Kurzbeschreibung

Selbstkritisch reflektiert der amtierende Bundeskanzler Willy Brandt über die ersten drei Jahre seiner Regierung. Die hohen Erwartungen konnten auch deswegen nicht immer erfüllt werden, weil Teamgeist manchmal fehlte und Probleme „im eigenen Laden“ im Wege gestanden hätten.

Die Mühen des Regierungsalltags (19. September 1972)

  • Willy Brandt

Quelle

Hintergrundgespräch des Bundeskanzlers, Brandt, für „Die Zeit“

Frage: Herr Bundeskanzler, ein Rückblick nach drei Jahren. Ist das ein Blick zurück im Zorn für Sie?

Antwort: Nein, das ist es nicht, wenn ich auch zugebe, daß man heute schlauer ist. Aber dazu ist ja das Leben neben anderem da, daß man dazulernt. Wenn man die Erfahrung dieser drei Jahre schon 1969 gehabt hätte, wäre vermutlich das eine oder das andere besser gelungen.

Frage: Woran denken Sie da speziell?

Antwort: Es geht mehr um die Methodik als um den Inhalt der Politik, es geht auch um die Art, sich verständlich zu machen mit dem, was diese Regierung anders gemacht hat als frühere Regierungen. Es geht auch um die Teamarbeit, die noch nicht genügend stark entwickelt werden konnte, zumal in den ersten beiden Jahren. Insofern wird es die nächsten vier Jahre sehr viel leichter werden, weil man, gestützt auf die Erfahrungen der ersten Jahre, herangeht, sowohl bei der Regierungserklärung wie bei der praktischen Abwicklung.

Frage: Könnte man das so sagen, daß Sie mit gewissen Dämpfungen der Euphorie in die nächsten vier Jahre gehen würden? Könnte man so sagen, daß Ihre Methodik vielleicht systematischer oder planvoller, bedächtiger auch sein würde, daß man vielleicht den Berg, den man zu überschreiten hat, zunächst etwas gründlicher abtaxieren könnte, oder wie würden Sie diese Methodik, diese veränderte Methodik oder die Erfahrungen in der Methodik beschreiben?

Antwort: Da Sie euphorisch gesagt haben – ich glaube, daß ich selbst frei gewesen bin von Euphorie, denn wer will sich da selbst ganz genau kontrollieren können. Manches, was um einen vorgeht, wirkt dann auch auf einen selbst ein, man ist ja nicht völlig abgekapselt von dem, was einen umgibt. Trotzdem – worauf ich hinaus will, ist folgendes: Es hat bei Beginn dieser Regierung – und es hat weit hineingewirkt in diese Legislaturperiode – einen Riesenabstand gegeben zwischen dem, was die Regierung schwarz auf weiß festgehalten hatte über ihre Absichten, und dem, was andere daraus gemacht haben. Hieran war die Regierung aber nicht unschuldig. Erstens haben Teile der Regierung das, was als Erklärung der gemeinsamen Politik niedergelegt war, extensiv ausgelegt, was ich dem einzelnen subjektiv gar nicht ankreiden kann. Jeder will sich entfalten. Aber es ist also z.T. überstrapaziert worden, was in der Regierungserklärung stand. Wenn man sie sich heute noch einmal anschaut, dann rechtfertigt sie nicht die Kritiker, die sagen, man habe sich zuviel vorgenommen. Bitte, eine Ausnahme, daß in der Innenpolitik anders als in der Außenpolitik nicht für alle deutlich genug gemacht worden ist, was man in diesen vier Jahren wirklich glaubt vom Tisch kriegen zu können und wo man nur sich auf neue Gebiete zubewegt, wo man also vorbereitende Arbeit leistet. Da sind wir wieder bei der Methodik. Das hat man sich selbst nicht anzukreiden, aber daraus hat man zu lernen. Ich hatte eben gesagt, in der Außenpolitik sei das konkreter gemacht worden, schon 1969. Das ist so. Aber auch da zeigt die Erfahrung, daß es nicht nur darauf ankommt, ob man selbst weiß, wie man eine Geschichte zu machen hat, wie man sie auch solide genug, abgesichert genug machen muß. Wenn es nicht gelingt, dies einer genügenden Zahl von anderen zu vermitteln, dann hilft es nicht, ob es wirklich gut genug durchdacht ist und abgesichert genug angefaßt wird. Und da haben wir auch gelernt, daß sich nun fast das ganze Interesse während langer Zeiten auf ganz bestimmte Aspekte der Außenpolitik konzentriert hat, anderes ist fast nicht beachtet worden. Und es ist also ein Eindruck häufig entstanden, als ob die Regierung improvisiere oder gar sich treiben lasse durch Dinge, die von außen auf sie zukämen. Das war in Wirklichkeit nicht so. Aber ich sage noch einmal: Dies muß man noch besser wissen, als wir es damals gewußt haben, daß solche Eindrücke aufkommen können, gerade dann, wenn man sich auf Neuland begibt, und daß man wohl noch systematischer und auch geduldiger sich mit den falschen Eindrücken auseinandersetzen muß.

