Quelle
Hierzulande
Als wir um Mitternacht zum Hauptbahnhof fuhren, schwiegen wir bedrückt; unser Gespräch war mißglückt; der Besucher hatte von mir genaue Auskunft über die Bundesrepublik erwartet, aber ich war nicht fähig gewesen, über ein so ungenaues Land genaue Auskunft zu geben. Für dieses gemischte Gebilde, das Bundesrepublik heißt, eine Formel zu finden, dazu wäre sogar ein Einstein der Formulierung nicht fähig. Eine Frage des Besuchers: „Was unterscheidet die Menschen hier eigentlich von denen im Jahre 1933?“ hatte ich mit einem „Natürlich nichts“ beantwortet, dann eine winzige Korrektur hinzugefügt: „Es geht ihnen wirtschaftlich besser als denen damals.“ Die Frage: „Gibt es noch Nazis in diesem Land?“ Meine Antwort: „Natürlich, hatten Sie erwartet, ein nacktes Datum, der 8. Mai 1945, habe die Menschen verwandelt?“
Auf dem Wege zum Bahnhof im Taxi fügte ich, ohne noch einmal gefragt worden zu sein, auf die vor Stunden gestellte Frage noch hinzu: „Sie werden hierzulande niemals jemand sagen hören: Deutschland ist besiegt worden, immer werden sie hören: Zusammenbruch. Mit den Worten „nach dem Zusammenbruch“ bezeichnet man die Zeit von Mai 45 bis zur Währungsreform, oder zurückblickend nennt man sie: vor der Währungsreform. Die Zeit vom 20. Juni 1948 bis heute nennt man: nach der Währungsreform, im Volksmund schlichter: vor und nach der Währung, wobei mit „vor der Währung“ instinktsicher auch die Kriegszeit, in der das Geld strömte, gemeint ist. Wir leben im Jahre 12 nach der Währung. Vor dem Zusammenbruch hatten wir die Nazizeit, die hinwiederum in sechs Jahre Frieden und sechs Jahre Krieg zerfällt.“ […]
Der Besucher antwortete nicht; auch der Taxichauffeur schwieg; er war schlecht gelaunt; drei Stunden auf Kundschaft warten, dann eine Fahrt zu 4,80 DM; die Aussicht, wieder drei Stunden warten zu müssen; das kann einem schon die Laune verderben. Taxifahren ist hierzulande unpopulär, wie Telefon und Scheckbuch; diesen nützlichen Einrichtungen haftet noch der Geruch der Verschwendung an. […] Jemand, der hierzulande ein Scheckbuch „zückt“, hat einige Aussicht, als wohlhabend zu gelten, und doch kostet ein Scheckbuch nur fünfundsiebzig Pfennige, und die fünfzig Schecks, die es enthält, sind sehr nützlich bei dem Sport, den man, will man kreditfähig werden, sozusagen als Anfangssport betreiben muß. Der Sport heißt: „Bewege dein Konto“. Wenn man zweitausend Mark fünfzigmal bewegt hat, sind es einhunderttausend, und das ist ein stattlicher Umsatz. Umsatz ist alles, er bringt Kredit, höheren, vielleicht sechstausend, und diese dann, hundertmal bewegt, machen einen Umsatz von sechshunderttausend. Man muß nur wissen, wie man sein Konto bewegt: hin und her, her und hin; die Seifenblase darf nicht platzen. Kein Wunder, daß in einem Land, wo die landläufigen Vorurteile gegen Rechnen und Mathematik immer noch salonfähig sind, diejenigen, die den Sport fleißig ausüben, einige Aussicht auf Erfolg haben. Adam Riese hat umsonst gelebt; rechnen zu können gilt fast als ein Makel; wenn sich doch herumsprechen würde, wie gut Goethe rechnen konnte! Die Straßen waren leer in dieser Septembernacht, nur einige Fahrzeuge des städtischen Fuhrparks waren unterwegs; leise drehten sich die Kehrichtwalzen, sanft summten die Motoren der Sprengwagen. Der Taxifahrer nahm die Zigarette, die mein Besucher ihm anbot, dankend an; er würde niemals – und vielleicht ist diese Erkenntnis der Teil einer Formel – dem Fahrgast eine angeboten haben; nicht etwa, weil er geizig wäre, sondern weil dieser für ihn in diesem Augenblick etwas repräsentiert, das in diesem Land angebetet und zugleich verachtet wird: Kunde. Volkswirtschaftlich ausgedrückt: Verbraucher. Wir sind ein Volk von Verbrauchern. Krawatten und Konformismus, Hemden und Nonkonformismus, alles hat seine Verbraucher, wichtig ist nur, daß es sich – ob Hemd oder Konformismus – als Markenartikel präsentiert. Weder Instinkt noch Erfahrung des Verbrauchers reichen aus, Qualität festzustellen; so verlangt man verbriefte Qualität; verbriefte Qualität aber ist teuer. […]
