Kurzbeschreibung

In einem weit ausholenden Interview spricht der ehemalige Bundeskanzler und Ehrenvorsitzende der SPD, Willy Brandt, über die internationalen und innenpolitischen Auswirkungen von Gorbatschows grünem Licht für die deutsche Einheit, wobei er sich für ein gezieltes Vorgehen ausspricht, das in der Lage sein würde, akzeptable diplomatische Lösungen zu finden und den Schock des Übergangs zur Marktwirtschaft abzufedern.

Willy Brandt über internationale Auswirkungen der Vereinigung (5. Februar 1990)

  • Willy Brandt

Quelle

„Die Einheit ist gelaufen“

Der SPD-Ehrenvorsitzende Willy Brandt über Gorbatschow, Modrow und Deutschlands Zukunft

SPIEGEL: Herr Brandt, der sowjetische Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow hat seine Einwände gegen die deutsche Einheit fallengelassen, und DDR-Ministerpräsident Hans Modrow hat überraschend einen Stufenplan zur deutschen Einheit ausgerufen. Steht die Einheit bevor?

BRANDT: Der Vorgang zeigt, mit welchem neuen Beschleunigungseffekt sich die Dinge in Europa verändern. Aber wir werden uns auch nach diesen Äußerungen von Gorbatschow und Modrow auf Etappen einzustellen haben. Es wird also mit der Vertragsgemeinschaft beginnen, mit einem Regierungsausschuß, mit einer dann wohl bald kommenden paritätischen parlamentarischen Körperschaft, mit einer Reihe anderer Organe, die sich praktischen Dingen wie Wirtschaft, Währung, Umwelt zuwenden.

SPIEGEL: Aber es geht alles schneller als bisher angenommen.

BRANDT: Ja. Rascher, als die meisten gedacht haben, werden wir den Übergang der Vertragsgemeinschaft zur Konföderation, also zum Staatenbund, einem deutschen Bund in Form von Gemeinschaft der beiden Staaten, erleben. Neu war jetzt, daß Modrow sagte, dann könnten auch relativ bald Souveränitätsrechte der beiden Staaten auf gemeinsame Organe übertragen werden. Das ist wichtig, weil er es sagt, nachdem er in Moskau gewesen war. Die Bildung von etwas, was im staats- und völkerrechtlichen Sinne zwischen Konföderation und Föderation läge, würde, so darf man vermuten, nicht mehr auf Einspruch der Sowjetunion stoßen. Und andere werden sich dann wohl auch keinen Widerspruch leisten können. Das ist ein neues Datum.

SPIEGEL: Ist also, wie Sie sagten, „die Sache gelaufen“?

BRANDT: Die Einheit ist im Prinzip gelaufen. Gorbatschow hat’s negativ ausgedrückt: grundsätzlich keine Einwände mehr. Ich sage es positiv. Da die Deutschen sie ohnehin wollen, in welcher dann auch noch auszuhandelnden Form, wenn grundsätzliche Einwände der vier Mächte nicht mehr bestehen, dann kann man sagen: Es läuft oder ist gelaufen.

SPIEGEL: Jetzt ist wieder die Rede von einem Stufenplan. Sie haben in letzter Zeit eher den Eindruck erweckt, als stehe die Vereinigung vor der Tür.

BRANDT: Das ist ein Irrtum. Ich weiß wohl, daß ein solcher Eindruck durch manche Zitate und Überschriften entstanden ist. Ich habe in Rostock, Magdeburg, Gotha und in Eisenach wie auf dem Berliner Parteitag der Sozialdemokraten im Dezember gesagt: Die Einheit der Menschen wächst seit dem 9. November. Überall, wo Menschen einander begegnen, zeigt sich Einheit von unten. Und von oben beginnt sie eben auch konkrete Gestalt anzunehmen. Konföderation oder Föderation sind auch konkrete Ausdrucksformen von Einheit.

SPIEGEL: Mit dem Unterschied, daß in der Konföderation Zweistaatlichkeit und Staatsangehörigkeiten erhalten bleiben.

BRANDT: Nach bundesdeutschem Recht ist die deutsche Staatsangehörigkeit immer aufrechterhalten geblieben. Übrigens: Die Schweiz nennt sich immer noch eine Konföderation, ist aber in unserem Verständnis eher ein gemeinsamer Staat, trotz aller Bedeutung der Kantone.

Ich halte für entscheidend: Der Prozeß des Wiederzusammenwachsens ist im Gange. Wenn eine Volksabstimmung stattfände, dann würden die allermeisten dafür sein.

