Kurzbeschreibung

Friedrich Schlegel (1772–1829) war ein Philosoph, Kritiker und Indologe, der zusammen mit seinem Bruder August Wilhelm Schlegel zum Jenaer Kreis der Intellektuellen gehörte. Seine Frau, Dorothea Veit, älteste Tochter von Moses Mendelssohn, war eine angesehene Schriftstellerin, die 1808 mit ihm zum Katholizismus konvertierte. Dieser 1796 veröffentlichte Essay fängt die Aufregung ein, die die Französische Revolution in deutschen Intellektuellenkreisen hervorrief. Schlegels lebhafte Verteidigung des Republikanismus in diesem Aufsatz – sowie sein Aufenthalt in Paris von 1802–1804 – zeigen das explosive Potenzial, das der Republikanismus unter einigen deutschsprachigen Denkern hatte. Wichtig ist, dass der Republikanismus nicht auf die politische Sphäre beschränkt war; Schlegels Aufsatz deutet darauf hin, dass der Geist des Republikanismus auch in die ästhetische Analyse eindrang.

Friedrich Schlegel, „Versuch über den Begriff des Republikanismus“ (1796)

Quelle

Versuch über den Begriff des Republikanismus.
Veranlasst durch die Kantische Schrift zum ewigen Frieden.
Von Friederich Schlegel.

Der Geist den die Kantische Schrift zum ewigen Frieden athmet, muss jedem Freunde der Gerechtigkeit wohlthun, und noch die späteste Nachwelt wird auch in diesem Denkmahle die erhabene Gesinnung des ehrwürdigen Weisen bewundern. Der kühne und würdige Vortrag ist unbefangen und treuherzig, und wird durch treffenden Witz und geistreiche Laune angenehm gewürzt. Sie enthält eine reichliche Fülle fruchtbarer Gedanken und neuer Ansichten für die Politik, Moral und Geschichte der Menschheit. Mir war die Meinung des Verfassers über die Natur des Republikanismus und dessen Verhältniss zu andern Arten und Zuständen des Staats, vorzüglich interessant. Die Prüfung derselben veranlasste mich, diesen Gegenstand von neuem zu durchdenken. So entstanden folgende Bemerkungen.

„Die bürgerliche Verfassung“, sagt Kant „in jedem Staate soll republikanisch seyn. — Die erstlich nach Prinzipien der Freiheit der Glieder einer Gesellschaft (als Menschen); zweitens nach Grundsätzen der Abhängigkeit aller von einer einzigen gemeinsamen Gesetzgebung (als Unterthanen); drittens, die nach dem Gesetz der Gleichheit derselben (als Staatsbürger) ge­stiftete Verfassung ist die republikanische.“ Diese Erklärung scheint mir nicht befriedigend. Wenn die rechtliche Abhängigkeit schon im Begriffe der Staatsverfassung überhaupt liegt, so kann sie kein Merkmahl des spezifischen Charakters der republikanischen Verfassung seyn. Da kein Prinzip der Eintheilung der Staatsverfassung überhaupt in ihre Arten angegeben ist, so fragt sichs, ob durch die Merkmahle der Freiheit und Gleichheit der vollständige Begriff der republikanischen Verfassung erschöpft sey? Beide sind nichts Positives, sondern Negationen. Da nun jede Negation eine Position, jede Bedingung etwas Bedingtes voraussetzt, so muss ein Merkmahl (und zwar das wichtigste, welches den Grund der beiden andern enthält) in der Definition fehlen. Die despotische Verfassung weiss von jenen negativen Merkmahlen (Freiheit und Gleichheit) nichts: sie wird also auch durch ein positives Merkmahl von der republikanischen Verfassung verschieden seyn. Dass der Republikanismus und Despotismus nicht Arten des Staats, sondern der Staatsverfassung seyn, wird ohne Beweis vorausgesetzt, und was Staatsverfassung sey, nicht erklärt. — Die angedeutete Deduktion des so definirten Republikanismus ist eben so wenig befriedigend, als die Definition. Es scheint wenigstens, als würde behauptet: die republikanische Verfassung sey darum praktisch nothwendig, weil sie die einzige ist, welche aus der Idee des ursprünglichen Vertrags hervorgeht. Aber worauf gründet sich denn diese Idee, als auf das Prinzip der Freiheit und Gleichheit? Ist das nicht ein Zirkel? — Alle Negationen sind die Schranken einer Position, und die Deduktion ihrer Gültigkeit ist der Beweis, dass die höhere Position, von welcher die durch sie limitirte Position abgeleitet ist, ohne diese Bedingung sich selbst aufheben würde. Die praktische Nothwendigkeit der politischen Freiheit und Gleichheit muss also aus der höhern praktischen Position, von welcher das positive Merkmahl des Republikanismus abgeleitet ist, deduzirt werden.

