Kurzbeschreibung

August Wilhelm Schlegel (1767–1845) war wie sein Bruder Friedrich und seine Frau Caroline Schelling ein wichtiges Mitglied des Jenaer Intellektuellenkreises. Schlegel unternahm bahnbrechende Studien des Sanskrit und fertigte sogar eine Übersetzung der Bhagavad Gita an. Er war zudem ein angesehener Hochschullehrer und Kritiker. In diesem Auszug aus seinen Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur (1808) gibt Schlegel einen „Ausblick auf die Zukunft“, der sich auf den deutschen Nationalcharakter und dessen Ausdruck in künstlerischen Formen konzentriert.

August Wilhelm Schlegel, Auszüge aus Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur (1808)

Quelle

Siebenunddreißigste Vorlesung

[]

Welchen Weg sollen wir nun einschlagen? Sollen wir uns wieder an die längst verbannte Form des französischen Trauerspiels zu gewöhnen suchen? Eine wiederholte Erfahrung hat bewiesen, daß es durch die Weise der Uebersetzung und den Ton der Aufführung so modificiert, wie es unvermeidlich modificiert werden muß, selbst unter den Händen eines Goethe oder Schiller kein sonderliches Glück machen kann.

Das den Griechen auf ächtere Weise nachgebildete Trauerspiel ist unsrer Sinnesart verwandter; allein die Menge begreift es nicht, es wird immer ein gelehrter Kunstgenuß für wenige Gebildete bleiben, ungefähr wie die Betrachtung der antiken Statuen.

Im Lustspiel hat schon Lessing die Schwierigkeit bemerkt, nationale Sitten einzuführen, die doch nicht provincial seien, da sich bei uns der Ton des geselligen Lebens nicht nach einem gemeinschaftlichen Mittelpunk modelt. Verlangen wir reine Lustspiele, so würde ich sehr zum Gebrauch gereimter Verse rathen; vielleicht stellte sich mit der künstlicheren Form auch allmälich ein eigenthümlicher Gehalt ein.

Indessen scheint mir dieß nicht das dringendste Bedürfniß: laßt uns zuvörderst die ernsten höheren Gattungen des deutschen Charakters würdig ausbilden. In diesen scheint mir nun unser Geschmack sich durchaus zum Romantischen zu neigen. Was die Menge in unsern halb rührenden, halb drolligen Dramen am meisten anzieht, die uns bald nach Peru, bald nach Kamtschatka, bald in die Ritterzeit versetzen, während die Gesinnungen modern und empfindsam bleiben, ist immer eine Fratze des Romantischen, die man auch in den abgeschmacktesten Zauber-Opern noch wieder kennt. Die Bedeutung dieser Gattung ist bei uns verloren gegangen, ehe wir sie noch recht gefunden hatten; die Phantasie ist mit den Erfindern solcher abenteuerlichen Hirngespinste durchgegangen, und die Absichten der Schauspiele sind manchmal klüger als die ihrer Urheber. Auf hundert Komödienzetteln wird der Name Romantisch an rohe und verfehlte Erzeugnisse verschwendet und entweiht; es sei uns erlaubt, ihn durch Kritik und Geschichte wieder zu seiner wahren Bedeutung zu adeln. Man hat sich neuerdings bemüht, die Reste unsrer alten National-Poesie und Ueberlieferung auf mancherlei Weise wieder zu beleben. Diese können dem Dichter eine Grundlage für das wundervolle Festpiel geben; die würdigste Gattung des romantischen Schauspiels ist aber die historische.

Auf diesem Felde sind die herrlichsten Lorbeern für die dramatischen Dichter zu pflücken, die Goethe und Schillern nacheifern wollen. Aber unser historisches Schauspiel sei denn auch wirklich allgemein national, es hänge sich nicht an Lebensbegebenheiten von einzelnen Rittern und kleinen Fürsten, die auf das Ganze keinen Einfluß hatten; es sei zugleich wahrhaft historisch, aus der Tiefe der Kenntniß geschöpft, und versetze uns ganz in die große Vorzeit. In diesem Spiegel laße uns der Dichter schauen, sei es auch zu unserm tiefen Schamerröthen, was die Deutschen vor Alters waren, und was sie wieder werden sollen. Er lege uns an’s Herz, daß wir Deutsche, wenn wir die Lehren der Geschichte nicht beßer bedenken als bisher, in Gefahr sind, wir, ehedem das erste und glorwürdigste Volk Europas, dessen frei gewählter Fürst ohne Widerspruch für das Oberhaupt der gesammten Christenheit anerkannt ward, ganz aus der Reihe der selbständigen Völker zu verschwinden. Lange haben sich die höheren Stände durch Vorliebe für fremde Sitten, durch Beeiferung um fremde Geistesbildung, die doch immer nur eine kümmerlich gerathne Frucht im Treibhause sein kann, der Gesammtheit des Volkes entfremdet; noch länger seit drei Jahrhunderten, hat innrer Zwiespalt unsre edelsten Kräfte in Bürgerkriegen aufgezehrt, deren verderbliche Folgen sich nun erst vollständig enthüllen. Mögen sich alle, die auf die öffentliche Gesinnung zu wirken Gelegenheit haben, beeifern, das alte Mißverständniß endlich zu lösen, und alle ächt Gesinnten um die leider verlaßenen Gegenstände der Verehrung, bei treuer Anhänglichkeit woran unsre Vorahnen so viel Heil und Ruhm erlebt haben, wie um ein heiliges Panier zu versammeln, und sie ihre unzerstörbare Einheit als Deutsche fühlen zu laßen! Welche Gemälde bietet unsre Geschichte dar, von den urältesten Zeiten, den Kriegen mit den Römern an, bis zur festgesetzten Bildung des deutschen Reichs! Dann der ritterlich glänzende Zeitraum des Hauses Hohenstaufen, endlich der politisch wichtigere und uns am nächsten liegende des Hauses Habsburg, das so viele große Fürsten und Helden erzeugt hat. Welch ein Feld für einen Dichter der wie Shakspeare die poetische Seite großer Weltbegebenheiten zu faßen wüßte! Aber so unbekümmert sind wir Deutsche immer um unsre wichtigsten National-Angelegenheiten, daß selbst die bloß historische Darstellung hier noch sehr im Rückstande ist.

Quelle: August Wilhelm Schlegel, Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur. Dritte Ausgabe besorgt von Eduard Böckling. Zweiter Theil. Leipzig: Weidmann, 1846, S. 431– 34. Online verfügbar unter: https://books.google.com/books?id=2BMPAAAAQAAJ&dq=%C3%9Cber%20dramatische%20Kunst%20und%20Literatur&pg=PR2#v=onepage&q=%C3%9Cber%20dramatische%20Kunst%20und%20Literatur&f=false

August Wilhelm Schlegel, Auszüge aus Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur (1808), veröffentlicht in: German History in Documents and Images, <https://germanhistorydocs.org/de/das-heilige-roemische-reich-1648-1815/ghdi:document-5364> [05.11.2024].