SPIEGEL: Und dann?

BRANDT: Dann wird, welche Bonner Regierung auch immer, antworten: Freunde, so rasch geht das nicht. Sondern: Jetzt müssen wir sehen, in welchem Tempo kann die wirtschaftliche Angleichung erfolgen? Wie können die Währungen zusammengeführt, kann die Sozialgesetzgebung angeglichen werden?

SPIEGEL: Es kann doch auch passieren, daß die DDR-Bevölkerung alle Stufenpläne beiseite fegt und die Leute auf der Straße „Einheit jetzt“ verlangen.

BRANDT: Es ist gewiß ein historisches Unikum, daß der Führer der zweitstärksten kommunistischen Partei der Welt vor der Straße warnt. Das hab’ ich bisher als konservatives Argument gehört. Ein altmodischer Sozialdemokrat wie ich würde das nie so sagen, weil ich finde, man muß es ernst nehmen, wenn die Menschen ihren Willen bekunden. Doch ich gebe Ihnen recht: Die Möglichkeit besteht, daß manches überrollt wird.

SPIEGEL: Ist es eine Gefahr?

BRANDT: Es ist zwar auch schon gelegentlich aus Chaos Gutes geworden auf dieser Welt, aber eine Garantie dafür, daß aus Chaos Gutes wird, hat man nicht. Nur: Das, was Sie als möglich andeuten, wäre in höchstem Maße unerwünscht. Das kann nur aufgefangen werden, wenn den Leuten drüben vermittelt wird: Nicht erst in einigen Jahren, sondern noch in diesem und dem nächsten Jahr ändert sich etwas, und zwar deutlich. Sonst kriegen wir den großen Run oder den Kladderadatsch. Vielleicht kriegen wir ihn, aber ich bin dafür, ihn zu verhindern.

SPIEGEL: Der große Run? Meinen Sie den Übersiedlerstrom?

BRANDT: Der kann sich gewaltig verstärken. Es kann aber auch bei solchen, die nicht weggehen wollen, eben sehr viel mehr geben als Unmutsäußerungen.

SPIEGEL: Was meinen Sie mit Kladderadatsch? Meinen Sie die Folgen weiterhin ungelöster wirtschaftlicher Probleme, die dann viel schneller zur Einheit führen können, als es Ihnen lieb ist?

BRANDT: Ich habe nichts gegen schnelle Einheit. Ich sag’ nur: Sie löst keines der praktischen Probleme. Die einheitliche Währung kommt doch nicht dadurch, daß Leute sich millionenfach in Bewegung setzen statt tausendfach.

SPIEGEL: Was halten Sie von Szenarien im Kanzleramt, sich darauf einzustellen, daß es tatsächlich sehr viel schneller geht, daß schon in diesem Sommer die KSZE-Sonderkonferenz eine Lösung findet, schon in diesem Jahr eine verfassunggebende Versammlung für ganz Deutschland geboren wird?

BRANDT: Ich bin nicht zufrieden damit, was bis jetzt – Anfang Februar – in den Fachministerien vorbereitet worden ist. Die Damen und Herren lebten bislang noch unter dem Eindruck, die andere Seite müsse erst Vorleistungen erbringen, man selbst habe Zeit und käme mit Marginalbeträgen davon. Doch das hat keine Zeit und verlangt von uns die Bereitschaft zu umfänglichen, auch und gerade finanziellen Leistungen.

Ich habe ja nichts dagegen, daß man Planspiele macht, wann sich welche Gremien in Berlin oder sonstwo versammeln. Was soll ich schon gegen Berlin haben! Dieses Deutschland wird im übrigen föderalistisch und europäisch eingebunden sein, oder es wird nicht sein. Die Ministerpräsidenten-Konferenz wird vermutlich eher zusammentreten mit Einschluß der fünf Ministerpräsidenten der DDR, als es eine gemeinsame deutsche Regierung oder die Regierung einer Föderation, die man auch Konföderation nennen kann, gibt.

SPIEGEL: Soll die Bundesregierung die nötigen Vereinbarungen noch mit der Regierung Modrow treffen oder bis nach den Wahlen in der DDR warten?

BRANDT: Keiner wird was dagegen haben, wenn eine Reihe wichtiger Eckpunkte jetzt vorbereitend festgehalten werden.

SPIEGEL: Können Sie sich vorstellen, daß die Bundestagswahlen ausfallen?