Die Erklärung der rechtlichen Freiheit: Sie sei die Befugniss, alles zu thun, was man will, wenn man nur keinem Unrecht thut; erklärt der Verfasser für leere Tautologie, und erklärt sie dagegen als „die Befugniss, keinen äussern Gesetzen zu gehorchen, als zu denen das Individuum seine Beistimmung habe geben können.“ — Mir scheinen beide Erklärungen richtig, aber nur bedingt richtig zu seyn. Die bürgerliche Freiheit ist eine Idee, welche nur durch eine ins Unendliche fortschreitende Annäherung wirklich gemacht werden kann. So wie es nun in jeder Progression ein erstes, letztes und mittlere Glieder giebt; so giebt es auch in der unendlichen Progression zu jener Idee ein Minimum, ein Medium und ein Maximum. Das Minimum der bürgerlichen Freiheit enthält die Kantische Erklärung. Das Medium der bürgerlichen Freiheit ist die Befugniss, keinen äussern Gesetzen zu gehorchen als solchen, welche die (repräsentirte) Mehrheit des Volks wirklich gewollt hat, und die (gedachte) Allgemeinheit des Volks wollen könnte. Das (unerreichbare) Maximum der bürgerlichen Freiheit ist die getadelte Erklärung, welche nur dann eine Tautologie seyn würde, wenn sie von der moralischen und nicht von der politischen Freiheit redete. Die höchste politische Freiheit würde der moralischen adäquat seyn, welche von allen äussern Zwangsgesetzen ganz unabhängig, nur durch das Sittengesetz beschränkt wird. Eben so ist, was Kant für äussere rechtliche Gleichheit überhaupt erklärt, nur das Minimum in der unendlichen Progression zur unerreichbaren Idee der politischen Gleichheit. Das Medium besteht darin, dass keine andre Verschiedenheit der Rechte und Verbindlichkeiten der Bürger Statt finde, als eine solche, welche die Volksmehrheit wirklich gewollt hat, und die Allheit des Volks wollen könnte. Das Maximum würde eine absolute Gleichheit der Rechte und Verbindlichkeiten der Staatsbürger seyn, und also aller Herrschaft und Abhängigkeit ein Ende machen. — Aber sind diese Wechselbegriffe nicht wesentliche Merkmahle des Staats überhaupt? — Die Voraussetzung, dass der Wille nicht aller einzelnen Staatsbürger mit dem allgemeinen Willen stets übereinstimmen werde, ist der einzige Grund der politischen Herrschaft und Abhängigkeit. So allgemein sie aber auch gelten mag, so ist ihr Gegentheil wenigstens denkbar. Sie ist überdem nur eine empirische Bedingung, welche den reinen Begriff des Staats zwar näher bestimmen, aber eben darum selbst kein Merkmahl des reinen Begriffs seyn kann. Der empirische Begriff setzt einen reinen, der bestimmtere einen unbestimmteren voraus, aus dem er erst abgeleitet wurde. Also nicht ein jeder Staat enthält das Verhältniss eines Oberen zu einem Unteren, sondern nur der durch jenes faktische Datum empirisch bedingte. Es lässt sich allerdings ein Völkerstaat ohne dies Verhältniss denken, und ohne dass die verschiedenen Staaten in einen einzigen zusammenschmelzen müssten: eine nicht zu einer besondern Absicht bestimmte, sondern nach einem unbestimmten Ziel strebende (nicht hypothetisch, sondern thetisch zweckmässige) Gesellschaft im Verhältniss der Freiheit der Einzelnen und der Gleichheit Aller, unter einer Mehrheit oder Masse von politisch selbstständigen Völkern. Die Idee einer Weltrepublik hat praktische Gültigkeit und charak­teristische Wichtigkeit.

Das Personale der Staatsgewalt, die Zahl der Herrscher kann nur dann ein Prinzip der Eintheilung seyn, wenn nicht der allgemeine, sondern ein einzelner Wille der Grund der bürgerlichen Gesetze ist (im Despotismus). — Wie stimmt die Behauptung: „der Republikanismus sey das Staatsprinzip der Absonderung der ausführenden Gewalt von der gesetzgebenden“; mit der zuerst gegebnen Definition, und mit dem Satz, „dass der Republikanismus nur durch Repräsentation möglich sey“ zusammen? — Wäre die gesammte Staatsgewalt nicht in den Händen von Volksrepräsentanten, aber zwischen einem erblichen Regenten und einem erblichen Adel so getheilt, dass der erste die ausübende, der letzte die gesetzgebende Macht besässe; so würde der Trennung ungeachtet, die Verfassung nicht repräsentativ, also (nach des Verfassers eigner Erklärung) despotisch seyn, da ohnehin die Erb­lichkeit der Staatsämter mit dem Republikanismus unvereinbar ist. — Der Gesetzgeber, Vollzieher (und Richter) sind zwar durchaus verschiedene politische Personen, aber es ist physisch möglich, dass eine physische Person diese verschiedenen politischen Personen in sich vereinigen könne. Es ist auch politisch möglich, d. h. es ist nicht widersprechend, dass der allgemeine Volkswille beschlösse, auf eine bestimmte Zeit Einem alle Staatsgewalt zu übertragen (nicht abzutreten). Unstreitig ist die Trennung der Gewalten die Regel des republikanischen Staats; aber die Ausnahme von der Regel, die Diktatur, scheint mir wenigstens möglich. (Ihre treffliche Brauchbarkeit wird vorzüglich aus der alten Geschichte offenbar. Das menschliche Geschlecht verdankt dieser scharfsinnigen griechischen Erfindung viele der herrlichsten Produkte, welche das politische Genie je hervorgebracht hat). Die Diktatur ist aber nothwendig ein transitorischer Zustand: denn wenn alle Gewalt auf unbestimmte Zeit übertragen würde, so wäre das keine Repräsentation, sondern eine Cession der politischen Macht. Eine Cession der Souveränetät ist aber politisch unmöglich: denn der allgemeine Wille kann sich nicht durch einen Akt des allgemeinen Willens selbst ver­nichten. Der Begriff einer dictatura perpetua ist daher so widersprechend, wie der eines viereckigen Zirkels. — Die transitorische Diktatur aber ist eine politisch mögliche Repräsentation — also eine republikanische, vom Despotismus wesentlich verschiedne Form.

Überhaupt ist vom Verfasser kein Prinzip seiner Eintheilung der Arten und Bestandtheile des Staats auch nur angedeutet. — Folgender provisorische Versuch einer Deduktion des Republikanismus und einer politischen Klassifikazion a priori, scheint mir der Prüfung des Lesers nicht ganz unwürdig zu seyn.

Durch die Verknüpfung der höchsten praktischen Thesis (welche das Objekt der praktischen Grundwissenschaft ist) mit dem theoretischen Datum des Umfangs und der Arten des menschlichen Vermögens, erhält der reine praktische Imperativ so viel spezifisch verschiedene Modifikationen, als das gesammte menschliche Vermögen spezifisch verschiedne Vermögen in sich enthält; und jede dieser Modifikationen ist das Fundament und das Objekt einer be­sonderen praktischen Wissenschaft. Durch das theoretische Datum, dass dem Menschen, ausser den Vermögen, die das rein isolirte Individuum als solches besitzt, auch noch im Verhältniss zu andern Individuen seiner Gattung, das Vermögen der Mittheilung (der Thätigkeiten aller übrigen Vermögen) zukomme; dass die menschlichen Individuen durchgängig im Verhältniss des gegenseitigen natürlichen Einflusses wirklich stehen, oder doch stehen können, — erhält der reine praktische Imperativ eine neue spezifisch verschiedne Modifikation, welche das Fundament und Objekt einer neuen Wissenschaft wird. Der Satz: das Ich soll seyn; lautet in dieser besondern Bestimmung: Gemeinschaft der Menschheit soll seyn, oder das Ich soll mitgetheilt werden. Diese abgeleitete praktische Thesis ist das Fundament und Objekt der Politik, worunter ich nicht die Kunst verstehe, den Mechanismus der Natur zur Regierung der Menschen zu nutzen, sondern (wie die griechischen Philosophen) eine praktische Wissenschaft, im Kantischen Sinne dieses Worts, deren Objekt die Relazion der praktischen Individuen und Arten ist. Eine jede menschliche Gesellschaft, deren Zweck Gemeinschaft der Menschheit ist (die Zweck an sich, oder deren Zweck menschliche Gesellschaft ist) heisst Staat. Da aber das Ich nicht bloss im Verhältniss aller Individuen, sondern auch in jedem einzelnen Individuo seyn soll, und nur unter der Bedingung absoluter Unabhängigkeit des Willens seyn kann; so ist politische Freiheit eine nothwendige Bedingung des politischen Imperativs, und ein wesentliches Merkmahl zum Begriff des Staats: denn sonst würde der reine praktische Imperativ aus dem sowohl der ethische als der politische abgeleitet ist, sich selbst aufheben. Der ethische und der politische Imperativ gelten nicht bloss für dies und jenes Individuum, sondern für jedes; daher ist auch politische Gleichheit eine nothwendige Bedingung des politischen Imperativs, und ein wesentliches Merkmahl zum Begriff des Staats. Der politische Imperativ gilt für alle Individuen; daher umfasst der Staat eine ununterbrochne Masse, ein koexistentes und sukzessives Kontinuum von Menschen, die Totalität derer, die im Verhältniss des physischen Einflusses stehn, z. B. aller Bewohner eines Landes, oder Abkömmlinge eines Stammes. Dies Merkmahl ist das äussere Kriterium, wodurch der Staat sich von politischen Orden und Assoziationen, welche besondre Zwecke haben, also auch nur gewisse besonders modifizirte Individuen angehn, unterscheidet. Alle diese Gesellschaften umfassen keine Masse, kein totales Kontinuum, sonder verknüpfen nur einzelne zerstreute Mitglieder. — Die Gleichheit und Freiheit erfordert, dass der allgemeine Wille der Grund aller besondern politischen Thätigkeiten sey (nicht bloss der Gesetze, sondern auch der anwendenden Urtheile und der Vollziehung.) Dies ist aber eben der Charakter des Republikanismus. Der ihm entgegengesetzte Despotismus, wo der Privatwille den Grund der politischen Thätigkeit enthält, würde also eigentlich gar kein wahrer Staat seyn? So ist es auch in der That, im strengsten Sinne des Worts. Da aber alle politische Bildung von einem besondern Zwecke, von Gewalt und von einem Privatwillen — von Despotismus — ihren Anfang nehmen, und also jede provisorische Regierung nothwendig despotisch seyn muss; da der Despotismus den Schein des allgemeinen Willens usurpirt, und wenigstens für einige ihm interessante Civil- und Kriminalfälle die Gerechtigkeit tolerirt; da er sich von allen andern Gesellschaften durch das dem Staat eigne Merkmahl der Kontinuität der Mitglieder unterscheidet; da er neben seinem besondern Zwecke[1] das heilige Interesse der Gemeinschaft wenigstens nebenbei befördert, und wider sein Wissen und Wollen den Keim eines ächten Staats in sich trägt, und den Republikanismus allmählich zur Reife bringt: so könnte man ihn als einen Quasistaat, nicht als eine echte Art, aber doch als eine Abart des Staats gelten lassen.

Aber wie ist der Republikanismus möglich, da der allgemeine Wille seine nothwendige Bedingung ist, der absolut allgemeine (und also auch absolut beharrliche) Wille aber im Gebiete der Erfahrung nicht vorkommen kann, und nur in der Welt der reinen Gedanken existirt. Das Einzelne und das Allgemeine ist überhaupt durch eine unendliche Kluft von einander geschieden, über welche man nur durch einen Salto mortale hinüber gelangen kann. Es bleibt hier nichts übrig, als durch eine Fikzion einen empirischen Willen als Surrogat des a priori gedachten absolut allgemeinen Willens gelten zu lassen; und da die reine Auflösung des politischen Problems unmöglich ist, sich mit der Approximation dieses praktischen zu begnügen. Da nun der politische Imperativ kategorisch ist, und nur auf diese Weise (in einer endlosen Annäherung) wirklich gemacht werden kann: so ist diese höchste fictio juris nicht nur gerechtfertiget, sondern auch praktisch nothwendig; jedoch nur in dem Fall gültig, wenn sie dem politischen Imperativ (der das Fundament ihrer Ansprüche ist) und dessen wesentlichen Bedingungen nicht widerspricht. — Da jeder empirische Wille so (nach Heraklits Ausdrucke) in stetem Flusse ist, absolute Allgemeinheit in keinem angetroffen wird; so ist die despotische Arroganz, seinen (väterlichen oder göttlichen) Privatwillen zum allgemeinen Willen selbst, als demselben völlig adäquat zu sankzioniren, nicht nur ein wahres Maximum der Ungerechtigkeit, sondern auch baarer Unsinn. Aber auch die Fikzion, dass der individuelle Privatwille z. B. einer gewissen Familie für alle künftige Generazionen als Surogat des allgemeinen Willens gelten solle, ist widersprechend und ungültig: denn sie würde dem politischen Imperativ (dessen wesentliche Bedingung die Gleichheit ist), ihr eignes Fundament, und also sich selbst aufheben. Die einzig gültige politische Fikzion ist die auf das Gesetz der Gleichheit gegründete: Der Wille der Mehrheit soll als Surrogat des allgemeinen Willens gelten. Der Republikanismus ist also nothwendig demokratisch, und das unerwiesne Paradoxon dass der Demokratismus nothwendig despotisch sey, kann nicht richtig seyn. Zwar giebt es einen rechtmässigen Aristokratismus, ein echtes und von dem abgeschmackten Erbadel, dessen absolute Unrechtmässigkeit Kant so befriedigend dargethan hat, völlig verschiednes Patriziat: sie sind aber nur in einer demokratischen Republik möglich. Das Prinzip nehmlich, die Geltung der Stimmen nicht nach der Zahl, sondern auch nach dem Gewicht (nach dem Grade der Approximation jedes Individuums zur absoluten Allgemeinheit des Willens) zu bestimmen, ist mit dem Gesetz der Gleichheit recht wohl vereinbar. Es darf aber nicht vorausgesetzt, sondern es muss authentisch bewiesen werden, dass ein Individuum gar keinen freien Willen, oder sein Wille gar keine Allgemeinheit habe; wie der Mangel der Freiheit durch Kindheit und Raserei, der Mangel der Allgemeinheit durch ein Verbrechen oder einen direkten Widerspruch wider den allgemeinen Willen. (Armuth und vermuthliche Bestechbarkeit, Weiblichkeit und vermuthliche Schwäche sind wohl keine rechtmässigen Gründe, um vom Stimmrecht ganz auszuschliessen.) Wenn die politische Fikzion ein Individuum für eine politische Null, eine Person für eine Sache gelten liesse, so würde sie eben dadurch das Gegentheil der willkührlichen Voraussetzung hindern, und also mit dem ethischen Imperativ streiten; welches unmöglich ist, weil sich beide auf den reinen praktischen Imperativ gründen. Der allgemeine Volkswille kann auch nie beschliessen, dass die Individuen über den Grad der Allgemeinheit ihres eigenen Privatwillens selbst kompetente Richter seyn, und das Recht haben sollen, sich selbst eigenmächtig zu Patriziern zu konstituiren. Die Volksmehrheit muss das Patriziat gewollt, die Vorrechte desselben und die Personen bestimmt haben, welche als politische Edle (solche, deren Privatwille sich dem präsumtiven allgemeinen Willen vorzüglich nähert) gelten sollen. Sie könnte vielleicht den gewählten Edlen einigen Antheil an der Wahl der künftigen überlassen, doch mit dem Vorbehalt in der letzten Instanz darüber zu entscheiden: denn die Souverainetät kann nicht cedirt werden.

Dass aber die Volksmehrheit in Person politisch wirke, ist in vielen Fällen unmöglich, und fast in allen äusserst nachtheilig, es kann auch sehr füglich durch Deputirte und Kommissarien geschehen. Daher ist die politische Repräsentazion allerdings ein unentbehrliches Organ des Republikanismus. — Wenn man die Repräsentazion von der politischen Fikzion trennt, so kann es auch ohne Repräsentazion einen (wenn gleich technisch äusserst unvollkommnen) Republikanismus geben; wenn man unter der Repräsentazion auch die Fikzion begreift, so thut man Unrecht, sie den alten Republiken abzusprechen. Ihre technische Unvollkommenheit ist notorisch. Desto verworrener sind die allgemeinherrschenden Begriffe von ihrem innern Prinzip unvermeidlicher Korrupzion; desto schiefer die Urtheile über den politischen Werth dieser bewundernswürdigen, nicht bloss sogenannten, sondern echten, auf die gültige Fikzion der Allheit durch die Mehrheit des Willens gegründeten Republiken. An Gemeinschaft der Sitten ist die politische Kultur der Modernen noch im Stande der Kindheit gegen die der Alten, und kein Staat hat noch ein grösseres Quantum von Freiheit und Gleichheit erreicht, als der brittische. Die Unkenntniss der politischen Bildung der Griechen und Römer ist die Quelle unsäglicher Verwirrung in der Geschichte der Menschheit, und auch der politischen Philosophie der Modernen sehr nachtheilig, welche von den Alten in diesem Stücke noch viel zu lernen haben. — Auch ist der behauptete Mangel der Repräsentazion nicht uneingeschränkt wahr. Die exekutive Macht konnte auch das attische Volk nicht in Person ausüben: zu Rom ward sogar wenigstens ein Theil der gesetzgebenden und richterlichen Macht durch Volksrepräsentanten (Prätoren, Tribunen, Censoren, Consuln) gehandhabt.

