Kurzbeschreibung

Obwohl nahezu alle Hoffnungen auf eine Wiedervereinigung verschwunden waren, argumentierte die konservative Demoskopin Elisabeth Noelle-Neumann auf der Grundlage ihrer mehr als vier Jahrzehnte umspannenden Umfrageergebnisse, dass ein relativ stabiles Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen Ost- und Westdeutschen die Hoffnungen auf eine eventuelle Wiederherstellung eines vereinigten deutschen Staates verstärken würde.

Umfragen deuten auf ein Zusammengehörigkeitsgefühl auch nach vier Jahrzehnten der Teilung hin (23. Oktober 1989)

  • Elisabeth Noelle-Neumann

Quelle

Das Zusammengehörigkeitsgefühl ist stark geblieben

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Eine Allensbacher Frage Ende September/Anfang Oktober lautete: „Glauben Sie, daß später in den Geschichtsbüchern über den Ausbruch der Deutschen aus der DDR, die jetzt zu uns kommen, als ein nationales deutsches Ereignis berichtet werden wird, oder glauben Sie, ein so großes Ereignis ist es nicht?“ 60 Prozent sagten: „Das wird in den Geschichtsbüchern als nationales Ereignis stehen", 22 Prozent: „war kein so großes Ereignis“, 18 Prozent blieben unentschieden.

Es ist, als habe der Anblick der jungen Leute, der Familien mit Kindern, die da im Fernsehen bei ihrer Ankunft aus den Zügen aussteigend zu sehen waren, etwas zum Bewußtsein gebracht, das seit längerem kein Thema mehr war, weder in den Schulbüchern noch in den Medien. Eine Allensbacher Frage Ende September/Anfang Oktober lautete: „Was, glauben Sie, wird für die Deutschen aus der DDR, die jetzt zu uns kommen, wichtiger sein, damit sie sich wohl fühlen: der höhere Lebensstandard oder die Freiheit bei uns?“ – „Die Freiheit bei uns“, antworteten 60 Prozent, 26 Prozent „der höhere Lebensstandard“, 14 Prozent blieben unentschieden.

Seit Mitte der fünfziger Jahre wurde die Demoskopie aufgefordert, zu bestätigen, daß die Deutschen ihren Wohlstand in der Bundesrepublik nicht mehr gefährdet sehen wollten durch irgendwelche Gedanken an eine deutsche Wiedervereinigung. Und dann dringlicher in den siebziger Jahren, daß sich ein deutsches Teilstaatenbewußtsein entwickelt habe, hier im Westen und auch im Osten.

Bei der seit 1951 gestellten Frage „Was halten Sie für die wichtigste Frage, mit der man sich in der Bundesrepublik allgemein beschäftigen sollte?“ stand noch 1965 auf dem ersten Platz, von 45 Prozent genannt, „die Wiedervereinigung ist das wichtigste“. Nach dem Abschluß der Ostverträge 1971 kam die Antwort „Das dringendste ist die Wiedervereinigung“ nur noch von 3 Prozent im Januar 1971, später nur noch von höchstens einem Prozent. Mit dieser Frage ließ sich nicht mehr messen, wie sich das Gefühl einer nationalen Zusammengehörigkeit entwickelte. Von der Demoskopie hörte man in den siebziger und achtziger Jahren vornehmlich, immer weniger Schüler hätten die Namen von Städten aus der DDR, wie Rostock oder Halle, je gehört und niemand rechne mehr mit einer Wiedervereinigung, die Frage sei erledigt.

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In der Sozialforschung spricht man vom „Instrumente-Zerfall“, wenn sich die realen Verhältnisse so verändert haben, daß man Entwicklungen mit den lange Zeit verwendeten Fragen nicht mehr verfolgen kann. 1970 fingen wir an, nach einer neuen Frage zu suchen, um das nationale Zusammengehörigkeitsgefühl der Westdeutschen mit den Deutschen der DDR zu beobachten. Weit entfernt von Aktualität und Politik sollte die Frage sein, um möglichst lange als Meßinstrument tauglich zu bleiben.

So erfanden wir die „Schwarzmeer-Frage“. Sie lautete: „Stellen Sie sich bitte einmal vor, Sie machen Ferien am Schwarzen Meer. Eines Tages lernen Sie dort einen anderen Deutschen kennen. Im Gespräch erfahren Sie, daß er aus der DDR kommt, in der DDR wohnt. Was denken Sie da wohl im ersten Moment, wenn Sie das erfahren?“ Dazu überreichte der Interviewer neun Karten und sagte: „Sehen Sie doch bitte diese Karten einmal an: Was davon träfe zu?“ Die Strukturierung durch Karten mit vorgeschlagenen Antworten war erforderlich, um über längere Zeit hinweg die Entwicklung von Einstellungen vergleichbar zu verfolgen. Die vorgeschlagenen Antworten waren so ausgewählt, daß vier ein Gefühl nationaler Verbundenheit oder zumindest einer besonderen Beteiligung anzeigten, fünf deuteten auf Entfremdung.

Die Frage wurde zwischen 1970 und 1989 zwölfmal an einen repräsentativen Bevölkerungsquerschnitt gerichtet. Die Ergebnisse zeigten, daß unterhalb der Tagesaktualität, in der die deutsche Einheit keine Rolle spielte, ein Empfindungsstrom lief, der wie unberührt von der Dauer der Zeitspanne der deutschen Teilung blieb.

