Kurzbeschreibung

Bundeskanzler Willy Brandt reagiert auf den ersten konstruktiven Misstrauensantrag in der Geschichte der Bundesrepublik und den Parteienwechsel einiger Mitglieder der Regierungsparteien, durch den der Antrag möglich wurde, indem er seine Politik verteidigt und der Opposition Machtgier vorwirft.

Misstrauensantrag der Opposition (April 1972)

  • Willy Brandt

Quelle

Rede von Willy Brandt vor dem Deutschen Bundestag

Herr Präsident, meine Damen und Herren!

Die erste Frage, die ich mir vor diesem Tag zu stellen hatte, lautete: Darfst du dich überhaupt an dieser Debatte beteiligen? Solltest du dich nicht besser von ihr fernhalten? Ich bin zu dem Ergebnis gekommen, meine Damen und Herren, wie Sie hören und sehen, daß ich mich äußern sollte. Ich meine, daß ich dies dem hohen Amt schuldig bin, in das ich im Oktober 1969 gewählt wurde, ebenso wie ich es schuldig bin, der mich stützenden Koalition von Sozialdemokraten und Freien Demokraten, aber auch den vielen Freunden im Lande, die mir ihre Verbundenheit gerade in diesen Tagen in so bewegender Weise bekunden.

Vielleicht darf ich auf die mir selbst gestellte Frage kurz zurückkommen. Dies ist ja das erstemal, daß hier im Bundestag von der verfassungsmäßigen Möglichkeit des sogenannten konstruktiven Mißtrauensvotums Gebrauch gemacht wird. Man hat es als konstruktiv deshalb bezeichnet, weil nicht nur gesagt werden soll, der Bundeskanzler soll weg, sondern zugleich gesagt werden muß — das ist ja der Sinn dieses Artikels der Verfassung —: wir möchten den Kandidaten X als neuen Bundeskanzler sehen.

Nun ist es ja so, daß bei der Wahl des Bundeskanzlers auf Vorschlag des Bundespräsidenten ausdrücklich keine Aussprache stattfindet. Beim sogenannten konstruktiven Mißtrauensvotum ist dies anders. Und schon daraus ergibt sich, daß für Aussprache und übriges Verhalten andere Maßstäbe gelten als für die reguläre Kanzlerwahl. Ich denke, das ist gestern zum Teil übersehen worden.

Die Opposition ist wichtig, und sie ist außerdem stark, aber sie ist nicht das Staatsoberhaupt. Dies ist also keine Kanzlerwahl, wie sie sich aus einer Neuwahl zum Bundestag ergibt. Deshalb ist auch vieles abwegig, was hier gestern zum Verfahren vorgebracht worden ist.

Ich stimme denen zu, die sich dagegen wehren, daß ein Parteiwechsel als etwas Ehrenrühriges betrachtet wird. Aber ich habe meine eigene Meinung dazu, ob man willkürlich Mandate mitnehmen darf, meine Damen und Herren.

Das ist ein weites Feld, wie man zu sagen pflegt. Aber eines leuchtet mir nicht ein. Wenn die Antragstellenden von Abgeordneten, die nicht ihrer Fraktion angehören, Zusagen erhalten haben: warum stehen dann diese nicht wenigstens auf?

Warum bekennen sie sich nicht vor dem deutschen Volk?

Was haben sie denn zu befürchten? Was fürchten sie denn? Oder was wollen sie denn verbergen?

Lassen Sie mich gleich ein Wort hinzufügen zu den zahlreichen Sympathiekundgebungen dieser Tage, für die ich mich herzlich zu bedanken habe.

Ich habe gestern gesagt — und ich meine, dies sei verstanden worden —, worüber nur hier im Bundestag entschieden werden kann, und was gleichwohl die Meinung der Bürger aus gegebenem Anlaß bedeutet. Was ich nicht verstehen kann, ist, wenn man aus obrigkeitsstaatlicher Gesinnung von der Straße spricht oder wenn man, wie es in einer Parteiverlautbarung geschehen ist, den Frauen und Männern, die sich anders als nur vor dem Fernsehapparat zu ihrer Regierung bekennen — so stand es in einer Parteiverlautbarung; ich finde es eine Schande —, ein Bratkartoffelverhältnis zur Demokratie unterstellt.

Bei denen, die sich dieser Tage zu Wort melden, handelt es sich um mündige Bürger und um engagierte junge Menschen, ohne die unser Staat sehr viel ärmer sein würde.

Der Beschluß der CDU/CSU, die Regierung stürzen zu wollen, entspricht einer Möglichkeit, die die Verfassung bietet, und er ist sowohl machtpolitisch als auch psychologisch nicht schwer zu verstehen. Wenn Sie mir zum letzteren ein Urteil erlauben: Dies ist der Versuch einer Flucht nach vorn, heraus aus der Unverantwortlichkeit eines sterilen Nein zu Schicksalsfragen unseres Volkes, aber mit dem Risiko des Hinein in eine Verantwortung, deren Bitterkeit Sie spüren würden. Denn Dr. Barzel und seine Freunde würden in diese Verantwortung ja nur gelangen, wenn ihnen das Ja von ein paar Mitgliedern dieses Hohen Hauses zufallen sollte, von denen man würde sagen können, sie hätten ihre Gewissenhaftigkeit bis zur Unkenntlichkeit strapaziert.

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Ich habe ausdrücklich dafür gesorgt, daß der Verkehrsvertrag in diesen Tagen noch nicht paraphiert wird. Die Unterhändler sind aber so weit, daß sie den beiden Regierungen ihr Verhandlungsergebnis unterbreiten können. Dabei ist die Anwendung des Verkehrsvertrages auch auf West-Berlin jetzt nicht mehr umstritten.

Die Bereitschaft der anderen Seite liegt vor, über die Fragen zu sprechen, die für das Nebeneinander und dann hoffentlich auch einmal Miteinander beider Staaten und der in ihnen lebenden Menschen von grundsätzlicher und praktischer Bedeutung sind. Der Vertrag wird erst noch im einzelnen zu behandeln sein. Was zu ihm dazugehört, wird wesentliche Erleichterungen bringen.

Aus der Bundesrepublik werden Verwandte und in Zukunft auch Bekannte nicht nur einmal, sondern mehrfach im Jahr in die DDR reisen können. In sinngemäßer Anlehnung an die Berlin-Regelung werden Einreisen aus religiösen, kommerziellen, kulturellen oder sportlichen Gründen möglich sein, wenn entsprechende Einladungen vorliegen. Touristische Reisen werden möglich, wenn die beiden Regierungen sich darüber vereinbaren. Und was ich für besonders begrüßenswert halte: In dringenden Familienangelegenheiten wird durch die Behörden drüben die Reise in die Bundesrepublik ermöglicht werden. Andere reden von Stufenplänen. Wir arbeiten uns im Interesse der Menschen, des Friedens und der Nation Schritt für Schritt voran.

Sie mögen zur Umrahmung des Verkehrsvertrages sagen: was ist das schon? Was ist das schon, auch wenn wir es zusammen mit den Berlin-Vereinbarungen betrachten? Ich sage: Wo standen wir denn eigentlich bis vor wenigen Jahren? Und ich frage in allem Ernst: Wollen Sie, wollen wir dies alles in Gefahr bringen? Das kann ich mir nicht vorstellen.

Hinsichtlich der deutschen Einheit, Herr Kollege Kiesinger, ist es in der Tat die Frage: weiter Reden halten oder etwas tun? Etwas tun einmal für Berlin — davon war die Rede — und die Menschen — davon war auch die Rede — und zum anderen für eine solche Veränderung der Beziehungen zwischen West und Ost in Europa — auch wenn dies sehr lange dauert —, daß sich hieraus auch für das deutsche Volk in seiner Gesamtheit die Chance einer guten Zukunft ergibt. So, nur so! Wie wichtig Reisen sonst seien, Herr Kollege Schröder: an der Chinesischen Mauer werden Sie den Schlüssel zur deutschen Einheit nicht entdecken.

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Die Opposition spielt in Wirklichkeit — auch wenn sie es natürlich nicht will — mit der Gefahr der Isolierung der Bundesrepublik. Zu dieser Gefahr, gegen die sich im Laufe der Zeiten und unter anderen Umständen Adenauer auf seine Weise, früher Bismarck auf seine Weise gewendet haben, darf es nicht kommen. Vom Frieden darf man auch nicht nur reden, sondern man muß sich fragen: was ist der deutsche Beitrag dazu? Deutsche Interessen nimmt man nur wahr, wenn die Entwicklung nicht um uns herum verläuft oder gar über uns hinweggeht. Dies muß bitte jeder wissen.

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Quelle: Rede von Willy Brandt vor dem Deutschen Bundestag, Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 183, Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 27. April 1972, S. 10707–08, 10711. Online verfügbar unter: https://dserver.bundestag.de/btp/06/06183.pdf