Die Kraft der Volksmehrheit, als Proximum der Allheit und Surrogat des allgemeinen Willens, ist die politische Macht. Die höchste Klassifikation der politischen Erscheinungen (aller Kraftäusserungen dieser Macht) wie aller Erscheinungen, ist die nach dem Unterschiede des Beharrlichen und des Veränderlichen. Die Konstituzion ist der Inbegriff der permanenten Verhältnisse der politischen Macht, und ihrer wesentlichen Bestandtheile. Die Regierung hingegen ist der Inbegriff aller transitorischen Kraftäusserungen der politischen Macht. Die Bestandtheile der politischen Macht verhalten sich unter einander und zu ihrem Ganzen, wie die verschiedenen Bestandtheile des Erkenntnissvermögens unter einander und zu ihrem Ganzen. Die konstitutive Macht entspricht der Vernunft, die legislative dem Verstände, die richterliche der Urtheilskraft und die exekutive der Sinnlichkeit, dem Vermögen der Anschauung. Die konstitutive Macht ist nothwendig diktatorisch: denn es wäre widersprechend, das Vermögen der politischen Prinzipien, welche erst die Grundlage aller übrigen politischen Bestimmungen und Vermögen enthalten sollen, dennoch von diesen abhängig machen zu wollen; und eben deswegen nur transitorisch. Ohne den Akt der Akzeptazion würde nemlich die politische Macht nicht repräsentirt, sondern cedirt werden, welches unmöglich ist. — Die Konstituzion betrifft die Form der Fikzion und die Form der Repräsentazion. Im Republikanismus giebt es zwar nur Ein Prinzip der politischen Fikzion, aber zwey verschiedene Direkzionen des einen Prinzips, und in ihrer grössten möglichen Divergenz nicht sowohl zwei reine Arten, als zwey entgegengesetzte Extreme der republikanischen Konstituzion: die aristokratische, und die demokratische. Es giebt unendlich viele verschiedene Formen der Repräsentazion (wie Mischungen des Demokratismus und Aristokratismus) aber keine reine Arten, und kein Prinzip der Eintheilung a priori. Die Konstituzion ist der Inbegriff alles politisch Permanenten; da man nun ein Phänomen nach seinen permanenten Attributen, nicht nach seinen transitorischen Modifikazionen klassifizirt: so würde es widersinnig seyn, den echten (republikanischen) Staat nach der Form der Regierung einzutheilen. — Im Despotismus kann es eigentlich keine politische, sondern nur eine physische Konstituzion geben: nicht Verhältnisse der politischen Macht und ihrer wesentlichen Bestandtheile, welche absolut beharrlich seyn sollen, aber wohl solche, die relativ beharrlich sind. Wo es keine politische Konstituzion giebt, kann man nur die Form der Regierung dynamisch klassifiziren: denn die physischen Modifikazionen geben keine reine Klassen. Die einzige reine Klassifikazion gewährt das mathematische Prinzip der numerischen Quantität des despotischen Personale.

Die einzige (physisch) permanente Qualität des Despotismus bestimmt die dynamische (nicht politische) Form der despotischen Regierung. Sie ist entweder tyrannisch, oligarchisch oder ochlokratisch, je nachdem ein Individuum, ein Stand (Orden, Korps, Kaste), oder eine Masse herrscht. Wenn alle herrschen wer wird dann beherrscht? — Im Übrigen scheint der von Kant gegebne Begriff der Demokratie, der Ochlokratie angemessen zu seyn. Die Ochlokratie ist der Despotismus der Mehrheit über die Minorität. Ihr Kriterium ist ein offenbarer Widerspruch der Mehrheit in der Funkzion des politischen so Fingenten mit dem allgemeinen Willen, dessen Surrogat sie seyn soll. Sie ist — jedoch nebst der Tyranney: denn die Neronen können dem Sankülottismus den Preis recht wohl streitig machen — unter allen politischen Unformen das grösste physische Übel.[2] Die Oligarchie hingegen — der orientalische Kastendespotismus, das europäische Feudalsystem — ist der Humanität ungleich gefährlicher: denn eben die Schwerfälligkeit des künstlichen Mechanismus, welche ihre physische Schädlichkeit lähmt, giebt ihr eine kolossale Solidität. Die Konzentrazion der durch gleiches Interesse Zusammengebundnen isolirt die Kaste vom übrigen menschlichen Geschlecht, und erzeugt einen hartnäckigen esprit de corps. Die geistige Frikzion der Menge bringt die höllische Kunst, die Veredlung der Menschheit unmöglich zu machen, zu einer frühen Reife.