An der Spitze steht die Aussage: „Ich wäre neugierig, mich mit ihm zu unterhalten“: 71 Prozent 1970, 71 Prozent Anfang 1989. Es zeigt sich nichts von der vielfach vermuteten Interessen- und Teilnahmslosigkeit.

„Ich würde mich freuen“, sagten 1970 61 Prozent, 19 Jahre später 57 Prozent. „Ich glaube, wir würden uns als Deutsche im Ausland gut verstehen“, meinten 1970 59 Prozent, Anfang 1989 54 Prozent. „Ich würde vorschlagen, daß wir zusammen etwas trinken“, stellten sich 1970 45 Prozent und 1989 51 Prozent vor.

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Die unter Dreißigjährigen zeigen immer eine Tendenz, meist allerdings schwach, in der Richtung einer größeren Entfernung zum zweiten deutschen Staat. Heißt das, daß sich doch langsam eine Kluft öffnet? Aus dem Material heraus läßt sich das widerlegen. Denn wenn es so wäre, daß sich mit den Aussagen der Jungen eine beginnende Trennung im Nationalgefühl anzeigt, müßte sich diese Trennung über rund zwei Jahrzehnte hinweg langsam fortsetzen, stärker werden. Da sich aber die tatsächlichen Ergebnisse nicht verändert haben, muß man interpretieren, daß die junge Generation allmählich in das deutsche Zusammengehörigkeitsgefühl hineinwächst und daß man diese kleine Distanz nicht als eine Prognose der Zukunft nehmen kann, sondern als ein interessantes Symptom, wie ein derartiges Hereinwachsen vor sich geht.

Angesichts der seit 1970 so gut wie vollständig aufgegebenen Hoffnungen oder Erwartungen, es könne eine deutsche Wiedervereinigung geben, entwickelten wir 1973 eine weitere Meßfrage: „Hier steht ein Satz aus dem Grundgesetz – wenn Sie ihn bitte einmal lesen.“ Der Interviewer übergibt ein Blatt mit dem Text: „Das gesamte deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden.“ Es folgt die Frage: „Was meinen Sie: Soll dieser Satz auch weiterhin im Grundgesetz stehen, oder finden Sie, der sollte gestrichen werden?“ – „Er sollte weiter im Grundgesetz stehen“, sagten 1973 73 Prozent und Anfang 1989 75 Prozent.

Wir tasteten uns mit neuen Fragen an eine Gemütsverfassung der Deutschen heran, die einmal beschrieben worden ist mit dem Ausdruck: „Im Wartezimmer der Geschichte“. Anfang 1989 legten die Interviewer die Abbildung eines Mannes vor, der gerade sagte: „Für die deutsche Einheit muß man eintreten, auch wenn sie nicht sofort zu erreichen ist. Bei großen Zielen muß man in Kauf nehmen, daß man ihre Erfüllung selbst nicht mehr erlebt.“ Die Frage im Interview dazu lautete: „Würden Sie dem zustimmen oder nicht zustimmen?“ – „Zustimmen“, antworteten 61 Prozent, „nicht zustimmen“ 20 Prozent, unentschieden blieben 19 Prozent.

Ebenfalls Anfang 1989 wurde gefragt: „Ist die deutsche Frage noch offen, oder ist sie nicht mehr offen?“ Wir waren besorgt, ob diese Frage mit dem einschlägigen Terminus der Deutschlandpolitik, „deutsche Frage noch offen“, sich nicht zu weit von unserem Ideal entfernte: Eine demoskopische Frage soll so sein, daß sie ein Nachbar dem anderen über den Gartenzaun stellen kann. Aber der Bevölkerung schien die Terminologie keine Schwierigkeit zu bereiten. 51 Prozent sagten, die deutsche Frage sei noch offen, 24 Prozent, sie sei nicht mehr offen, 25 Prozent blieben unentschieden – bei einer so schwierigen Frage kein ungewöhnlich hoher Anteil.

Schließlich hieß es in zwei parallel laufenden Umfragen Anfang 1989: „Wie ist Ihr Gefühl: Sind die Menschen in der DDR eher Landsleute oder eher Fremde?“ – „Eher Landsleute“, sagten 71 Prozent, „eher Fremde“ 17 Prozent, bei 12 Prozent Unentschiedenen. Und: „Wenn Sie an die Leute in der DDR denken: Sind sie für Sie Deutsche, die nur in einem anderen Teil von Deutschland leben, oder sind das für Sie genauso Ausländer, wie zum Beispiel Schweizer oder Österreicher?“ – „Sind für mich Deutsche“, sagten 79 Prozent, „Ausländer“ 13 Prozent, unentschieden blieben 8 Prozent.

Die Schwarzmeer-Frage, die Frage nach der Präambel – all diese fast zwei Jahrzehnte hindurch beobachteten demoskopischen Trends, die man von außen nicht sehen konnte, sondern nur in den nüchternen Tabellen, waren plötzlich, über Nacht, im September kein Papier mehr, sondern verwandelten sich in Wirklichkeit, der man in Fernsehbildern folgen konnte. Selbst komplizierte Fragen werden unter dem Eindruck der Ereignisse von gut zwei Dritteln der Bevölkerung in eigentümlich hoher Übereinstimmung beantwortet.

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Aber die Naivität, mit der viele seit Mitte der fünfziger Jahre erwarteten, man könne eine Bevölkerung einfach spalten, wie man ein Holzscheit spaltet, das ist wohl schon jetzt ein abgeschlossenes Kapitel.

Quelle: Elisabeth Noelle-Neumann, „Das Zusammengehörigkeitsgefühl ist stark geblieben“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23. Oktober 1989, S. 13. © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt.