Kurzbeschreibung

Ein liberaler Kommentator verweist auf die Ironie des Umstands, daß sich eine Bürgerbewegung gegen Entscheidungen demokratisch gewählter Gremien wendet, kritisiert die kostenintensive Gewaltanwendung, um die Proteste zu unterbinden und fordert die Politiker dazu auf, den Widerstand eines aktiven Teils der Bevölkerung gegen Atomkraft ernster zu nehmen.

Verfassungsrechtliche Implikationen der Anti-Atomkraft-Bewegung (3. November 1976)

  • Christian Schütze

Quelle

Kernkraft spaltet den Rechtsstaat

Seit einiger Zeit gibt es den Begriff „Nuklearfaschismus“. Er hat seinen Weg in die öffentliche Diskussion noch nicht gemacht, weil nur wenige sich darunter etwas vorstellen können. An den Auseinandersetzungen um die Baustelle von Brokdorf an der Unterelbe läßt sich erahnen, was gemeint ist. Der Aufmarsch von Polizeihundertschaften mit Gasmasken, Hunden und Wasserwerfern, die nachrückenden Planierraupen und Stacheldrahtverleger sind für jeden, der den Sonderbericht des NDR-Fernsehens am Sonntagabend sah, ein bleibender Eindruck. Doch das Entscheidende ist nicht die Aktion im Morgengrauen, mit der – nach der Bundestagswahl – eine plötzlich erteilte Baugenehmigung mit Anweisung zum sofortigen Vollzug für ein seit Jahren umstrittenes Projekt im Handstreich durchgezogen wird, um Bürgerinitiativen auszumanövrieren; bedeutsamer noch sind die massenpsychologische Begleitmusik und das souveräne Zusammenspiel von Elektrizitätsunternehmen, Landesregierung, Sicherheitsorganen und Polizei. Sie waren alle wohlinformiert und konnten sich gut vorbereiten.

Das Schema des Vorgehens ist ähnlich dem von Wyhl. Gegen das Planfeststellungsverfahren werden von betroffenen oder besorgten Bürgern Einwände erhoben, in Brokdorf mehr als

20 000. Auch vor Gericht werden Klagen eingereicht. Die Bevölkerung wird daraufhin zu Hearings eingeladen, bei denen Polizeipräsenz für die nötige Stimmung sorgt. In Brokdorf waren sie so organisiert, daß – nach Aussage eines Mitwirkenden in dem Fernsehfilm – die Dithmarscher Betroffenen an dem einen Tag zu Wort kamen, die von ihnen bestellten Fachleute aber an einem anderen. Damit konnten die einen als unkundig in Atomfragen, die anderen als hergereiste Nichtbetroffene behandelt werden. Inzwischen nahm das Genehmigungsverfahren durch die Regierung in Kiel seinen Fortgang, streng nach der Ordnung des Rechtsstaates und ohne daß der Landtag mit der Sache befaßt wurde.

Das ist, wie der zuständige Sozialminister Claussen ausführte, nicht vorgesehen. Fragen von Kernkraftwerken sind allein durch die Exekutive zu behandeln, die dabei allerdings – außer der Industrie – keinen Gesprächspartner hat, es sei denn, es bilden sich Bürgerinitiativen. Diese aber werden als nicht legitimiert behandelt. Der Rechtsstaat sieht sie nicht vor, oder genauer: Der Gesetzes- und Verordnungsstaat sieht sie nicht vor. Und wenn auch im Grundgesetz steht, daß alle Deutschen sich friedlich und ohne Waffen versammeln dürfen, so gibt es doch keine Regierung, die sich um solche Versammlung irgendwie kümmern müßte.

