Quelle
Der empirische Beweis: Neue Armut
1.6 Millionen Arme in
der Bundesrepublik Deutschland
Die politische Verantwortung in der Bundesrepublik Deutschland für die Einkommen und die Einkommensverteilung hat sich in den vergangenen Jahren, vor allem seit 1969, durch die Untätigkeit des Staates immer stärker auf die Tarifpartner verlagert. Dabei haben die Regierenden weitgehend vergessen, daß der Arbeitnehmer, wenn er verheiratet ist und Kinder hat, vom Lohn, und zwar von dem Lohn, den er am Arbeitsplatz aufgrund seiner Leistung erzielt, allein nicht leben kann. Er ist auf Sozialeinkommen angewiesen, also z.B. auf Familienlastenausgleich in Form von Kindergeld, Wohngeld, Ausbildungsförderung, Leistungen, die im Rahmen des Sozialeinkommens auf dem Wege der sekundären Einkommensumverteilung vom Staat mittels Steuern finanziert und entsprechend den sozialpolitischen Zielsetzungen, die er sich gibt, verteilt werden.
Dieser Aufgabe ist der Staat, genauer gesagt, sind die Bundesregierung und die sie tragenden Parteien, in den letzten Jahren nicht mehr nachgekommen. Das Kindergeld ist von 1965 bis 1975 mit einer einzigen Ausnahme (nämlich 10,– DM für das dritte Kind) nicht mehr erhöht worden. Auch die Kindergeldreform von 1975 hat nichts daran geändert, daß das Kindergeld zu den ganz wenigen Sozialleistungen gehört, die nach wie vor nicht dynamisiert sind.
Durch die sehr niedrig angesetzten Einkommensgrenzen konnten Wohngeld und Ausbildungsförderung ihre sozial entlastende Funktion für immer weniger Familien erfüllen. Der inflationäre Verteilungskampf um das Volkseinkommen wurde fast ausschließlich zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern ausgetragen, wobei sich zeigte, daß keine der beiden Seiten dauerhafte Vorteile zu Lasten der anderen Seite erringen konnte. […]
Auch waren die Gewerkschaften nicht in der Lage, die Defizite staatlicher Sozialeinkommenspolitik durch höhere Tariflohnerhöhungen auszugleichen. Diese Versuche, wie sie z.B. die ÖTV unternommen hatte, erwiesen sich als untauglich und konjunkturpolitisch schädlich. Leidtragende waren auch hier die sozial Schwachen.
In der Bundesrepublik Deutschland gibt es wieder bittere private Armut. 5,8 Millionen Menschen in 2,2 Millionen Haushalten verfügen nur über ein Einkommen, das unter dem Sozialhilfeniveau liegt (vgl. D. I). Es handelt sich dabei nicht um „Gammler, Penner und Tippelbrüder“, sondern um
– 1,1 Millionen Rentnerhaushalte mit 2,3 Millionen Personen
und
– 600 000 Arbeiterfamilien mit 2,2 Millionen Personen
und
– 300 000 Angestelltenhaushalte mit 1,2 Millionen
Personen.
Die eigene Sprachlosigkeit der Armen darf nicht dazu führen, daß sie der öffentlichen Aufmerksamkeit entzogen werden, ohne die in einer Massendemokratie wenig geschieht. Die Armut in unserer Gesellschaft existiert, jedoch oft verschämt und versteckt. Die Zahl der Personen, deren Einkommen unter den Bedarfssätzen der Sozialhilfe liegen, ist etwa 7mal so groß wie die Zahl der Empfänger, die tatsächlich laufende Hilfe zum Lebensunterhalt erhalten.
Die Gründe dafür, warum die Leistungen der Sozialhilfe von so vielen Menschen nicht in Anspruch genommen werden, obwohl sie ein Recht darauf haben, sind vielschichtig: ein Familienvater z.B., dessen Einkommen unter dem Sozialhilfeniveau liegt, lehnt es schlicht ab, zum Sozialamt zu gehen, weil er ja „selber für sich sorgen kann“. Ein weiterer Grund ist die Furcht, die Sozialhilfeträger könnten unterhaltspflichtige Verwandte, insbesondere die Kinder, in Anspruch nehmen. Hinzu kommt, daß gerade unter den Armen ein verhältnismäßig großer Informationsmangel vorliegt.
Armut und soziale Isolierung befinden sich in einem Kreislauf. Wer arm ist, verliert den sozialen Anschluß, und wer den Anschluß verliert, ist arm. Ursache und Wirkung lassen sich nur noch schwer unterscheiden. […]
Quelle: Heiner Geißler, Die Neue Soziale Frage. Analysen und Dokumente. Freiburg im Breisgau, 1976, S. 26–28. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung.