Kurzbeschreibung

Dieser Text beschreibt eine ländliche, vorindustrielle Region, in der relativ wohlhabende Bauern Landstücke an Familien verpachteten, welche wiederum die notwendige saisonale landwirtschaftliche Arbeit leisteten und außerdem Flachs spannen. Der Verfasser, ein protestantischer Pastor, betont wie viele andere westeuropäische Kommentatoren der Zeit, die fehlende Selbstbeherrschung der unverheirateten Kötter sowie deren Missachtung konservativer sexueller Normen.

Ansichten eines protestantischen Pastors über das Partnerwerbung und Ehe unter besitzenden Bauern und eigentumslosen Köttern in Westfalen (1786)

  • Johann Moritz Schwager

Quelle

„Über den Ravensberger Bauern“

Johann Mortiz Schwager

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Das Verhältniß, worinn ein Kötter oder Miethsmann mit seinem Bauern steht, ist im Grunde weit größere Sclaverey, als das Leibeigenthum des Bauren selbst. Der Kötter erhält gegen eine billige Miethe von seinem Bauer, den er und das Gesinde seinen Wirth nennt, eine nothdürftige Wohnung und so viel Land, daß er so eben seine nothwendige Küchengewächse ziehen und des Sommers eine Kuh davon erhalten kann. [] Dafür ist der Kötter gewisser maßen der Leibeigene des Bauern, auf dieses Winck muß er mit Weib und Kind zur Arbeit kommen, die zwar bezahlt wird, aber der arme Miethsmann muß oft zu Hause weit mehr versäumen, als ihm sein Tagelohn werth ist. Alles, was ihm seine Sclaverey versüßen kann, ist die Vertraulichkeit, womit er den Bauer und der Bauer ihn behandelt, und der Credit, den ihm der Bauer giebt. Außer dem Dreschen braucht indeßen der Bauer des Winters den Kötter nicht. [] Des Winters spinnt also der Kötter mit den Seinigen, um die gemachten Schulden abzutragen, seinen Flachs hat er selbst gezogen, denn der Bauer leiht ihm dazu, gegen bestimmte Miethe, auf einen Sommer das Land, und bearbeitet es ihm. Geräth nun dem Kötter das Flachs, bleibt er mit Kranckheiten verschont, und sind seine Kinder 5 bis 6 Jahr alt, daß sie ihm spinnen helfen können; so kann er leben und selbst etwas erübrigen; stirbt ihm aber seine Kuh, sein größter Reichthum, oder ist sein Weib zu fruchtbar, und liegt eins der Seinigen einige Zeit kranck; so ist er ruinirt, und kan sich schwerlich wieder erhohlen. Gewöhnlich ist aber seine Armuth selbst verschuldet. Das junge Gesindel plumpt zu früh in den Ehestand hinein, Knaben von 18 Jahren heyrathen Mädchen von 16, 17 Jahren, statt Vorrath gesammelt zu haben, machen sie Schulden, eine solche Ehe giebt viele Kinder, und das geringste Unglück setzt nachher diese Eheleute so sehr zurück, daß an kein Erhohlen mehr zu denken ist. An dieser

[] Armuth [] ist nichts Schuld, als eine eingerissene Sittenlosigkeit. [] Durch die einmal eingewurzelte Vertraulichkeit beyder Geschlechter, und die schamlose Unbefangenheit, womit selbst ehrbar scheinen wollende Leute von Dingen reden, die kein Ohr des Jünglings und der Jungfrau hören sollte, werden unter dem hiesigen Landvolke gewisse Triebe zu früh entwickelt und in Gährung gebracht, und da der Jüngling von Seiten des Mädchens eher ermuntert, als abgeschreckt wird; so wird der Geschlechtstrieb befriedigt, ohne daß an die Folgen gedacht würde. Die Tochter des Bauern setzt zu viel aufs Spiel, wenn sie ihrer Neigung folgen wollte, ihr größter Ehrgeitz besteht darinn, auf einen guten Hof als Baurin zu kommen, und das macht sie noch ehrbar. Die Tochter des Kötters hingegen kennt kein größeres Glück, als das, einen Mann zu haben, und unter dieser Classe von Menschen ist das männliche Geschlecht das spröde, und das weibliche geht auf die Freyte. Unsere Köttersöhne sind zu arm, eine Geschwächte mit Gelde abzufinden, aus Mangel nehmen sie sie, und wie eine solche Ehe ausfallen müße, läßt sich leicht errathen. [] Und dies eben ist es, warum sich das gemeine Mädchen so gern preis giebt, und so gern verführt. Es versteht die Kunst zu koketiren in seiner Art vollkommen so gut, als die Dame, entblößt eben so unverschämt den Busen, und gewisse andere Reitze so halb und halb, weil es mehr hilft, als ganz. Bleibt der Jüngling noch spröde; so hilft es seinen Sinnen durch Brandtwein nach, und erscheint der Jüngling nicht auf seine Einladung in seinem Bette, so besucht es ihn in dem seinigen. Dies ist gewöhnlich der ganze Roman, von hinten gespielt; der bald darauf folgende Ehestand und der ihn begleitende Mangel löscht jeden Funcken von Zärtlichkeit, wenn er noch da ist, aus, das Wochenbett verursacht die ersten drückenden Ausgaben in der Ehe, wechselseitige Achtung war nie da, und so wird eine solche Ehe eine Ehe der Wilden, die bloß Nothwendigkeit und thierische Triebe noch zusammen halten.

