Kurzbeschreibung

Abflauendes Wirtschaftswachstum und Defizite im Bundeshaushalt unterstrichen einmal mehr die Führungsschwäche von Ludwig Erhard und die schwelende Koalitionskrise. Als die FDP am 27. Oktober 1966 die Regierung verließ und einen Tag später der Haushalt 1967 im Bundestag scheiterte, trat Ludwig Erhard als Bundeskanzler zurück.

Eine Würdigung Ludwig Erhards (1. Dezember 1966)

  • Georg Schröder

Quelle

Das Ende einer Kanzlerschaft

Er wird eingehen in die deutsche Geschichte als der Mann, der aus einsamem Entschluß heraus gegen alle, gegen seine eigenen Beamten wie die der Alliierten, an einem Sonntag des Jahres 1948 mit einem Federstrich die ganze Zwangsbewirtschaftung industrieller Güter aufhob. Ludwig Erhard wird eingehen in die Geschichte als der Mann, der einem geschlagenen, am Boden liegenden und verelendeten Volk den Weg frei machte, so daß es seine eigenen Kräfte regen konnte, um wieder zum Wohlstand zu gelangen.

In dieser Stunde des Abschieds von Bundeskanzler Ludwig Erhard, des Abschieds von einem im ersten Rang des politischen Geschehens stehenden Mann, muß ergründet werden, woran der zweite Bundeskanzler nach nur drei Jahren gescheitert ist. Zuvor aber gilt es zu danken für ungewöhnliche Leistungen, deren Nutznießer wir alle auch heute sind und morgen noch sein werden. In der Rückschau weiß es nun jeder, daß Ludwig Erhard, wirtschaftspolitisch gesehen, in den Aufbaujahren der Bundesrepublik Deutschland der Mann war, der ebenso wie Konrad Adenauer Geschichte gestaltet hat. Es war ja alles andere als selbstverständlich, daß in der Stunde Null die Ära der Planungen, Bewirtschaftungen und staatlichen Gängelungen abrupt abgebrochen wurde.

Ungewöhnlicher Mut

Erhard hat das aus seiner wirtschaftspolitischen Theorie des Neo-Liberalismus heraus getan, der er mit Inbrunst, ja mit Leidenschaft anhing und auch heute anhängt. Er befand sich damit in Übereinstimmung mit einer ungewöhnlichen Situation. Sie war bestimmt durch den Mißbrauch des Gemeinschaftsgefühls, durch die Zersetzung nicht nur des Staates, sondern auch der Staatsidee und durch die Sterilität der Zwangswirtschaft. Was gab es denn in jenen Tagen an mobilisierbaren Kräften im deutschen Volk außer der Familie, des Selbstinteresses aller, sich durch Leistung an den eigenen Haaren aus dem Sumpf herauszuziehen? Erhard hat diesen Kräften freie Bahn geschaffen und dabei ungewöhnlichen Mut bewiesen. Er war glücklich, liberalisieren zu können: den Außenhandel, den Wettbewerb, den Kapitalmarkt, die freie Umtauschbarkeit der Mark. Er war der Mann, der zum Mut beim Konsum aufrief, der Wohlstand für alle verhieß und dabei immer wieder recht behalten hat.

Das Dynamit der Defizite

Um so verblüffender ist es, daß der gleiche Ludwig Erhard über Fragen der Wirtschafts- und Finanzpolitik gestürzt ist. Das wirkt paradox und mancher wird vermuten, diese Fragen seien nur ein Vorwand gewesen. Gewiß haben sie nicht allein zum Ende der Kanzlerschaft Erhards geführt. Aber es ist doch nicht zu übersehen, daß das, was einst die Stärke Erhards war, sich in einer gewandelten Zeit als seine Schwäche erwies: Die Gläubigkeit, mit welcher der Wirtschaftsprofessor seinen liberalen Theorien anhing. Sie ließen ihn noch nicht einmal zu Beginn dieses Jahres erkennen, daß schnelles staatliches Zupacken wirtschaftspolitisch vonnöten war, um der Unruhe in unserem Volk entgegenzutreten. Sie ließen ihn nur zögernd und fast widerwillig an das Stabilitätsgesetz herangehen. Sie ließen ihn ganz offensichtlich auch das Dynamit der wachsenden Haushaltsdefizite viel zu spät erkennen.

Ist Ludwig Erhard an den Intriganten seiner eigenen Partei gescheitert, wie er zürnend glaubt? Wer möchte das vermuten von einem Mann, der vor wenigen Jahren sich so hoch einschätzte: „Ich bin heute Politiker aus Leidenschaft und nicht in dem primitiven Sinne eines politischen Ehrgeizes, sondern ich bin Politiker aus der Überzeugung heraus, daß mir die Gabe verliehen ist, das Schicksal eines Volkes doch gnädig zu gestalten.“ Dieser Mann, der tief innerlich überzeugt war, zur Führung auserwählt zu sein, ist letztlich an sich selbst gescheitert.

Ludwig Erhard ist ein Liberaler mit vielen Zügen, guten Zügen des 19. Jahrhunderts. Er ist ein Mann des guten Willens, dem nicht zufällig das Wort „redlich“ so oft von den Lippen springt. Er glaubt an den Menschen, hält ihn von Natur für gut und einsichtig. Er glaubt an die Überzeugungskraft der Argumente, an den Verstand und an den dem Menschen eingeborenen Gemeinsinn. An all das hat der Bundeskanzler Erhard mehr als einmal appelliert. Muß ein solcher Mann in der Politik an der Natur der Menschen scheitern? An gleicher Stelle wurde das vor drei Jahren gefragt. Die Antwort kennt inzwischen jeder.

Niemand sollte sich nach Tisch darüber verwundern, daß Ludwig Erhard das harte Geschäft der politischen Taktik, des Ausbalancierens der Kräfte, der Bewahrung der eigenen Macht nicht beherrscht hat. Jeder, der den Bundeswirtschaftsminister Erhard kannte, der das Duell zwischen Konrad Adenauer und Ludwig Erhard in den Jahren 1959 bis 1963 aus der Nähe beobachtete, kannte die Schwächen Erhards. Man verspürte damals seine Neigung zu reden, wenn Schweigen Gold gewesen wäre, und zu schweigen, wenn ein offenes Wort dringend vonnöten war. Man stellte auch fest, daß er ein Mann des Zögerns nicht nur aus seinem Temperament, sondern auch aus seiner politischen Philosophie heraus war. Das machte es ihm möglich, vier Jahre lang das unbarmherzige Zuschlagen jenes Konrad Adenauer zu überdauern, der seine politische Befähigung immer angezweifelt hatte. Aber die gleichen Eigenschaften, die dem Kanzlerkandidaten zu überleben erlaubten, ließen den Kanzler Erhard scheitern. Jetzt kam das Wort auf, durch Erhard lerne man, daß nicht nur Politik den Charakter verderben, sondern auch Charakter die Politik verschlechtern könne.

Symbol des Wohlstands

Der Mann, der einmal sagte, im letzten habe ihn keine Partei gewählt, der ein Volkskanzler sein wollte, fand sich, als das wirtschaftliche Klima kühler wurde, ohne Volk und ohne Partei in der Einsamkeit des Palais Schaumburg wieder. Er wollte einen neuen Stil des politischen Anstands prägen und sah sich empört wütenden Zurufen bei Versammlungen im Ruhrgebiet ausgesetzt. Er hat nie geahnt, daß früherer Jubel im Volk nicht so sehr der Person Ludwig Erhards, sondern dem Symbol des Wohlstands galt, daß ihn die Fraktion der CDU-CSU nicht zum Bundeskanzler wählte, weil sie an seine politische Befähigung glaubte, sondern weil sie in ihm den Stimmenernter bei Wahlen sah. Der Wohlstand zeigte Risse, die Stimmen in Nordrhein-Westfalen gingen zurück. Das Symbol, das seine Kraft verloren hatte, wurde beiseite gestellt – das ist Schicksal und Tragik Ludwig Erhards.

Quelle: Georg Schröder, „Das Ende einer Kanzlerschaft“, Die Welt, 1. Dezember 1966. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung.