ghdi:document-5060> [24.04.2024].