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Das Andere Capitel.
Von dem Natürlichen Zustande derer Menschen.
§ I. Der Natürliche Zustand deß Menschen kan auff unterschiedene Art betrachtet werden.
§ II. Von dem grossen Elende deß natürlichen Standes.
§ III. Von desselben besondernen Rechten.
§ IV. Man kan nicht wohl sagen, daß er jemahls ohne gewisse Temperamente gewesen.
§ V. Ob es seiner Art nach in lauter Krieg und Unfriede bestanden.
§ VI. Die Gründe, wormit Hobbes solches behaupten wollen.
§ VII. Beweiß, daß die allgemeine Verwandschaft derer Menschen dieser Meynung zu wider sey.
§ IIX. Hobbes Gründe werden widerleget.
§ IX. Die Vernunfft muß man von Natürlichem Stande nicht absondern.
§ X. Ungeschlachte Sitten und Gewohnheiten machen keinen Natürlichen Zustand.
§ XI. Der Natürliche Stand ist ein Stand deß Friedens, und rühret also von den Natur-Gesetzen, nicht aber von Pactis her.
§ XII. Jedoch ist sich auff den Frieden dieses Standes nicht allezeit allzu sicher zu verlassen.
§ I.
Durch den Natürlichen Zustand verstehen wir vorjetzo nicht diejenige Beschaffenheit, welche die Natur als die Vollkommenste, und dem Menschen sonderlich anständige vornehmlich intendiret,[1] sondern wir wollen diejenige verstanden haben, darinnen sich der Mensch bloß seiner Geburth nach befindet, und alsfern alle Menschliche Erfindungen oder Veranstaltungen, wie auch dasjenige, was von Göttlicher Eingebung herrühret, darauß abgesondert wird, durch welches alles das Menschliche Leben eine gantz andere Gestalt, als die bloß natürlich war, gewinnet. Und begreiffen wir hierunter nicht allein allerhand Künste, und insgemein alles, was zur Gemächlichkeit, dieses Lebens dienet; sondern auch sonderlich die Bürgerlichen Gesellschafften, durch deren Entstehung das Menschliche Geschlecht allererst in eine gute Ordnung gebracht worden. Umb nun diesen Stand desto deutlicher zu erkennen, wollen wir denselben betrachten so wol, wie er an und für sich selbst, sonderlich seinen Ungemächlichkeiten und seinen Rechten nach beschaffen ist, oder, deutlicher zu sagen, nach dem Zustande, den es mit dem Menschen gehabt haben würde, wenn sie ohne Künste und Wissenschafften, ohne alle nach und nach erfundene Bequemlichkeiten, und ohne die Republiquen verblieben wären; Als auch in Ansehung anderer Leute, ob er nemlich im Stand deß Friedens oder deß Krieges sey; das ist, ob diejenigen, die miteinander in Natürlicher Freyheit leben, da keiner deß andern unterthan ist, und allesampt einem gemeinsamen Herrn nicht unterworffen sind, sich vor Freunde oder vor Feinde zu achten haben? Und zwar lässet sich dieser wieder auff Zweyerley Weise ansehen, nemlich alsfern er entweder schlechter Dinges ein solcher ist, der allen und jeden Menschen in gleicher Art und Weise zukömmet; Oder alsfern er auff gewisse Maaße umbschräncket ist, und nur bey einer gewissen Parthie deß Menschlichen Geschlechtes statt hat. Denn man kan sich dasselbe auff zweyerley Art zu betrachten fürstellen, entweder in sofern, als ob alle und jede Menschen in Natürlicher Freyheit lebeten[2]. Oder in sofern, als sie zum Theil Gliedmaßen gewisser Bürgerlichen Gesellschafften[3] geworden, da sie denn mit diesem nach, miteinander in einer besondernen Verbindung stehen; mit allem übrigen aber durch einig anderes, als das gemeine Liebes-Band nicht verknüpffet werden.
§ II.
Damit wir nun die Beschaffenheit deß Natürlichen Standes, so, wie er ohne Menschliche Hülffs-Mittel und Erfindungen, oder auch besondere Göttliche Gnade gewesen wäre[4] recht begreiffen können; So müssen wir Uns einen Menschen in solchem Zustande fürstellen, da er gleichsam auß der Lufft, oder sonst woher auff die Erde gefallen[5] sich blosser Dinge allein gelassen, und von aller anderer Menschen Hülfe entfernet befindet, auch einer sonderbahren Göttlichen Fürsorge sich nicht zu getrösten, und demnach an Leibes- und Gemüths-Gaben ein mehrers nicht hatte, als diejenigen, die bey gegenwärtigem Zustande solches beydes muthwillig verwildern lassen. Eines solchen Menschen Zustand kan man ja nicht anders, als für den Allerelendesten ansehen, man mag sich ihn nun als ein Kind, oder als einen Erwachsenen, und Person von völliger Statur und Stärke einbilden. Als ein Kind ist es ohnmöglich, daß er das Leben erhalten könne, es wäre denn, daß ihm ein unvernünfftiges[6] Thier, gleich als durch ein Mirackel, an sich saugen lassen, wordurch dieser armseelige Säugling, zumahl unter dem Umbgange, mit den Thieren, vieles von der Thierischen Wildheit an sich nehmen würde[7]. Will man sich ihn, als einen Erwachsenen fürstellen, so müste er nothwendig als nackend und bloß, gantz Sprachloß [wenn er auch schon einen unverständlichen Thon oder Laut von sich gebe] leer von allen Wissenschafften und erbaulichen Anschlägen, furchtsam, und, wie der Poete[8] redet,
„Vom Neuen Liecht der nie gesehnen Welt erschrecket“,
betrachtet werden; Ja als ein solcher, der den Hunger mit dem ersten, das ihm nur fürkömmet, und den Durst mit dem nächsten Wasser stillen, zur Wohnung aber wüste Höhlen und dicke Gebüsche suchen, und sich so gut als möglich für dem Ungewitter verwahren muste. Gesetzt auch, daß man sich einen ziemlichen Hauffen solcher Leute, darbey aber eine Welt ohne allen Anbau, und sie selbst bloßhin, als sich allein gelassen, stellen wolte, wie viele Zeit würde man ihnen doch bey einem solchen Zustande zustehen müssen, die sie vonnöthen hätten, umb sich auß dem elendesten, ja fast Viehischen Leben herauß zureissen, und entweder auß eigenem Nachsinnen und Erfahrung, oder auß einer Anweisung und Fürgange, so sie den unvernünfftigen Thieren abzumercken hätten, eine bequemere Lebens-Art anzustellen.
„Biß sich der lange Brauch und Nachsinn Künste gebe“.[9]
Ich zweiffle nicht, es werde mir ein jeder darinnen beyfallen, der alle dasjenige, was man im Menschlichen Leben zu brauchen hat, in genauere Erwegung ziehet, und bedencket, wie schwer es doch fallen würde, wenn ein jeder dasselbe durch eigenen Fleiß, ohne alle Anleitung und Hülffe anderer Leute erfinden solte, da man gewißlich an das allermeiste nicht einmahl gedencken, geschweige denn dasselbe zu Wercke richten würde. Und ist es dannenhero kein Wunder, daß die Heydnischen Scribenten, welche von dem wahren Ursprunge deß Menschlichen Geschlechts auß der Heiligen Schrifft nichts gewust, von dem Zustande derer Ersten Menschen so seltsame Händel auff die Bahne gebracht haben.
Zu Anfang, da der Mensch mehr
Thier, als Mensch zu nennen,
Da dieses stumme Thier, voll
aller Schändlichkeiten,
Auß seiner Mutter Schooß, der Erd‘,
herfür gekrochen,
War lauter Zanck und Streit, bald umb die
rohen Eicheln,
Bald umb die Lager-Stätt; Er brauchte erst die
Klauen,
Und Fäuste; diesem nach bewehrt‘ er sich mit
Prügeln,
Biß daß ihn der Gebrauch die Waffen lehrte
machen.
Wie er sich nun gemehrt, so wurd‘ es immer
besser,
Die Menschen huben an die Stimm und die
Gedancken,
Durch Wörter, welche sie erfunden,
auszudrücken,
Sie würden ruhiger, und liessen ab zu
kriegen,
Sie legten Städte an, die schlossen sie mit
Mauren,
Und wehrten durch Gesetz, daß keine
Diebereyen,
Kein Raub, kein Ehruch mehr begangen werden
durffte.
Also sahen die ersten Menschen in deß Horatii Gehirne auß[10].
Anmerkungen
Quelle: Samuel von Pufendorf, Acht Bücher vom Natur- und Völkerrechte, mit des weitberühmten Jcti. Johann Nicolai Hertii, Johann Barbeyrac, und anderer Hoch-Gelehrten Männer außerlesenen Anmerckungen erláutert / und in die teutsche Sprach übersetzet, Frankfurt a.M. 1771, S. 259 – 301. Online verfügbar unter: https://digital.ub.uni-duesseldorf.de/ihd/content/pageview/258621