Gespannt wartete ich auf den Augenblick, wo unser Taxi in die Straße einbiegen würde, die man auf dem Weg zum Hauptbahnhof unweigerlich passieren muß. Da strömen die Gebäude Weihe und Würde aus, bester Stein ist da in bestem Reichsparteitagstil verarbeitet, unter der Devise: Solider geht‘s nimmer. Herrschen und Bauen sind eins, und wer hierzulande baut, das wird in dieser Straße deutlich. Wenn man im Taxi durchfährt, wirft der Taxifahrer vorsichtshalber noch einen Blick auf Schuhe, Kleider, Gesicht des Fahrgasts, um festzustellen, ob der Kommentar angebracht ist, den der Volksmund sich angesichts dieser Gebäude erlaubt. „Alles von unserem Geld erbaut.“
[…]
Als wir am Bahnhof ausstiegen, war der Taxifahrer erschrocken über das hohe Trinkgeld, das mein Besucher ihm gab: zwei Mark auf fünf! und das von einem Kunden, den er seines Kommentars für würdig gehalten hatte. Hatte er sich etwa doch in uns getäuscht und hätte sich besser den Kommentar verkniffen? Waren wir Kommunisten oder hielten wir ihn für einen? Vorsicht! Unglücklicherweise setzte sich sein Schrecken in Liebedienerei um. Wie sorgfältig er die Tasche des Besuchers aus dem Gepäckraum nahm! Man weiß in diesem Land Großzügigkeit so wenig zu schätzen wie Sparsamkeit. Geld ist mit viel Sentimentalität befrachtet. Kein Wunder in einem Land, wo Armut weder mystische Heimat noch Station zum Klassenkampf mehr ist. In den Köpfen auch der sogenannten Intellektuellen sind die Begriffe: arm, brav, Arbeiter, immer noch identisch; die Folgerung: da die Arbeiter nicht mehr arm sind, gibt es keine Armut mehr – und die Arbeiter sind nicht mehr brav. Die, die man sozial nennt, sind dann die Ausnahmen; daß Asozialität unter den Satrapen eine Entsprechung haben könnte, auf den Gedanken ist man noch nicht gekommen; wer sich mit einem Hundertmarkschein eine Zigarette anzündet, kann eher auf Bewunderung als auf Verachtung oder Haß rechnen. […]
Die einzige Drohung, die einem Deutschen heute Angst einflößt, ist die des sinkenden Umsatzes. Sobald diese Drohung sich zu verwirklichen scheint, tritt Panik ein, stehen alle Zeichen auf Hochalarm. Es gibt sehr viele sehr kluge, sehr gescheite, schreibgewandte junge Leute, die auf eine beunruhigende Weise informiert, die gebildet sind, Zusammenhänge erkennen, über den dritten punischen Krieg so gut Bescheid wissen wie über Faulkner; ich frage mich nur, wo ihr Widerstand anfängt oder anfangen würde. Sie haben weder Angst vor Adenauer noch vor Ollenhauer; wenn man ihnen winzige Konzessionen nachweist, zitieren sie eine Instanz, die viel gefährlicher ist, als der eine ist und der andere je werden könnte: Lieschen Müller, diese mythische Gestalt, die mir eine Erfindung ihres schlechten Gewissens zu sein scheint. Lieschen Müller und der Umsatz hängen eng zusammen. Wer den Umsatz gefährdet – hat eine Chance, die Deutschen zu provozieren. Der Tod ihrer Nachbarn und Freunde hat sie nicht gelehrt, das Leben zu würdigen; Schmerz ist nicht Weisheit, Trauer nicht Kraft geworden, sie sind auf eine absurde Weise arm, da sie angesichts der ständigen Drohung nicht einmal fähig sind, ihren relativen Wohlstand wirklich zu genießen. Der Hunger der Jahre „vor der Währung“ hat sie nicht einmal weise genug gemacht, der Segnungen des Augenblicks sich wirklich zu erfreuen; nicht einmal aus dem Elend ist ihnen eine Würze erwachsen; wessen Erinnerung sich auch nur über zehn Jahre erstreckt, der wird für krank gehalten oder gehört in Tiefschlaf versetzt, auf daß er gestärkt für die Gegenwart wieder erwache. Eine Handvoll Kartoffeln, ein Kuß im Hausflur, eine politische Bemerkung unter Nicht-Parteimitgliedern – das war der Preis für ein Menschenleben. Vielleicht liegt das Geheimnis dieses Auslöschens der Erinnerung in der Natur der unbekannten Formel, die unser Leben in die Zeit vor und nach der Währungsreform zerfallen läßt.
