Kurzbeschreibung

Christian Wolff (1679–1754) war einer der bekanntesten – und umstrittensten – Philosophen des achtzehnten Jahrhunderts. Er erhielt eine Professur für Naturphilosophie an der Universität Halle, einer Akademie, die für ihre Verbindungen zum Pietismus bekannt war. Wolffs Vorlesungen über den Rationalismus brachten seine pietistischen Kollegen gegen ihn auf. Sie legten Beschwerden bei König Friedrich Wilhelm I. gegen ihn ein was dazu führte, dass der König Wolff aufforderte, Preußen zu verlassen oder seine Hinrichtung zu riskieren. Der Abschnitt hier ist ein Auszug aus Wolffs Text „Rationale Gedanken über das soziale Leben der Menschheit“ aus dem Jahr 1721 und enthält Wolffs Beschreibung der Grundlagen der menschlichen Gesellschaft.

Christian Wolff, Vernünfftige Gedancken von dem gesellschaftlichen Leben der Menschen (1721)

Quelle

Das 1. Capitel. Von den Gesellschafften der Menschen überhaupt.

§. 1. Warumb der Mensch nicht in der Einsamkeit leben darf.
Ein Mensch ist verbunden, dem andern mit seinem Vermögen, seiner Arbeit, seiner Hülfe und seinem Exempel vielfältig zu dienen. Da er nun dieser Verbindlichkeit kein Gnügen thun kan, wenn er vor sich allein in der Einsamkeit lebet, ja auch in der Einsamkeitt seinen eigenen Zustand nicht so vollkommen machen kan, als wenn er unter andern Menschen lebet, den er doch so vollkommen zu machen verbunden, als nur immer möglich ist: so darf er nicht vor sich wie die Thiere von andern Menschen abgesondert leben, vielmehr sind die Menschen verbunden, neben einander und mit einander zu leben, damit einer des andern Glükseeligkeit befödern kan, so viel an ihm ist. Thiere können vor sich von andern abgesondert leben, weil sie nicht viel brauchen und absonderlich eines von dem andern nicht viel lernen kan, wodurch es vollkommener wüde. Jhr Leib ist aus den Gliedmassen dergestalt zusammengesetzet, daß sie von den Umständen der Fälle, in welche sie gerathen, zu denen ihnen nüzlichen Bewegungen determiniret werden.

§. 2. Was die Gesellschaft ist.
Wenn Menschen mit einander eines werden mit vereinigten Kräfften ihr bestes worinnen zu befördern; so begeben sie sich mit einander in eine Gesellschaft. Und demnach ist die Gesellschaft nichts anders als ein Vertrag einiger Personen mit vereinigten Kräften ihr Bestes worinnen zu befördern.

§. 3. Worinnen die Wohlfahrt einer Gesellschaft bestehet.
Den ungehinderten Fortgang in Beförderung des gemeinen Bestens, das man durch vereinigte Kräffte zu erhalten gedencket, nennet man die Wohlfahrt der Gesellschafft. Zu dieser Bewegung hat man guten Grund. Denn die Wohlfahrt einer Gesellschafft können wir nicht anders ansehen als das höchste Gut, was eine dergleichen Gesellschaft erreichen kan. Da nun dieses in einem ungehinderten Fortgange zu grösseren Vollkommenheiten bestehet; so können wir auch die Wohlfahrt der Gesellschafft in nichts anders suchen als in einem ungehinderten Fortgange in Beförderung ihres gemeinen Besten.

§. 4. Absicht der Gesellschaft und wie sie unterschieden werden.
Da wir nun diese Wohlfahrt durch die Gesellschafft zu erhalten gedencken; so ist sie die Absicht der Gesellschafft und die Gesellschafft ein Mittel die gemeine Wohlfahrt zu befördern. Da nun eine jede Gesellschaft eine gemeine Wohlfahrt hat, und ohne dieselbe nicht bestehen kan; so hat jede Gesellschafft ihre besondere Absicht, wodurch sie von einer anderen unterschieden wird. Und solchergestalt müssen die Gesellschafften aus ihren Absichten unterschieden, und dergestalt eingerichtet werden, daß man darinnen dieselben erreichen kan.