BRANDT: Nein, das glaube ich nicht. Wenn wir allein nach der Modrowschen Tagesordnung vorgehen, ist das nicht in einem halben Jahr zu schaffen. Aber: Auf den Weg kann vieles gebracht werden. Doch von dem, was Modrow vorschlägt, wird noch keiner satt. Und auch er – bei allem Respekt – weiß ja, daß andere Vorschläge folgen werden.

SPIEGEL: Sie halten es mit jenen, die meinen, schon mit der Einheit brächen bessere Zeiten an?

BRANDT: Jemand hat ja sogar gesagt, jemand, den ich wichtig nehme: Viele, die „Einheit“ oder „Wiedervereinigung“ rufen, meinen Wohlstand. Dann sage ich: Na und! Willst du denen das übelnehmen? Wenn das aber so ist, dann ist das ein zusätzliches Argument für meine Argumentation, daß mit der Ankündigung staatlicher Organe oder verfassungsähnlicher Dokumente zunächst noch kein einziges praktisches Problem gelöst ist.

SPIEGEL: Säße Ihr Oberenkel Oskar Lafontaine an unserer Stelle, würde er sagen, der Zugang zu den Fleischtöpfen hat mit Einheit der Deutschen nichts zu tun. Stünden die Töpfe nicht hier, sondern in Polen, gingen die Leute dorthin.

BRANDT: Das ist mir zu hypothetisch und erinnert mich mehr an die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Da wäre in der Tat mancher gern über die Grenzen gegangen – wohin auch immer –, wenn er da besser versorgt worden wäre. Und wer hätte ihn deswegen verdammen dürfen?

SPIEGEL: Sie haben in Gotha für einen ehrlichen Umgang mit den europäischen Nachbarn plädiert: „Das bedeutet nicht, daß der deutsche Zug willkürlich angehalten werden darf durch diejenigen, die sich hinter Europa verstecken, um Deutschland zu verhindern.“ Vermittelt das nicht den Eindruck, als rangiere bei Ihnen Deutschland vor Europa?

BRANDT: Ich hätte nichts dagegen, wenn es so verstanden würde, daß mir Deutschland besonders wichtig ist. Sonst müßte geklärt werden, was in diesem Zusammenhang mit Europa gemeint ist. Die Ereignisse in Deutschland sind ein Unterkapitel, freilich ein sehr wichtiges, der Veränderungen in Europa: Ende kommunistischer Herrschaft, Ende staatlicher Kommandowirtschaft. Die EG hat gerade ein Handels- und Kooperationsabkommen mit der Sowjetunion unterzeichnet. Der Zusammenbruch des Post-Stalinismus berührt also auch die Europapolitik. Bei uns stimmen die beiden Hauptrichtungen der deutschen Politik, die Konservativ-Liberalen und die Sozis, überein, daß man nicht aus der EG ausschert.

Jetzt sag’ ich mal als Formel: Zwei deutsche Staaten, solange es sie noch gibt, können Mitglied einer Wirtschaftsgemeinschaft sein. Ein deutscher Staat kann aber meiner Überzeugung nach nicht Mitglied zweier Militärbündnisse sein. Das sagt auch Modrow.

SPIEGEL: Modrow verlangt ein militärisch neutrales Deutschland. Halten Sie das für möglich?

BRANDT: Nein, das ist kein hilfreicher Vorschlag. Daß die Bundesrepublik Deutschland aus der Nato austritt wie aus dem Fußballverein, ist nicht zu vermuten; ich bin auch dagegen. Daß die Nato ausgedehnt werden könnte auf den Gesamtbereich eines zusammenrückenden Deutschlands, ist ebenfalls nicht zu vermuten. Die große Mehrheit der Menschen bei uns will, solange es nicht eine völlig veränderte Weltlage gibt, im westlichen Bündnis bleiben. Was dann weiter daraus wird, das mag in der weiteren Entwicklung sich aus der Veränderung des Charakters der Bündnisse ergeben, die ja jetzt schon in Teilbereichen dabei sind, zu Vergewisserungsinstrumenten zu werden statt zu militärischen Organisationen. Wir dürfen uns nicht abmelden, sondern müssen uns an die Spitze stellen, wo es darum geht, die Konfrontation zu überwinden.

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Quelle: „Die Einheit ist gelaufen“ [Willy Brandt mit Redakteuren Dirk Koch und Klaus Wirtgen im Bonner Bundeshaus]. Der Spiegel, 5. Februar 1990.