Quelle
Das 1. Capitel. Von den Gesellschafften der Menschen überhaupt.
§. 1. Warumb der Mensch nicht in der Einsamkeit leben
darf.
Ein Mensch ist verbunden, dem andern mit seinem
Vermögen, seiner Arbeit, seiner Hülfe und seinem Exempel
vielfältig zu dienen. Da er nun dieser Verbindlichkeit kein Gnügen
thun kan, wenn er vor sich allein in der Einsamkeit lebet, ja auch
in der Einsamkeitt seinen eigenen Zustand nicht so vollkommen
machen kan, als wenn er unter andern Menschen lebet, den er doch
so vollkommen zu machen verbunden, als nur immer möglich ist: so
darf er nicht vor sich wie die Thiere von andern Menschen
abgesondert leben, vielmehr sind die Menschen verbunden, neben
einander und mit einander zu leben, damit einer des andern
Glükseeligkeit befödern kan, so viel an ihm ist. Thiere können vor
sich von andern abgesondert leben, weil sie nicht viel brauchen
und absonderlich eines von dem andern nicht viel lernen kan,
wodurch es vollkommener wüde. Jhr Leib ist aus den Gliedmassen
dergestalt zusammengesetzet, daß sie von den Umständen der Fälle,
in welche sie gerathen, zu denen ihnen nüzlichen Bewegungen
determiniret werden.
§. 2. Was die Gesellschaft ist.
Wenn Menschen mit einander
eines werden mit vereinigten Kräfften ihr bestes worinnen zu
befördern; so begeben sie sich mit einander in eine Gesellschaft.
Und demnach ist die Gesellschaft nichts anders als ein Vertrag
einiger Personen mit vereinigten Kräften ihr Bestes worinnen zu
befördern.
§. 3. Worinnen die Wohlfahrt einer Gesellschaft
bestehet.
Den ungehinderten Fortgang in Beförderung des
gemeinen Bestens, das man durch vereinigte Kräffte zu erhalten
gedencket, nennet man die Wohlfahrt der Gesellschafft. Zu dieser
Bewegung hat man guten Grund. Denn die Wohlfahrt einer
Gesellschafft können wir nicht anders ansehen als das höchste Gut,
was eine dergleichen Gesellschaft erreichen kan. Da nun dieses in
einem ungehinderten Fortgange zu grösseren Vollkommenheiten
bestehet; so können wir auch die Wohlfahrt der Gesellschafft in
nichts anders suchen als in einem ungehinderten Fortgange in
Beförderung ihres gemeinen Besten.
§. 4. Absicht der Gesellschaft und wie sie unterschieden
werden.
Da wir nun diese Wohlfahrt durch die Gesellschafft zu
erhalten gedencken; so ist sie die Absicht der Gesellschafft und
die Gesellschafft ein Mittel die gemeine Wohlfahrt zu befördern.
Da nun eine jede Gesellschaft eine gemeine Wohlfahrt hat, und ohne
dieselbe nicht bestehen kan; so hat jede Gesellschafft ihre
besondere Absicht, wodurch sie von einer anderen unterschieden
wird. Und solchergestalt müssen die Gesellschafften aus ihren
Absichten unterschieden, und dergestalt eingerichtet werden, daß
man darinnen dieselben erreichen kan.
§. 5. Welche Gesellschaften recht und unrecht sind.
Da
eine jede Gesellschaft ein Vertrag ist, kein Vertrag aber recht
ist, darinnen entweder von beyden Seiten, oder nur von einer
solche Dinge versprochen werden, die dem Gesetze der Natur
zuwieder lauffen; so kan auch keine Gesellschaft recht seyn, die
etwas zu ihrer Absicht hat, was dem Gesetze der Natur zuwieder
ist, oder da von einer oder beyden Seiten etwas versprochen wird,
was ihm zuwiederläufft; hingegen sind alle Gesellschaften dem
Gesetze der Natur gemäß, wenn beyderseits nichts versprochen wird,
als was demselben gemäß ist.
§. 6. Eine Gesellschaft stellet eine Person vor, und was daraus
erfolget.
Weil in einer Gesellschaft zwey oder mehrere
Personen mit einander eines werden mit vereinigten Kräften ihr
Bestes worinnen zu befördern; so sind sie in diesem Stücke nicht
anders anzusehen als eine Person, und haben demnach ein
gemeinschaftliches Jnteresse: folgends ist es der Natur einer
Gesellschaft zuwieder, wenn man das Jnteresse des einen dem
Jnteresse des andern, oder (welches gleichviel ist) die Wolfahrt
des einen der Wohlfahrt des andern entgegen setzen will. Und
erhellet hieraus ferner, daß es unrecht sey, wenn einer in der
Gesellschaft seine Wohlfahrt mit Hintansetzung oder wohl gar mit
Nachtheile des andern suchen will.
§. 7. Wenn man in einer Gesellschaft nicht verbleiben
darf.
Gleichwie nun aber einer nicht verbunden ist einen
Vertrag zu halten, der dem Gesetze der Natur zuwieder ist; so ist
auch keiner gehalten in einer Gesellschaft zu verbleiben, die
unrecht ist. Und gleichwie man ferner nicht verbunden ist einen
Vertrag zu halten, dazu man durch Furcht oder Betrug verleitet
worden; so ist man auch nicht schuldig in einer Gesellschaft zu
verbleiben, darein man durch Furcht oder Betrug gezogen
worden.
§. 8. Es wird noch weiter ausgeführet.
Wiederumb weil eine
Gesellschaft des gemeinen Bestens halber eingegangen wird, dieses
aber nicht erhalten wird, wenn einer oder einige ihren besonderen
Nutzen mit des andern seinem Schaden suchen; so ist derjenige, der
den Schaden hat, auch nicht gehalten in der Gesellschaft zu
verbleiben, woferne er sich ohne noch grösseren Schaden zu haben
absondern kan. Denn sollten die Umbstände so beschaffen seyn, daß
er aus der Gesellschaft nicht kommen könnte, als wenn er noch
grösseren Schaden über sich nehmen wollte; so wäre er freylich
verbunden den kleineren Schaden zu ertragen und in der
Gesellschaft zu verbleiben.
§. 9. Wenn man von der Gesellschaft sich nicht loß sagen
darf.
Da niemand den andern in Schaden bringen darf; so
können wir auch nicht uns aus einer Gesellschaft begeben, oder
davon loß sagen, das ist, es stehet uns nicht frey uns zu
erklären, daß wir länger darinnen nicht verharren wollen, wen
dadurch der andere in Schaden gesetzet wird: woferne wir aber
solches gleichwohl thun, so sind wir gehalten den Schaden zu
ersetzen. Im Gegentheile erhellet, daß wir uns loß sagen können,
wenn dadurch dem andern kein Schaden erwächset, und zwar umb so
viel mehr, wenn wir Schaden haben würden, woferne wir darinnen
verbleiben, der andere aber durch unsern Schaden nichts gewinnen
würde.
§. 10. Was in einer Gesellschaft nicht zu erdulden.
Weil
alle, die in einer Gesellschaft neben einander und mit einander
leben, alle ihre Kräffte anwenden sollen, daß sie diejenige
Absicht erreichen, umb derer Willen sie sich in die Gesellschaft
begeben; so kan man nicht zugeben, daß einer oder der andere etwas
vornehme, was derselben zuwieder ist. Woferne nun aber dergleichen
geschehen sollte, so muß der dadurch verursachte Schade von dem
schuldigen Theile ersetzet werden, auch haben die übrigen Recht,
alle Mittel anzuwenden, wie sie ihn zu Beobachtung seiner Pflicht
bringen.
§. 11. Haupt-Gesetze einer Gesellschaft.
