Kurzbeschreibung

Aufgrund der Berichterstattung der Medien erregte der Konflikt über den Bau eines Atomkraftwerks im badischen Dorf Wyhl zwischen Beamten, Vertretern der Energieindustrie und deren Experten sowie einer protestierenden Gruppe von Bürgern, die sich aus einer bunten Mischung von einheimischen Bauern und Umweltaktivisten zusammensetzten, bundesweite Aufmerksamkeit.

Proteste von Umweltschützern gegen den Bau eines Atomkraftwerks in Wyhl (1975)

  • Walter Mossmann

Quelle

Wyhl ist ein Dorf (ca. 3000 Einwohner) nördlich vom Kaiserstuhl am Rhein, auf dessen Gemarkung ein Atomkraftwerk gebaut werden soll, mit 4 x 1300 Megawatt das bisher größte der Welt.

Am 9. und 10. Juli 1973 fand in der Wyhler Festhalle der öffentliche Erörterungstermin in Sachen KKW statt. D. h., die Genehmigungsbehörde (verschiedene Landesministerien) ruft ein letztes Mal zu allen strittigen Fragen die Einsprecher auf, hört ihre Einwände an, erteilt der Gegenseite das Wort zur Widerlegung und bildet sich dann ein Urteil. Das Ganze hat also Tribunalcharakter, die Leute aus den Ministerien spielen Richter und fällen objektiv, „im Namen des Volkes“, den Entscheid. Das Publikum, etwa 1000 Leute aus der Region, die sich z. T. extra zwei Tage freigenommen hatten, erlebte ein lehrreiches Schauspiel. Dabei kam es weniger auf die Handlung an als auf die Rollen, die sich im Lauf des Termins immer deutlicher herausschälten. Das Publikum machte sich zu diesem Stück selbst einen Schluß und ließ am zweiten Tag den Termin platzen.

Bei dieser letzten großen Veranstaltung, an der alle Beteiligten anwesend waren, haben viele zum ersten Mal in aller Ausführlichkeit gesehen, wer welche Interessen vertritt.

1. Auf der Bühne, oben, saßen an einem langen Tisch die Regierungsbeamten. In der Mitte, die Regler für alle Mikrofone in Händen, der Abgesandte des Landeswirtschaftsministeriums, Grawe. Er triefte vor Objektivität und Sachlichkeit immer so lange, bis es kritisch wurde. Dann schlug er einem aufgeregten Bauern herablassend vor, er solle doch seine Notizen schriftlich einreichen. Oder er ließ durchblicken, daß er das Gerede der Umweltschützer nur der Form halber erträgt. Oder er schaltete einfach die Saalmikrofone aus. Einen Befangenheitsantrag gegen sein Ministerium lehnte er entrüstet ab. Obwohl jedermann weiß, daß sein Chef, Wirtschaftsminister Eberle, und Ministerpräsident Filbinger im Aufsichtsrat des Badenwerks sitzen – also im höchsten Gremium des Antragstellers. Obwohl die Regierung längst erklärt hatte, Wyhl müsse gebaut werden, um ein Ende zu machen mit der Störung durch Umweltschützer. Obwohl also das Urteil in diesem Schauprozeß längst feststand, weil Richter und Antragsteller identisch sind.

2. Unter der Bühne saßen nebeneinander aufgereiht die Gutachter für meteorologische, hydrologische, radiologische Fragen usw., Beamte und Professoren, eine ebenfalls neutrale, wertfreie und kompetente Instanz. Komisch nur, daß sie alle hinter dem Schwall wissenschaftlicher Terminologie unisono den gleichen Refrain sangen: Das KKW ist nicht schädlich, im Gegenteil, es wird in jeder Hinsicht segensreich sein. Das Publikum lachte dann, denn ihm war aus unzähligen Veranstaltungen vorher durchaus bekannt, daß diese Gutachter für Bezahlung das Gewünschte abliefern, lügen, und dazu noch schlampig arbeiten. Als das KKW Fessenheim geplant worden war, hatten sie den Franzosen erklärt, der Wind verwehe den Kühlturmdampf, nach Osten, ins Badische. Als es dann um Breisach ging, war diese Wissenschaft umgekehrter Ansicht, da ging der Wind plötzlich nach Westen. []

3. Vorne links im Saal saßen die Vertreter der Betreiber, KERNKRAFTWERK SÜD GmbH (Badenwerkstochter) und der Hersteller, KRAFTWERKSUNION (AEG und Siemens), in Bussen angekarrte Technokraten aus Karlsruhe, Stuttgart und anderswoher, die dann und wann belästigt ans Saalmikrofon traten, um den harthörigen Bauern mal wieder die Zweifel auszureden. Einzelne waren dem Publikum schon namentlich bekannt. Man wußte, daß sie ausschließlich Profitinteressen vertreten, aber von der „Versorgung“ der Bevölkerung reden. Man wußte, daß man jedem Staubsaugervertreter mehr trauen kann als denen. Und daß sie das ungebildete Volk verachten. Denn diese Herren traten schon 1972 in Breisach auf. Damals hatte die Regierung das Projekt allerdings kurz vor den Landtagswahlen fallenlassen, denn die Winzer drohten mit Wahlenthaltung. Und in der Gegend von Wyhl hatten sich die Herren Braun, Stäbler und Co. bei Badenwerks-Propaganda-Veranstaltungen einen Namen gemacht, seit die Regierung am 14. Mai 1973 Wyhl als neuen KKW-Standort bestimmt hatte.

