Quelle
Walter Scheel im Gespräch mit Jürgen
Engert
Erinnerungen und
Einsichten
Willy Brandts Rücktritt
Jürgen Engert: Mai 1974, der Außenminister und Vizekanzler der SPD/FDP-Koalition, Walter Scheel, steht schon mit einem Bein im Bundespräsidialamt, sein Nachfolger im Auswärtigen Amt und als Vizekanzler, aber auch als FDP-Vorsitzender soll Hans-Dietrich Genscher werden. Es gibt aber nur ein beherrschendes Thema in der Bundesrepublik: Die Guillaume-Affäre, ein Agent der DDR in nächster Nähe des Bundeskanzlers. Willy Brandt denkt an Rücktritt. Wie haben Sie diese Tage erlebt?
Walter Scheel: Am 4. Mai 1974, die führenden Leute der SPD tagten in Bad Münstereifel, war ich bei Willy Brandt, und zwar den ganzen Nachmittag. Brandt war nach Hause gekommen. Und wir haben uns über das Thema unterhalten. Ich wollte verhindern, daß Brandt zurücktritt. Denn ich hatte die Befürchtung, wenn er zurücktreten würde, müßte die Koalition zumindest eine Gefährdungsstrecke durchlaufen. Sie war unter Brandt eingespielt, und beide Seiten, sowohl SPD als auch FDP, waren zufrieden. Brandt hatte sich Autorität erworben. Anders als Adenauer, der seinen Nimbus schon ins Amt mitgebracht hatte. Das war also alles in bester Ordnung. Es gab mit Brandt eine ganz breite Vertrauensbasis. Wir mußten kein einziges Mal sagen, hier hat uns der Bundeskanzler in eine schwierige Situation gebracht, aus Egoismus. Das hat es nicht gegeben. Darum habe ich sehr ernsthaft auf ihn eingeredet. Wir hatten auch zueinander ein hohes Maß an Vertrauen. Bei unserem Gespräch kam erneut eine Eigenheit Brandts zum Vorschein: Er war im Grunde diskret. Er fällte auch keine vorschnellen Urteile über Menschen. Es war nicht seine Art, über andere zu sprechen. Was er über sie dachte, das behielt er für sich. In dieser Eigenheit korrespondierten wir. Auch deshalb hatten wir Sympathien füreinander. Ich habe an diesem Nachmittag immer wieder versucht, ihm zu sagen, daß Guillaume nicht Ursache für seinen Rücktritt sein dürfte, aber bekanntlich mit meinem Argument keinen Erfolg gehabt.
Jürgen Engert: Am 6. Mai erklärte Willy Brandt seinen Rücktritt als Bundeskanzler. Zwölf Tage später wurden Sie Bundespräsident. […]
Walter Scheel: Brandt hatte mir seinen Rücktrittsbrief vorgelesen, dessen letzter Satz lautete: „Ich bitte darum, mich aus dem Amt zu entlassen, und zwar mit sofortiger Wirkung.“ Und das hat Gustav Heinemann auch gemacht und mich mit der Wahrnehmung der Geschäfte als Stellvertreter des Bundeskanzlers beauftragt. Es entwickelte sich aus dieser Situation eine eher skurrile Diskussion, ob man die Geschäfte eines Bundeskanzlers wahrnehmen kann, den es gar nicht mehr gibt.
Jürgen Engert: In der Guillaume-Affäre spielte ihr Freund, der damalige Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher, eine bedeutsame Rolle.
Walter Scheel: Man muß sich das Entstehen der ganzen Geschichte noch einmal vergegenwärtigen. Da war einmal Günter Guillaume. Der ist 1956, glaube ich, aus der DDR in den Westen gekommen. Er kam ja nicht mit dem Auftrag, eines Tages dem Bundeskanzler Brandt ins Haus zu rücken; 1956 dachte noch keiner an Brandt als Kanzler. Guillaume ist nach Hessen gegangen, wurde dort 1957 SPD-Mitglied und dann Funktionär der Partei. Viel später, als Brandt einen Referenten für Parteiangelegenheiten suchte, hat Georg Leber, der in der hessischen SPD verwurzelt war, gesagt: Ich habe einen, Guillaume. Das war 1970. Guillaume wurde wohl erst Hilfsreferent und 1972 in das Persönliche Büro des Bundeskanzlers versetzt.
Jürgen Engert: Guillaume, ein Zufallsspion?
Walter Scheel: Das war keine politisch gewollte Aktion von seiten der DDR. Guillaume war eher durch Zufall an der Seite Willy Brandts gelandet. Vielleicht ist das manchem in Ost-Berlin sogar nicht angenehm gewesen – mit Blick auf die Entspannungspolitik. Aber Guillaume wegnehmen, das konnten sie ja auch nicht, ohne daß das aufgefallen wäre.
Jürgen Engert: Genscher war von Günther Nollau, dem Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz, über den Verdacht gegen Guillaume informiert worden. Vorher hatte nur Egon Bahr wegen Guillaumes Herkunft gewisse Bedenken geäußert, Kanzleramtsminister Horst Ehmke entschied jedoch positiv.
Walter Scheel: Als Bundesinnenminister war Genscher der Vorgesetzte von Nollau und deshalb die erste Adresse. Danach ist Genscher zu uns gekommen. Wir beide sind befreundet, und er gehört zu den ganz wenigen, mit denen ich mich duze. Genscher war auf dem Weg zu Brandt, um ihn über das Gespräch mit Nollau und den Verdacht gegen Guillaume zu informieren. Er wollte mich vorher ins Bild setzen, und wir hatten auch einen kurzen Gedankenaustausch, wie man die Sache behandeln solle.
Jürgen Engert: Wie war Ihre Reaktion?
Walter Scheel: Ich war nicht alarmiert. Ich habe das merkwürdigerweise nicht als eine für den Bundeskanzler und die Bundesrepublik bedrohliche Angelegenheit gewertet. Und im nachhinein: Guillaume als Agent ist wohl maßlos überschätzt worden.
Jürgen Engert: War das bei Genscher anders?
Walter Scheel: Das kann ich nicht sagen. Genscher ist immer sehr vorsichtig. Das ist seine Art. In allem, was er tut, geht er ungewöhnlich umsichtig vor. Wir waren uns einig, daß Brandt über den Verdacht gegen Guillaume informiert werden mußte. Einig waren wir uns auch, daß Guillaume mit in den Sommerurlaub des Bundeskanzlers, 1973, nach Norwegen fahren sollte. Das war vorgesehen, das wußte Guillaume. Hätte man ihn ausgebootet, wäre er wahrscheinlich rasch argwöhnisch geworden. Bei dem Urlaub hat er dann Zugang zu geheimen NATO-Papieren gehabt. Da war offenbar nicht aufgepaßt worden. Genscher und ich waren nun der Meinung, die Geschichte müsse schnell beendet werden. Wir hielten nichts von der These, man müsse zuwarten, um auf diese Weise noch mögliche Hintermänner zu entdecken. Von solchen „Gesamtkonzepten“, die Staatsanwaltschaften für die Verbrechensbekämpfung entwickeln, lese ich immer wieder. Ich meine, sie stiften manchmal mehr Schaden, als daß sie nutzen.
Quelle: Walter Scheel im Gespräch mit Jürgen Engert, Erinnerungen und Einsichten, mit einem Beitrag von Arnulf Baring und zwei Reden von Walter Scheel. Hohenheim Verlag: Stuttgart und Leipzig, 2004, S. 74–78.