Frage: Herr Bundeskanzler, sind es nicht im Grunde genommen zwei Dinge, die irgendwo miteinander kollidiert haben? Zum einen ist Ihrer Regierung ein hoher Erwartungsdruck zugedacht worden, und den würde ich durchaus als ein hohes Kompliment ansehen, denn wenn man von jemandem viel erwartet, heißt es, daß man ihm eigentlich auch sehr viel zutraut. Und zum anderen: Ist nicht dieser hohe Erwartungsgrad immer wieder kollidiert mit vielleicht einer ungenügenden psychologischen Vorbereitung der Öffentlichkeit auf das, was dann tatsächlich fällig geworden ist, sowohl in der Außenpolitik als auch in der Innenpolitik?

Antwort: Ja, das ist so. Die Formen, sich genügend verständlich zu machen, zu erklären, nicht nur das, was man tut, von einem Monat zum anderen, sondern das, was man sich auch für einen längeren Zeitraum vorgenommen hat, was möglich ist und nicht möglich ist – dies alles ist nicht genügend erklärt worden. Das hängt nun aber zusammen, glaube ich, mit der politischen Struktur in unserem Land. Jemand hat dieser Tage einmal davon gesprochen, daß wir 20 Jahre lang oder fast [so lange] in dieser Bundesrepublik glaubten oder daß man glaubte, einen Consensus leicht rechts von der Mitte gefunden zu haben. Und der, der dies entwickelte, sagte, nun sei man wohl dabei, einen Consensus leicht links von der Mitte zu finden. Beides ist dann gar nicht so schrecklich weit von der Mitte entfernt. Aber es schafft notwendigerweise starke Spannungen, oder ein solcher Übergang von der einen Seite der Mitte zur anderen schafft starke Abwehr, auch stark gefühlsmäßige Abwehr derer, die auf den alten Consensus festgelegt waren, und es schafft übertriebene, häufig auch nicht realistische Erwartungen derer, die nun zum erstenmal sozusagen sich voll am Consensus beteiligt fühlen.

Frage: Herr Bundeskanzler, hat es in den drei Jahren und konzentriert in den letzten Monaten Augenblicke der Resignation oder gar der Ermüdung, der Unlust gegeben, weil vielleicht zuviel auf Sie eingestürmt ist, das sie, subjektiv oder objektiv, nicht verdient hatten?

Antwort: Ich glaube nicht in den letzten Monaten, sonst hat es im Laufe der Zeit schon immer mal wieder Situationen gegeben, auf die ich mit erheblicher Unlust reagiert habe.

Frage: Was waren denn das für welche?

Antwort: Das waren dann überwiegend nicht Situationen, die mit dem innenpolitischen Gegner zu tun hatten, sondern mit Unzulänglichkeiten im eigenen Laden.

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Quelle: Hintergrundgespräch des Bundeskanzlers, Brandt, für „Die Zeit“ (19. September 1972), Archiv der sozialen Demokratie, WBA, A 9, 26; abgedruckt in Willy Brandt, Berliner Ausgabe, Bd. 7: Mehr Demokratie wagen. Innen- und Gesellschaftspolitik 1966–1974. Bearbeitet von Wolther von Kieseritzky. Bonn, 2001, S. 354f. Online verfügbar unter: https://willy-brandt.de/en/willy-brandt/publikationen/mehr-demokratie-wagen-1966-1974/