Mit argwöhnischem Blicke wittert die Oligarchie jede aufstrebende Regung der Menschheit, und zerknickt sie schon im Keime. Die Tyranney hingegen ist ein sorgloses Ungeheuer, welches im Einzelnen oft die höchste Freyheit, ja sogar vollkommene Gerechtigkeit übersieht. Die ganze lockre Maschine hängt an einem einzigen Ressort; und wenn dieser schwach ist, zerfällt sie bei dem ersten kräftigen Stoss. — Wenn die Form der Regierung despotisch, der Geist aber repräsentativ oder republikanisch ist, so entsteht die Monarchie. (In der Ochlokratie kann der Geist der Regierung nicht republikanisch seyn, sonst würde es nothwendig auch die Form des Staats seyn. In der reinen Oligarchie muss der Geist des Standes despotisch seyn, wenn die Form nicht in einen rechtmässigen demokratischen Aristokratismus übergehn soll; der repu­blikanische Geist einzelner Glieder hilft nichts, denn der Stand, als solcher, herrscht.) Der Zufall kann einem gerechten Monarchen despotische Gewalt überliefern. Er kann republikanisch regieren, und doch die despotische Staatsform beibehalten, wenn nehmlich die Stufe der politischen Kultur oder die politische Lage eines Staats eine provisorische (also despotische) Regierung durchaus nothwendig macht, und der allgemeine Wille selbst sie billigen könnte. Das Kriterium der Monarchie (wodurch sie sich vom Despotismus unterscheidet) ist die grösstmöglichste Beförderung des Republikanismus. Der Grad der Approximation des Privatwillens des Monarchen zur absoluten Allgemeinheit des Willens bestimmt den Grad ihrer Vollkommenheit. Die monarchische Form ist einigen Stufen der politischen Kultur, da das republikanische Prinzip entweder noch in der Kindheit (wie in der heroischen Vorzeit) oder wieder gänzlich erstorben ist (wie zur Zeit der römischen Cäsare) so völlig angemessen; sie gewährt in dem seltnen, aber doch vorhandnen Fall der Friedriche und Mark-Aurele so offenbare und grosse Vortheile; dass es sich begreifen lässt, warum sie der Liebling so vieler politischen Philosophen gewesen, und noch ist. — Aber nach Kants treflicher Erinnerung muss man den Geist der Regierung der schlechten und unrechtmässigen Staatsform nicht zurechnen.

Heilig ist, was nur unendlich verletzt werden kann, wie die Freiheit und Gleichheit: der allgemeine Wille. Wie Kant also den Begriff der Volksmajestät ungereimt finden kann, begreife ich nicht. Die Volksmehrheit, als das einzige gültige Surrogat des allgemeinen Willens, ist in dieser Funkzion des politischen Fingenten ebenfalls heilig, und jede andre politische Würde und Majestät ist nur ein Ausfluss der Volksheiligkeit. Der hochheilige Tribun, zum Beispiel, war es nur im Namen des Volks, nicht in seinem eignen; er stellt die heilige Idee der Freiheit nur mittelbar dar; er ist kein Surrogat, sondern nur ein Repräsentant des heiligen allgemeinen Willens. —

Der Staat soll seyn, und soll republikanisch seyn. Republikanische Staaten haben schon um deswillen einen absoluten Werth, weil sie nach dem rechten und schlechthin gebotenen Zwecke streben. In dieser Rücksicht ist ihr Werth gleich. Sehr verschieden aber kann er nach den Graden der Annäherung zum unerreichbaren Zwecke seyn. In dieser Rücksicht kann ihr Werth auf zwiefache Weise bestimmt werden.

Die technische Vollkommenheit des republikanischen Staats theilt sich in die Vollkommenheit der Konstituzion, und der Regierung. Die technische Vollkommenheit der Konstituzion wird bestimmt durch den Grad der Approximazion ihrer individuellen Form der Fikzion und der Repräsentazion zur absoluten (aber unmöglichen) Adäquatheit des Fingenten und Fingirten, des Repräsentanten und Repräsentirten. (Damit stimmt die scharfsinnige Bemerkung überein, wenn der Verfasser unter der Repräsentazion auch die Fikzion begreift. Möchte doch ein pragmatischer Politiker durch eine Theorie der Mittel, die Fikzion und Repräsentazion sowohl extensiv als intensiv zu vergrössern, eine wichtige Lücke der Wissenschaft ausfüllen! — Die Kantische Bemerkung über das Personale der Staatsgewalt dürfte wohl nur für die exekutive, und unter gewissen Umständen vielleicht auch für die konstitutive Macht gelten: für die legislative und richterliche Macht hingegen scheint die Erfahrung die Form der Kollegien und Jury’s als die beste bewährt zu haben.) Die negative technische Vollkommenheit der Regierung wird bestimmt durch den Grad der Harmonie mit der Konstituzion; die positive durch den Grad der positiven Kraft, mit der die Konstituzion wirklich ausgeführt wird.

Der politische Werth eines republikanischen Staats wird bestimmt durch das extensive und intensive Quantum der wirklich erreichten Gemeinschaft, Freiheit und Gleichheit. Zwar ist die gute moralische Bildung des Volks nicht möglich, ehe der Staat nicht republikanisch organisirt ist, und wenigstens einen gewissen Grad technischer Vollkommenheit erreicht hat: aber auf der andern Seite ist herrschende Moralität die nothwendige Bedingung der absoluten Vollkommenheit (des Maximums der Gemeinschaft, Freiheit und Gleichheit) des Staats, ja sogar jeder höhern Stufe politischer Treflichkeit.

Bisher war nur vom parziellen Republikanismus eines einzelnen Staats und Volks die Rede. Aber nur durch einen universellen Republikanismus kann der politische Imperativ vollendet werden. Dieser Begriff ist also kein Hirngespinst träumender Schwärmer, sondern praktisch nothwendig, wie der politische Imperativ selbst. Seine Bestandtheile sind:

1) Polizirung aller Nazionen;
2) Republikanismus aller Polizirten;
3) Fraternität aller Republikaner;
4) die Autonomie jedes einzelnen Staats, und die Isonomie aller.