Nemlich da die
Wohlfahrt der Gesellschaft die einige Absicht ist, warumb man sich
darein begiebet; alle besondere Absichten aber dergestalt
einzurichten sind, daß sie endlich ein Mittel zur Haupt-Absicht
werden; so ist dieses die Regel, darnach diejenigen ihre
Handlungen einzurichten haben, die in einer Gesellschaft mit
einander leben, in so weit sie nemlich in derselben leben: Thue,
was die Wohlfahrt der Gesellschaft befördert; unterlaß, was ihr
hinderlich, oder sonst nachtheilig ist. Da wir nun nach dieser
Regel unsere Handlungen einzurichten verbunden sind; so ist sie
das letzte Gesetze in einer Gesellschaft, und saget man nicht ohne
Grund, die gemeine Wohlfahrt ist das höchste oder letzte Gesetze
in einer Gesellschaft.
§. 12. Wenn die gemeine Wohlfahrt der besonderen
vorzuziehen.
Derowegen wenn es geschehen sollte, daß die
besondere Wohlfahrt eines einigen, der in der Gesellschaft lebet,
mit der gemeinen Wohlfahrt nicht bestehen könnte, und dannenhero
nöthig wäre, eine Ausnahme zu machen; so müste die gemeine
Wohlfahrt der besonderen vorgezogen, die besondere aber der
gemeinen nachgesetzet werden. Man muß aber wohl darauf acht haben,
daß man die gemeine Wohlfahrt nicht weiter erstrecket, als es die
Absicht der Gesellschaft erfordert.
§. 13. Wenn Fremde denen in der Gesellschaft
nachzusetzen.
Wiederumb weil verschiedene, die in einer
Gesellschaft mit einander leben, in Ansehung ihrer gemeinen
Wohlfahrt als eine Person anzusehen sind, wir aber nicht verbunden
sind anderen worinnen zu helffen, wenn wir dadurch uns selbst
verabsäumen müssen; so ist auch niemand verbunden andern zu
helffen, wenn dadurch die Wohlfahrt dessen, der mit uns in einer
Gesellschaft lebet, sollte nachgesetzet werden. Derowegen ist
derselbe andern vorzuziehen, die nicht mit uns in einer
Gesellschaft leben.
§. 14. Wie weit eine Gesellschafft der andern
verbunden.
Gleichergestalt weil verschiedene, die in einer
Gesellschaft mit einander leben, in Ansehung ihrer gemeinen
Wohlfahrt als eine Person anzusehen sind; so sind verschiedene
Gesellschafften als verschiedene Personen anzusehen. Was demnach
eine Person einer andern schuldig ist, das ist auch eine
Gesellschaft der andern schuldig. Derowegen ist eine Gesellschaft
nicht verbunden der andern dazu zuverhelffen, was sie durch ihre
eigene Kräffte erlangen kan; aber wohl dazu, was sie nicht in
ihrer Gewalt hat, wir aber in unserer haben.
§. 15. Unterscheid der Gesellschaften.
Diejenigen, welche
in einer Gesellschafft neben einander leben, werden Mittglieder
genennet. Wenn nun die Mittglieder eintzele Personen sind, so
nennet man es eine einfache Gesellschaft: sind es aber einfache
oder weniger zusammengesetzte Gesellschaften, eine
zusammen-gesetzte Gesellschaft. Weil man die einfachen
Gesellschafften als eintzele Personen ansehen kan; so kan man auch
die zusammengesetzten als einfache ansehen.
Quelle: Christian von Wolff, Vernünfftige Gedancken von dem gesellschafftlichen Leben der Menschen und insonderheit dem gemeinen Wesen. Zu Beförderung der Glückseeligkeit des menschlichen Geschlechtes. Den Liebhabern der Wahrheit mitgetheilet von Christian Wolffen. Halle: Renger, 1721, S. 1–9. Online verfügbar unter: https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_gesellschaftlichesleben_1721