Quelle
Bericht der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitung
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Was „Kirche im Sozialismus“ ist, bewährt sich zuallererst daran, ob der einzelne Bürger in der sozialistischen Gesellschaft der DDR mit seiner Familie als bewußter Christ leben und das Vertrauen haben kann, daß ihm und allen Christen dies auch in Zukunft möglich sein wird.
Es ist oft und eindrücklich gesagt worden, zuletzt von dem Vorsitzenden des Staatsrates, Generalsekretär Erich Honecker, bei der 1. Tagung der neu gewählten Volkskammer: „Unsere sozialistische Gesellschaft bietet jedem Bürger, unabhängig von Alter und Geschlecht, Weltanschauung und religiösem Bekenntnis, Sicherheit und Geborgenheit, eine klare Perspektive und die Möglichkeit, seine Fähigkeiten und Talente, seine Persönlichkeit voll zu entfalten. Daran halten wir fest“.
Dieser Satz scheint uns unmißverständlich auszudrücken, daß die volle Entfaltung der Persönlichkeit auch der christlichen Bürger jetzt und in Zukunft gewährleistet sein soll.
Offenbar sind solche klaren Worten bisher noch nicht in dem Maße Allgemeingut geworden, daß man ihre Wirkung überall spürt. In den programmatischen Erklärungen zur kommunistischen Erziehung wird für eine andere Grundanschauung als die des Marxismus-Leninismus keinerlei Raum gelassen (vgl. den Abschnitt „Entwicklung der Volksbildung und kommunistischen Erziehung der Jugend“ im Parteiprogramm der SED). Das Problem liegt genau dort, wo es die Bundessynode in Züssow 1976 angezeigt hat: „Die Spannung zwischen der Zusicherung von Glaubens- und Gewissensfreiheit einerseits und dem Erziehungsziel der kommunistischen Persönlichkeit andererseits bedarf einer grundsätzlichen Klärung, die für die Kinder und Jugendlichen unserer Gemeinden wirksam werden muß.“
Im Sinne eines „guten, vertrauensvollen Miteinanders“, von dem immer wieder gesprochen wird, ist es nicht günstig, wenn der Christ fragen muß: Ist der christliche Glaube beim Aufbau des Kommunismus doch vielleicht nur ein Überrest, der beseitigt werden müßte?
Wir haben es schon mehrfach gesagt: Fälle ausgesprochener Diskriminierung sind, wenn sie mit Namen und Hausnummer zur Sprache gebracht werden können, geprüft und im allgemeinen abgestellt worden. Aber sie kommen eben, besonders im Bereich der Volksbildung, immer wieder einmal vor. Woher kommt das? Diejenigen, die solche Diskriminierungen verursachen, haben wahrscheinlich selten persönliche Erfahrungen mit der Kirche gehabt. Könnte es daran liegen, daß sich die Generallinie nicht bis in die Ausbildung und in die Schulungen hinein durchsetzt? Was wird mit Büchern wie „Was ist Kommunismus?“, die in Massenauflagen erscheinen, bezweckt? Wird der Lehrer, der hört, daß die „bürgerliche Moral“ „die ewige Sittlichkeit außerhalb von Gesellschaft und Klassenkampf heuchelt“ und daß dies „mit unserer Moralauffassung unvereinbar ist“, nicht gerade darauf gestoßen, dies Verdikt auf die christliche Sittlichkeit zu beziehen? In welchem Verhältnis steht das dort entworfene Bild von Religion und Sittlichkeit zu der Behauptung, daß die ideologischen Gegensätze zwischen marxistischer Ideologie und christlichem Bekenntnis keinen antagonistischen Charakter mehr hätten? Liegt die jetzt häufiger zu bemerkende Tatsache, daß christliche Kinder von ihren Mitschülern bedrängt werden, außerhalb der pädagogischen Einflußmöglichkeiten der Lehrer? Daß in die Weltanschauung der Partei ein erhebliches Stück Religionskritik integriert ist, ist klar. Aber es beschwert uns, daß diese nicht so sehr in der Form positiver Darstellung der eigenen Überzeugung und mit dem Respekt vor der des anderen übermittelt wird. Vielfach werden Eltern von der Position der Macht her, die die Lehrer zweifellos in großem Maße haben, im Interesse der Zukunft ihrer Kinder davor gewarnt, diese an der christlichen Unterweisung teilnehmen zu lassen. Das zwingt dazu, an die Zivilcourage zu appellieren. Aber ist das gut im Sinne des Staates und eines zu fördernden Vertrauens? Mit Brecht zu sprechen, sollte unser Land keine „Helden nötig“ haben. Schwer verständlich für viele Christen ist es auch, daß aus dem in der Verfassung verankerten Führungsanspruch der SED die Folgerung häufig gezogen wird, daß auch kleinste Einheiten nur durch Mitglieder der Partei geleitet werden sollen. Sollte der Führungsanspruch wirklich im Sinne von Ausschließlichkeit zu verstehen sein? Bewährte Fachleute, die sich zum christlichen Glauben bekennen, werden auf wichtigen Posten belassen. Aber engagierte junge Christen haben wenig Aussicht, dorthin zu gelangen, und wenn sie noch so tüchtige Fachleute und gute Kollegen wären.
Wir treten nach wie vor dafür ein, daß Mitglieder der Baueinheiten zum Studium zugelassen werden. Daß die Regierung der DDR die Möglichkeit der Waffendienstverweigerung gegeben hat, ist ein Zeichen für Stärke. Durch einschränkende Maßnahmen wird dieses Zeichen verdunkelt. So ist das Unbehagen verständlich, das sich immer wieder einmal Luft macht. Gelegentliche Explosionen zeigen, daß man an der „Basis“ hochempfindlich und geneigt ist, den Leitungen der Kirche und ihren Bemühungen um eine größere Gemeinsamkeit zu mißtrauen. Daß die Massenmedien der DDR noch am Wahltage über die Wahlbeteiligung leitender Geistlicher berichtet haben, war ein Mißgriff, der das Verhältnis zwischen Staat und Kirche, unter den Kirchen und zwischen Leitungen und Gemeinden nicht wenig belastet hat. Wem kann an solcher Entwicklung liegen? Nicht zurückgenommen sind die Kommentare der DDR-Presse vom 31.8.1976 zur Selbstverbrennung von Oskar Brüsewitz, die, wie man zu der Tat selbst auch stehen mag, Respekt vor der Würde des christlichen Mitbürgers vermissen lassen.
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Quelle: „Kirche im Sozialismus: Aus dem Bericht der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitung von 1977“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25. Mai 1977; abgedruckt in Christoph Kleßmann und Georg Wagner, Hrsg., Das gespaltene Land. Leben in Deutschland 1945–1990. München, 1993, S. 430–32. Wiedergabe auf dieser Webseite mit freundlicher Genehmigung.