Dafür kümmern sich die organisierten unentwegten Kommunisten. Sie mischen sich als Grüppchen unter Tausende von Demonstranten jeder Art. So konnte die Pressestelle der Nordwestdeutschen Kraftwerke leicht verbreiten, die Demonstration sei von militanten Kommunisten „von langer Hand vorbereitet" worden, und die Sicherheitsorgane stellten prompt die Anwesenheit von 150 Kommunisten unter 5000 Demonstranten fest: Den Sprechern der gewaltlosen „Bürgerinitiative Umweltschutz Unterelbe“ – einem Pastor aus Bremen und einem ortsansässigen Bauern (CDU) – nützte es wenig, daß sie sich von diesen Aktivisten distanzierten. Die Kraftwerke AG meldete, die sicherheitstechnischen Vorkehrungen hätten sich angesichts der Radikalen als gerechtfertigt erwiesen, den Bürgerinitiativen sei die Demonstration aus der Hand geglitten, und man erwarte, daß sie hinfort nur mit den Mitteln des Rechtsstaates weiterkämpfen. Indessen wurde der Graben um die Baustelle auf acht Meter verbreitert und mit Stacheldraht ausgelegt, „zum Schutz spielender Kinder“.

Zwei Millionen Mark hat der bisherige Einsatz für die Verteidigung der Baustelle gekostet. Sie werden eines Tages zu den vielen Millionen an Investitionen für den ersten Bauabschnitt hinzugerechnet. Diese Geldmengen werden wiegen, wenn ein Gericht über Klagen zu befinden hat oder Behörden entscheiden müssen, ob der nächste Bauabschnitt begonnen werden darf. Solche Politik der vollendeten Tatsachen und einbetonierten Millionen, die den Rechtsstaat in allen seinen Instanzen erst ausnützt und dann ohnmächtig macht, ist es, was die Bürgerinitiativen auf den Plan ruft. Wie schwer sie es haben, gegenüber industrialisierungssüchtigen Regierungen, geschäftstüchtigen Stromerzeugern und arbeitsplatzberauschten Gewerkschaften den Gerichten noch etwas Spielraum zu erkämpfen, hat der Fall Wyhl gezeigt.

Wenn dann noch Kommunisten unter den Demonstranten sind, nehmen Firmen und Behörden dies gern zum Anlaß, eine demokratisch erlaubte Meinungsäußerung ohne weitere Argumente zu diskreditieren. Zu fragen wäre einmal, ob Kommunisten in unserem Land der fabelhafte Sauerteig sind, der – in kleinen Spuren eingemischt – jede Protestaktion versammelter Demokraten irrelevant macht. Ministerpräsident Stoltenberg hat den Landtag in Kiel aufgefordert, sich darüber zu freuen, daß durch den Polizeieinsatz im Morgengrauen bei Brokdorf ein rechtsstaatliches Verfahren gesichert wurde.

Wenn Regierungschefs angesichts der Unruhe in ihren Bevölkerungen wegen der Bedrohung durch einen Kernkraftwerkbau bei ungeklärten Folgen nichts anderes einfällt als diese naive Lust am Rechtsstaat, dann ist es Zeit für die Parlamente, sich in der Kernenergiefrage endlich mehr Rechte zu sichern. Die Bevölkerung ist nicht mehr so einfältig, sich das Märchen von der drohenden Energielücke immer wieder erzählen zu lassen, während bei Fragen nach der Lagerung der radioaktiven Abfälle die Chemieindustrie ihr Desinteresse erklärt, die Elektrizitätsgesellschaften sich nicht verantwortlich fühlen und die Regierungen mit dem Genehmigungsstop für weitere Kernkraftwerke immer nur drohen.

Quelle: Christian Schütze, „Kernkraft spaltet den Rechtsstaat“, Süddeutsche Zeitung, 3. November 1976. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung.

Verfassungsrechtliche Implikationen der Anti-Atomkraft-Bewegung (3. November 1976), veröffentlicht in: German History in Documents and Images, <https://germanhistorydocs.org/de/zwei-deutsche-staaten-1961-1989/ghdi:document-1114> [26.04.2024].