Nur universeller und vollkommener Republikanismus würde ein gültiger, aber auch allein hinlänglicher Definitivartikel zum ewigen Frieden seyn. — So lange die Konstituzion und Regierung nicht durchaus vollkommen wäre, würde, selbst in republikanischen Staaten, deren friedliche Tendenz Kant so treffend gezeigt hat, sogar ein ungerechter und überflüssiger Krieg wenigstens möglich bleiben. Der erste Kantische Definitivartikel zum ewigen Frieden verlangt zwar Republikanismus aller Staaten: allein der Föderalismus, dessen Ausführbarkeit so bündig bewiesen wird, kann schon seinem Begriffe nach nicht alle Staaten umfassen; sonst würde er gegen Kants Meinung ein universeller Völkerstaat seyn. Die Absicht des Friedensbundes, die so Freiheit der republikanischen Staaten zu sichern, setzt eine Gefahr derselben, also Staaten vor kriegrischer Tendenz, d. h. despotische Staaten voraus. Die kosmopolitische Hospitalität, deren Ursprung und Veranlassung durch den Handelsgeist Kant so geistreich entwickelt, scheint aber sogar unpolizirte Nazionen vorauszusetzen. So lange es aber noch despotische Staaten und unpolizirte Nazionen gäbe, würde auch noch Kriegsstoff übrig bleiben.

1) Der Republikanismus der kultivirten Nazionen;
2) Der Föderalismus der republikanischen Staaten;
3) Die kosmopolitische Hospitalität der Föderirten;

würden also nur gültige Definitivartikel zum ersten ächten und permanenten, wenn gleich nur parziellen Frieden, statt der bisherigen fälschlich sogenannten Friedensschlüsse, eigentlich Waffenstillstände seyn.

Man kann sie auch als Präliminarartikel zum ewigen Frieden ansehn, den sie beabsichtigen, und an den vor dem ersten ächten Frieden gar nicht zu denken ist. — Der universelle und vollkommene Republikanismus, und der ewige Friede sind unzertrennliche Wechselbegriffe. Der letzte ist eben so politisch nothwendig, wie der erste. Aber wie steht es mit seiner historischen Nothwendigkeit oder Möglichkeit? Welches ist die Garantie des ewigen Friedens?

„Das, was diese Gewähr leistet, ist nichts Geringeres, als die grosse Künstlerin, Natur;“ sagt Kant. So geistreich die Ausführung dieses treflichen Gedankens ist, so will ich doch freimüthig gestehn, was ich daran vermisse. Es ist nicht genug, dass die Mittel der Möglichkeit, die äussern Veranlassungen des Schicksals zur wirklichen allmählichen Herbeiführung des ewigen Friedens gezeigt werden. Man erwartet eine Antwort auf die Frage: Ob die innere Entwickelung der Menschheit dahin führe? Die (gedachte) Zweckmässigkeit der Natur (so schön, ja nothwendig diese Ansicht in andrer Beziehung seyn mag) ist hier völlig gleichgültig: nur die (wirklichen) nothwendigen Gesetze der Erfahrung können für einen künftigen Erfolg Gewähr leisten. Die Gesetze der politischen Geschichte, und die Prinzipien der politischen Bildung sind die einzigen Data, aus denen sich erweisen lässt, „dass der ewige Friede keine leere Idee sey, sondern eine Aufgabe, die nach und nach aufgelöst, ihrem Ziel beständig näher kommt“; nach denen sich die künftige Wirklichkeit desselben, und sogar die Art der Annäherung, zwar nicht weissagen — thetisch und nach allen Umständen der Zeit und des Orts — aber doch vielleicht theoretisch (wenn gleich nur hypothetisch) mit Sicherheit vorherbestimmen lassen würde. — Kant macht zwar hier sonst (wie sich erwarten lässt) keinen transcendenten Gebrauch von dem teleologischen Prinzip in der Geschichte der Menschheit (welches sogar kritische Philosophen sich erlaubt haben): jedoch in einem Stücke scheint mir der praktische Begriff der unbedingten Willensfreiheit mit Unrecht in das theoretische Gebiet der Geschichte der Menschheit herübergezogen zu seyn. — Wenn die Moraltheologie die Frage aufwerfen kann und muss: Welches der intelligible Grund der Immoralität sey? — ob sie es kann und muss, lasse ich hier an seinen Ort gestellt seyn — so weiss ich auch keine andre Antwort, als die Erbsünde im Kantischen Sinne. Aber die Geschichte der Menschheit hat es nur mit den empirischen Ursachen des Phänomens der Immoralität zu thun; der intelligible Begriff der ursprünglichen Bösartigkeit ist im Gebiete der Erfahrung leer und ohne allen Sinn. — Das behauptete Faktum dass es durchaus keinen Glauben an menschliche Tugend gebe, ist unerwiesen; und wie kann die offenbare Bösartigkeit im äussern Verhältniss der Staaten — die Immoralität einer kleinen Menschenklasse, welche aus leichtbegreiflichen Ursachen im Durchschnitt aus dem Abschaum des menschlichen Geschlechts besteht, — ein Argument wider die menschliche Natur überhaupt seyn? —

Es ist ein hier unfruchtbarer Gesichtspunkt, die vollkommene Verfassung nicht als ein Phänomen der politischen Erfahrung, sondern als ein Problem der politischen Kunst zu betrachten; da wir nicht über ihre Möglichkeit, sondern über ihre künftige Wirklichkeit, und über die Gesetze der Progression der politischen Bildung zu diesem Ziele belehrt seyn wollen.