§. 5. Welche Gesellschaften recht und unrecht sind.
Da eine jede Gesellschaft ein Vertrag ist, kein Vertrag aber recht ist, darinnen entweder von beyden Seiten, oder nur von einer solche Dinge versprochen werden, die dem Gesetze der Natur zuwieder lauffen; so kan auch keine Gesellschaft recht seyn, die etwas zu ihrer Absicht hat, was dem Gesetze der Natur zuwieder ist, oder da von einer oder beyden Seiten etwas versprochen wird, was ihm zuwiederläufft; hingegen sind alle Gesellschaften dem Gesetze der Natur gemäß, wenn beyderseits nichts versprochen wird, als was demselben gemäß ist.

§. 6. Eine Gesellschaft stellet eine Person vor, und was daraus erfolget.
Weil in einer Gesellschaft zwey oder mehrere Personen mit einander eines werden mit vereinigten Kräften ihr Bestes worinnen zu befördern; so sind sie in diesem Stücke nicht anders anzusehen als eine Person, und haben demnach ein gemeinschaftliches Jnteresse: folgends ist es der Natur einer Gesellschaft zuwieder, wenn man das Jnteresse des einen dem Jnteresse des andern, oder (welches gleichviel ist) die Wolfahrt des einen der Wohlfahrt des andern entgegen setzen will. Und erhellet hieraus ferner, daß es unrecht sey, wenn einer in der Gesellschaft seine Wohlfahrt mit Hintansetzung oder wohl gar mit Nachtheile des andern suchen will.

§. 7. Wenn man in einer Gesellschaft nicht verbleiben darf.
Gleichwie nun aber einer nicht verbunden ist einen Vertrag zu halten, der dem Gesetze der Natur zuwieder ist; so ist auch keiner gehalten in einer Gesellschaft zu verbleiben, die unrecht ist. Und gleichwie man ferner nicht verbunden ist einen Vertrag zu halten, dazu man durch Furcht oder Betrug verleitet worden; so ist man auch nicht schuldig in einer Gesellschaft zu verbleiben, darein man durch Furcht oder Betrug gezogen worden.

§. 8. Es wird noch weiter ausgeführet.
Wiederumb weil eine Gesellschaft des gemeinen Bestens halber eingegangen wird, dieses aber nicht erhalten wird, wenn einer oder einige ihren besonderen Nutzen mit des andern seinem Schaden suchen; so ist derjenige, der den Schaden hat, auch nicht gehalten in der Gesellschaft zu verbleiben, woferne er sich ohne noch grösseren Schaden zu haben absondern kan. Denn sollten die Umbstände so beschaffen seyn, daß er aus der Gesellschaft nicht kommen könnte, als wenn er noch grösseren Schaden über sich nehmen wollte; so wäre er freylich verbunden den kleineren Schaden zu ertragen und in der Gesellschaft zu verbleiben.

§. 9. Wenn man von der Gesellschaft sich nicht loß sagen darf.
Da niemand den andern in Schaden bringen darf; so können wir auch nicht uns aus einer Gesellschaft begeben, oder davon loß sagen, das ist, es stehet uns nicht frey uns zu erklären, daß wir länger darinnen nicht verharren wollen, wen dadurch der andere in Schaden gesetzet wird: woferne wir aber solches gleichwohl thun, so sind wir gehalten den Schaden zu ersetzen. Im Gegentheile erhellet, daß wir uns loß sagen können, wenn dadurch dem andern kein Schaden erwächset, und zwar umb so viel mehr, wenn wir Schaden haben würden, woferne wir darinnen verbleiben, der andere aber durch unsern Schaden nichts gewinnen würde.

§. 10. Was in einer Gesellschaft nicht zu erdulden.
Weil alle, die in einer Gesellschaft neben einander und mit einander leben, alle ihre Kräffte anwenden sollen, daß sie diejenige Absicht erreichen, umb derer Willen sie sich in die Gesellschaft begeben; so kan man nicht zugeben, daß einer oder der andere etwas vornehme, was derselben zuwieder ist. Woferne nun aber dergleichen geschehen sollte, so muß der dadurch verursachte Schade von dem schuldigen Theile ersetzet werden, auch haben die übrigen Recht, alle Mittel anzuwenden, wie sie ihn zu Beobachtung seiner Pflicht bringen.

§. 11. Haupt-Gesetze einer Gesellschaft.
Nemlich da die Wohlfahrt der Gesellschaft die einige Absicht ist, warumb man sich darein begiebet; alle besondere Absichten aber dergestalt einzurichten sind, daß sie endlich ein Mittel zur Haupt-Absicht werden; so ist dieses die Regel, darnach diejenigen ihre Handlungen einzurichten haben, die in einer Gesellschaft mit einander leben, in so weit sie nemlich in derselben leben: Thue, was die Wohlfahrt der Gesellschaft befördert; unterlaß, was ihr hinderlich, oder sonst nachtheilig ist. Da wir nun nach dieser Regel unsere Handlungen einzurichten verbunden sind; so ist sie das letzte Gesetze in einer Gesellschaft, und saget man nicht ohne Grund, die gemeine Wohlfahrt ist das höchste oder letzte Gesetze in einer Gesellschaft.

§. 12. Wenn die gemeine Wohlfahrt der besonderen vorzuziehen.
Derowegen wenn es geschehen sollte, daß die besondere Wohlfahrt eines einigen, der in der Gesellschaft lebet, mit der gemeinen Wohlfahrt nicht bestehen könnte, und dannenhero nöthig wäre, eine Ausnahme zu machen; so müste die gemeine Wohlfahrt der besonderen vorgezogen, die besondere aber der gemeinen nachgesetzet werden. Man muß aber wohl darauf acht haben, daß man die gemeine Wohlfahrt nicht weiter erstrecket, als es die Absicht der Gesellschaft erfordert.

§. 13. Wenn Fremde denen in der Gesellschaft nachzusetzen.
Wiederumb weil verschiedene, die in einer Gesellschaft mit einander leben, in Ansehung ihrer gemeinen Wohlfahrt als eine Person anzusehen sind, wir aber nicht verbunden sind anderen worinnen zu helffen, wenn wir dadurch uns selbst verabsäumen müssen; so ist auch niemand verbunden andern zu helffen, wenn dadurch die Wohlfahrt dessen, der mit uns in einer Gesellschaft lebet, sollte nachgesetzet werden. Derowegen ist derselbe andern vorzuziehen, die nicht mit uns in einer Gesellschaft leben.

§. 14. Wie weit eine Gesellschafft der andern verbunden.
Gleichergestalt weil verschiedene, die in einer Gesellschaft mit einander leben, in Ansehung ihrer gemeinen Wohlfahrt als eine Person anzusehen sind; so sind verschiedene Gesellschafften als verschiedene Personen anzusehen. Was demnach eine Person einer andern schuldig ist, das ist auch eine Gesellschaft der andern schuldig. Derowegen ist eine Gesellschaft nicht verbunden der andern dazu zuverhelffen, was sie durch ihre eigene Kräffte erlangen kan; aber wohl dazu, was sie nicht in ihrer Gewalt hat, wir aber in unserer haben.

§. 15. Unterscheid der Gesellschaften.
Diejenigen, welche in einer Gesellschafft neben einander leben, werden Mittglieder genennet. Wenn nun die Mittglieder eintzele Personen sind, so nennet man es eine einfache Gesellschaft: sind es aber einfache oder weniger zusammengesetzte Gesellschaften, eine zusammen-gesetzte Gesellschaft. Weil man die einfachen Gesellschafften als eintzele Personen ansehen kan; so kan man auch die zusammengesetzten als einfache ansehen.

Quelle: Christian von Wolff, Vernünfftige Gedancken von dem gesellschafftlichen Leben der Menschen und insonderheit dem gemeinen Wesen. Zu Beförderung der Glückseeligkeit des menschlichen Geschlechtes. Den Liebhabern der Wahrheit mitgetheilet von Christian Wolffen. Halle: Renger, 1721, S. 1–9. Online verfügbar unter: https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_gesellschaftlichesleben_1721

Christian Wolff, Vernünfftige Gedancken von dem gesellschaftlichen Leben der Menschen (1721), veröffentlicht in: German History in Documents and Images, <https://germanhistorydocs.org/de/das-heilige-roemische-reich-1648-1815/ghdi:document-5361> [04.11.2024].