Diese ganze aufgeblasene Blase wurde noch ergänzt durch eine Hundertschaft Bereitschaftspolizei im Keller und „Kripo-Spitzel“, die überall mithören wollten, was gesprochen wurde, selbst wenn man sie wegschickte.

Die Einheitlichkeit dieser KKW-Front machte das Publikum so aggressiv, daß jeder aus dem uneinheitlichen Haufen der Kernkraftwerks-Gegner beklatscht wurde, weil er wenigstens „zu uns“ gehört.

Vorne rechts im Saal saßen die Einsprecher, Umweltschützer, Bürgermeister, Bürgerinitiativen. Sie hatten in kurzer Zeit 95000 Unterschriften für Einsprüche gesammelt und lange wissenschaftliche und juristische Einsprüche verfaßt.

Die Sprecher der Umweltschutzgruppen (Studenten, Professoren, Lehrer, Ärzte) waren dem Publikum ebenfalls bekannt, als Gegenspieler der Technokraten.

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Die Sprecher der Bürgerinitiativen aus den verschiedenen Dörfern vertraten am deutlichsten die Meinung des Publikums. Alarmiert durch die Warnungen der Umweltschützer und die Welle von Umweltskandalen, über die in den Medien wenigstens berichtet wird, vertraten sie zunächst ökonomische Interessen. Sie fürchten mit gutem Grund für die Landwirtschaft: die Mais- und Getreidefelder, Obst- und Tabakplantagen, Fischerei; fürs Grundwasser, die Wälder. Die stärkste geschlossene Gruppe sind die Winzer. Jahrelang durch Subventionen, Rebumlegung, Einführung moderner Methoden und sehr viel Familienarbeit hochgezüchtet, soll jetzt der Kaiserstuhlweinbau den Interessen der Großindustrie geopfert werden. Das sieht kein Mensch ein. Deshalb ist die Vertrauenskrise auch so einschneidend. Früher hat die Regierung Subventionen geschickt und jetzt die Atomindustrie. „Wir können unseren Acker nicht auf den Buckel nehmen und damit wegziehen“, sagt ein Tabakpflanzer. Und für die Nebenerwerbslandwirte, die in Freiburg bei der Rhodia oder in Malterdingen bei Klöckner arbeiten, gilt das auch: Ihr Grund, ihr Haus, ihr Stück Weinberg war bisher in jeder Krise eine Sicherheit, ein nützliches Rückzugsgebiet.

Die Sprecher der Bürgerinitiativen sind sehr gut informiert, besser als wir es damals waren, besser als viele (sonst kritische) Großstädter, die die ganze Bewegung mit Maschinenstürmerei verwechseln. Viele Dorfbewohner, auch solche, die wenig lesen, haben seit Jahren Informationsveranstaltungen besucht, Bücher gelesen, Flugblätter verfaßt und zu Tausenden einzeln in die Briefkästen gesteckt (in einem Umkreis von 50 km!), demonstriert und Leserbriefe verschickt.

Das Publikum hat sich in den zwei Tagen Erörterungstermin nicht aufs Zuhören beschränkt. Es revoltierte mit Sprechchören, Zwischenrufen, Pfiffen, wenn die offiziellen Lügen zu unverschämt wurden. Nach arroganten, autoritären Wendungen des Vorsitzenden Grawe brach minutenlang Tumult los. Zum ersten Mal riefen die Leute den lapidaren Sprechchor: „Das KKW wird nicht gebaut!“ Und als die Bürgerinitiativen am Nachmittag des 10. Juli zum Auszug aufriefen, blieben praktisch nur Regierung, Industrie, Polizei und Presse im Saal – eine sehr sinnfällige Allianz.

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Quelle: Walter Mossmann, „Die Bevölkerung ist hellwach!“, Kursbuch 1975, Nr. 39, S. 129 ff. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung des Autors. Der Text ist abgedruckt in Christoph Kleßmann und Georg Wagner, Hrsg., Das gespaltene Land. Leben in Deutschland 1945-1990. München, 1993, S. 260–62.

Proteste von Umweltschützern gegen den Bau eines Atomkraftwerks in Wyhl (1975), veröffentlicht in: German History in Documents and Images, <https://germanhistorydocs.org/de/zwei-deutsche-staaten-1961-1989/ghdi:document-227> [29.03.2024].