Nur aus den historischen Prinzipien der politischen Bildung, aus der Theorie der politischen Geschichte, lässt sich ein befriedigendes Resultat über das Verhältniss der politischen Vernunft und der politischen Erfahrung finden. Statt dessen hat Kant den nicht wesentlichen, sondern nur durch Ungeschicklichkeit zufällig entstandenen Gränzstreitigkeiten der Moral und der Politik nun einen eignen Anhang gewidmet. Er versteht nämlich unter Politik nicht die praktische Wissenschaft, deren Fundament und Objekt der politische Imperativ ist, auch nicht die eigentliche politische Kunst, d. h. die Fertigkeit, jenen Imperativ wirklich zu machen; sondern die despotische Geschicklichkeit, welche keine wahre Kunst, sondern eine politische Pfuscherey ist. Die beiden reinen Arten aller denkbaren politisch nothwendigen oder möglichen Formen sind der Republikanismus und der Despotismus. Ausserdem giebt es aber auch noch zwei, dem ersten Anscheine nach sehr analoge, dem Wesen nach aber durchaus verschiedene formlose politische Zustände, deren Begriff als ein Gränzbegriff bei der Zergliederung des Republikanismus nicht übergangen werden darf. Nur der eine ist politisch; der andre bloss historisch möglich.

Die Insurrekzion ist nicht politisch unmöglich oder absolut unrechtmässig (wie behauptet wird): denn sie ist mit der Publizität nicht absolut unvereinbar. Von dem (vielleicht unrechtmässigen) Herrscher gilt, was Kant sagt: „Wer die entschiedene Obermacht hat, darf seiner Maximen nicht heel haben.“ — Eine Konstituzion, welche jedem Individuum, wenn es ihm selbst rechtmässig schiene, zu insurgiren erlaubte, würde allerdings sich selbst aufheben. Eine Konstituzion hingegen, welche einen Artikel enthielte, der in gewissen vorkommenden Fällen die Insurrekzion peremtorisch geböte, würde sich zwar nicht selbst aufheben; aber dieser einzige Artikel würde null seyn: denn die Konstituzion kann nichts gebieten, wenn sie gar nicht mehr existirt; die Insurrekzion aber kann nur dann rechtmässig seyn, wenn die Konstituzion vernichtet worden ist. Es lässt sich aber sehr wohl denken, dass ein Artikel in der Konstituzion die Fälle bestimmt, in welchen die konstituirte Macht für de facto annullirt geachtet werden, und die Insurrekzion also jedem Individuum erlaubt seyn soll. Solche Fälle sind z. B. wenn der Diktator seine Macht über die bestimmte Zeit behält; wenn die konstituirte Macht die Konstituzion, das Fundament ihrer rechtlichen Existenz, und also sich selbst vernichtet u. s. w. Da der allgemeine Wille eine solche Vernichtung des Republikanismus durch Usurpation nicht wollen kann, und den Republikanismus nothwendig will, so muss er auch die einzigen Mittel, die Usurpazion zu vernichten (Insurrekzion), und den Republikanismus von Neuem zu organisiren (provisorische Regierung), zulassen können. Diejenige Insurrekzion ist also rechtmässig, deren Motiv die Vernichtung der Konstituzion, deren Regierung blos provisorisches Organ, und deren Zweck die Organisazion des Republikanismus ist. — Das zweite gültige Motiv der rechtmässigen Insurrekzion ist absoluter Despotismus d. h. ein solcher, welcher nicht provisorisch ist, und also bedingterweise erlaubt seyn kann, sondern ein solcher, welcher das republikanische Bildungsprinzip (durch dessen freye Entwickelung allein der politische Imperativ allmählich wirklich gemacht werden kann) und dessen Tendenz selbst zu vernichten und zu zerstören strebt, und also absolut unerlaubt ist, d. h. vom allgemeinen Willen nie zugelassen werden kann. Der absolute Despotismus ist nicht einmal ein Quasistaat, sondern vielmehr ein Antistaat, und (wenn auch vielleicht physisch erträglicher) doch ein ungleich grösseres politisches Übel, als selbst Anarchie. Diese ist bloss eine Negazion des politisch Positiven; jener eine Posizion des politisch Negativen. Die Anarchie ist entweder ein fliessender Despotismus, in dem sowohl das Personale der herrschenden Macht, als die Gränzen der beherrschten Masse stets wechseln; oder eine unechte und permanente Insurrekzion: denn die echte und politisch mögliche ist nothwendig transitorisch.

Anmerkungen

[1] Jeder Staat, der einen besondern Zweck hat, ist despotisch, mag dieser Zweck auch anfänglich noch so unschuldig scheinen. Wie viele Despoten sind nicht vom Zweck der physischen Erhaltung ausgegangen? Er ist aber allemahl bei glücklichem Erfolg in den der Unterdrückung ausgeartet. Den praktischen Philosophen können die schrecklichen Folgen jeder auch gutgemeinten Verwechslung des Bedingten und Unbedingten nicht befremden. Das Endliche darf die Rechte des Unendlichen nicht ungestraft usurpiren.
[2] Wenn es hier der Ort wäre, so würde es nicht schwer seyn, zu erklären, warum bey den Alten die Ochlokratie immer in Tyranney überging, und bis zur höchsten (29) Evidenz zu beweisen, dass sie bey den Modernen in Demokratismus übergehn muss, der Menschheit also weniger gefährlich ist, als die Oligarchie.

Quelle: Friedrich Schlegel, „Versuch über den Begriff der Republikanismus“ (1796) in Friedrich Schlegel, 1794–1802. Seine prosaischen Jugendschriften. Hrsg. J. Minor. Zweiter Band. Zur deutschen Literatur und Philosophie. Wien: Verlag von Carl Konegen, 1882, S. 57–71. Online verfügbar unter: https://storage.lib.uchicago.edu/pres/2006/pres2006-1421-2.pdf