[] Die Ursachen dieser so früh und so starck sich entwicklenden Triebe sind in der Nähe. Der Kötter schläft mit seinen Kindern nicht blos in einer und eben derselben kleinen Kammer, sondern selbst in einem Bette, auch dann noch, wenn sie schon mannbar werden und sind. Sie sind Zeugen ehelicher Vertraulichkeiten, die nicht geheim genug gehalten werden können, und Zuhörer von Gesprächen, die erhitzen müßen. Die natürliche Folge ist Speculation, den erwachten Tyrannen zu befriedigen, und fehlts an Gelegenheit dies durch natürliche Mittel zu thun; so werden stumme Sünden erfunden, denn die Noth ist erfinderisch. Vermiethen sich Kötterkinder bey dem Bauer, so kommen sie mit mehrern losen Gesinde zusammen, eßen beßer und substantiöser, als zu Hause, und diese beßere Nahrungsmittel zu unreinen Gesprächen bey einem von Grundsätzen leeren Hertzen muß allen durch den Schul- und Religionsunterricht noch hineingesäeten Saamen vollends ersticken. Ungesehen hab ich oft Unterredungen zwischen jungen Leuten zugehört, die auf Taiti oder Kamschatka nicht garstiger seyn können, und die Unverschämtheit geiler Landmädchen mag von Bordelhuren noch übertroffen werden.

Es ist ein Kunstgrif in der bäurischen Erziehung, dem heranwachsenden Mädchen den Ehrgeitz als einen Riegel wider die Lüste beyzubringen. Die Tochter des Bauern ist vertraut mit dem Gesinde, und behandelt es als seines gleichen. Und doch bleiben sie sich beyderseits des Abstandes bewußt, den sie sich wirklich größer denken, als er ist. [] Ist die Bauerntochter nicht Anerbin; so darf sie, trotz aller Sittenlosigkeit, nicht erwarten, ihrem Wunsche und Stande gemäß gesucht zu werden, wenn ihre Ehre nur einigermaßen befleckt ist; denn die Mannspersonen sind nicht allein spröde, sondern auch delikat. Dies hält sehr zurücke, und ist ein Beweis, daß moralische Motiven viel vermögen, wenn der Volksgeist sie begünstigt. Hat jedoch ein verunglücktes Köttermädchen zufälliger Weise etwas im Vermögen, oder ist die deflorirte Bauertochter Anerbin des Colonats; so wirds so genau nicht genommen.

Quelle: Johann Mortiz Schwager, „Über den Ravensberger Bauern“, Westphälisches Magazin zur Geographie, Historie und Statistik. Hrsg. P.F. Weddigen. Bd. 2 (1786), Heft 5, S. 55–58; abgedruckt in Jürgen Schlumbohm, Kinderstuben, Wie Kinder zu Bauern, Bürgern, Aristokraten wurden 1700–1850. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1983, S. 78–81.

Ansichten eines protestantischen Pastors über das Partnerwerbung und Ehe unter besitzenden Bauern und eigentumslosen Köttern in Westfalen (1786), veröffentlicht in: German History in Documents and Images, <https://germanhistorydocs.org/de/das-heilige-roemische-reich-1648-1815/ghdi:document-3623> [01.10.2024].