Das alles hatte ich dem Besucher sagen wollen, aber die Worte im Gespräch nicht gefunden. Ein rascher Händedruck, ein „Adieu“, der Zug fuhr ab. […]
Ein Deutscher zu sein, das bedeutet in einem Pariser Hotel: bedroht zu werden, weil man einer ist und auf der Rückfahrt im D-Zug einem jungen französischen Faschisten gegenübersitzt, der einem Komplimente zu machen versucht über die Konsequenz, mit der man hierzulande den Antisemitismus betrieben hat; es bedeutet, nicht als mitsprachefähig betrachtet zu werden, wenn Franzosen unter sich über Algerien sprechen; vielleicht darf man erst mitsprechen, wenn in Algerien soviel Menschen umgebracht worden, wie zwischen 1933 und 1945 unter deutscher Herrschaft in Europa getötet worden sind. Wer führt dieses geheimnisvolle Konto der Nationen? Wer reguliert den Preis für ein Menschenleben? Wird es morgen ein Blick sein? Die dunkle Börse, die diesen Kurs diktiert, wo wird sie betrieben? Die Bedrohung im Pariser Hotel wendet sich natürlich genau gegen den Deutschen, der die Handvoll Kartoffeln in das Versteck des Juden brachte, und der englische Zollbeamte nimmt wie den Ausweis eines Aussätzigen den Paß genau des Deutschen in seine zarten Finger, der die Denunziation nicht weitergab. Wenn es Ansätze von Kollektivschuld in diesem Land gäbe, dann von dem Augenblick an, wo mit der „Währungsreform“ der Ausverkauf an Schmerz, Trauer und Erinnerung anfing.
Schrecklich ist es, daß es Anlässe genug gibt, über dieses Land und in ihm zornig zu werden, aber an wen den Zorn adressieren? Sie schlucken alles; man könnte ihnen auf dem Fernsehschirm vielleicht bei der Reportage über einen Verkehrsunfall zeigen, wie ihr eigener Nachbar stirbt; sie würden stutzen, möglicherweise noch sagen: „Den kenn‘ ich aber doch?“ und schon auf das nächste Bild warten. Bei einer nächsten Währungsreform könnte man ihnen ihr Geld 100 = 0,1 aufwerten, das Vermögen der Schlauen dann entsprechend höher; sie würden seufzen, ein wenig schimpfen, aber dann bald schon die Ärmel aufkrempeln und schuften, schuften; auf diese Weise kann man noch einige Wunder zustande bringen und braucht nicht zu fürchten, daß sich einer über die Unbekannte in der Gleichung aufregen würde. Die Umkehrung der wunderbaren Brotvermehrung ist der wunderbare Brotraub. Die Gesichter der Fachleute, die das Wunder mit glatten Worten zu erklären vermögen, sind so leer und tot wie der Mond.
[…]
Quelle: Heinrich Böll, „Hierzulande“ (1960). Aus: Heinrich Böll, Werke, Essayistische Schriften und Reden, Bd. 1, 1952–1963. © 1979 Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KG, Köln. S. 366–75. Mit freundlicher Genehmigung.