Kurzbeschreibung

Der ehemalige Fraktionsvorsitzende und Kanzlerkandidat der CDU, Rainer Barzel, erinnert daran, wie sehr der Regierungswechsel von 1969 als tiefer Einschnitt in der noch jungen Demokratie der Bundesrepublik empfunden wurde und hebt seine mäßigende Rolle innerhalb der CDU hervor, die für das Oppositionsleben unvorbereitet gewesen sei.

1969: Kein normaler Regierungswechsel (Rückblick, 2001)

  • Rainer Barzel

Quelle

[]

Mit fast jugendlichem Elan und unbeirrbar entschlossen übernahm der sonst eher behutsam-zögerliche Willy Brandt die Führung. Noch in der Wahlnacht nahm er das Steuer in die Hand! Die ihn damals erlebten, berichten, er habe sie „mitgerissen“. Ähnliches ging damals von Walter Scheel aus. Er habe wie ein „Überzeugungstäter“ gewirkt, war zu hören.

Zu uns drangen Worte wie „historische Zäsur“, „Machtwechsel“, „Einschnitt in die deutsche Geschichte“. Emotionen erfüllten das Bundeshaus, Visionen und hohe Erwartungen viele Gazetten. Diese Woge, die vor allem Brandt selbst erzeugt hatte, wußte er zu nutzen: Er ritt, wenn das Bild erlaubt ist, auf seiner eigenen Welle.

Seine erste Regierungserklärung galt als Koalitionsabrede. Sie war es wohl auch. Sie verkündete die Bereitschaft zu einem ganz neuen Anfang: Wir fangen jetzt erst richtig an! Jetzt geht es mit der Demokratie erst richtig los!

Wir horchten kritisch auf: Hatte Brandt doch im Mai 1969 in der „Neuen Gesellschaft“ geschrieben: „Für die CDU/CSU bedeutet Demokratie eine Organisationsform des Staates. Für die SPD bedeutet Demokratie ein Prinzip, das alles gesellschaftliche Sein der Menschen beeinflussen und durchdringen muß.“

Das riß fundamental Gräben auf! „Demokratisierung aller Lebensbereiche“ – was sollte das bedeuten? Für die Familie, für den Betrieb, für die Wissenschaft, für die Presse?

Der neue Kanzler betonte diesen Satz: „Ich verstehe mich als Kanzler nicht eines besiegten, sondern des befreiten Deutschland.“ Das stempelte den Regierungswechsel mit dem „Pathos des Neuanfangs“, zudem wirkte Brandt auch durch ein „brillantes Sprechwerk“. Manche meinten, daß der „Notgründung“ der Bundesrepublik Deutschland nun – in einer „zweiten Stunde Null“ – die „Neugründung“ gefolgt sei.

[]

Inzwischen haben wir uns an die Demokratie in Deutschland gewöhnt: Wer also kann noch nachvollziehen, was der Wechsel von Adenauer zu Erhard von Kiesinger zu Brandt, für unsere junge Demokratie und für das Urteil im Ausland über das demokratische Deutschland wog, auch für uns bedeutete? Und die gute Meinung über uns im Ausland war die Voraussetzung für jede Hoffnung auf Wiedervereinigung.

Wir fühlten uns immer noch mit der bangen Frage zur Demokratie hin unterwegs: Werden wir es diesmal, anders als im Weimarer Demokratieversuch aus Berlin, schaffen? Der Wechsel von Kiesinger zu Brandt nach zwanzigjähriger Regierung durch die Union (!) – der Wechsel von „rechts“ nach „links“, von „christlich“ zu „sozialistisch“ und wie die Aufkleber alle hießen, die drinnen wie draußen (Schablonen zwar) angeklebt wurden –, dieser Wechsel wurde von sehr vielen als fundamental empfunden.

Es war eine Zeit des Umbruchs, des neuen Anfangs. Wie anders würde alles werden? wurde gefragt; mit Bedacht gefragt. Besonders, als der neue Bundeskanzler Willy Brandt in seiner Regierungserklärung betonte: Jetzt wolle er mehr Demokratie wagen, jetzt fange die Demokratie erst richtig an.

Im Bewußtsein vieler überlagerte das Erlebnis dieses Wechsels die nüchterne und normale Feststellung, daß – parlamentarisch und pragmatisch betrachtet – der Außenminister zum Bundeskanzler avancierte; daß die Partner-Partei tonangebend wurde. Aber: Was war aus der Sicht der Geschichte an Deutschland schon politisch „normal“? Die Gefühlslage damals war nicht so „normal“. Das war der Wechsel, herbeigeführt auch von den 68ern! Kommt da die (befürchtete) „andere“ Republik? Das war nun die Frage.

Meine Weggefährten von damals können nicht mehr bestätigen, was sie erlebten: Einen Kollegen, Kameraden, Freund, den es umtrieb, diesen Wechsel als möglichst „normal“ erscheinen und verarbeiten zu lassen, ohne Siegesgeheul der Gewinner wie ohne Verkrampfung der Verlierer: Parlamentarischer Wechsel als Ausweis der gewonnenen und gesicherten Demokratie!

Meine maßvollen öffentlichen Einlassungen zu diesem Wechsel wurden beachtet. Kein Wunder: Ich war ja längst durch Walter Scheel auf diese Entwicklung vorbereitet. Bei allem Wechsel: Der parlamentarische Führer der Union war derselbe wie vor dieser „Wende“. Ich suchte, auch als Person, Mitte und Stabilität zu beweisen. Jedenfalls hatte die Wahlkampf-Parole der Union „Auf den Kanzler kommt es an!“ nicht den erhofften und erwünschten Erfolg. Nach 20 Jahren an der Regierung fanden wir uns – unvorbereitet und ungewollt – in der Opposition wieder. Viele schmollend.

Quelle: Rainer Barzel, Ein gewagtes Leben. Erinnerungen. Stuttgart und Leipzig: Hohenheim Verlag, 2001, S. 265–66 und 269–70. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung.