Kurzbeschreibung

Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832), der Sohn einer wohlhabenden, großbürgerlichen Familie, war eine überragende Persönlichkeit im literarischen und kulturellen Leben des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Seine Genialität als Dichter und Literat wurde in ganz Europa anerkannt und gefeiert. In seinen frühen Werken, darunter Die Leiden des jungen Werther, übte er im Namen des menschlichen Gefühls und der ästhetisch aufgeladenen Natur eine leidenschaftliche Kritik am engen Rationalismus der Aufklärung. Doch als Erbe des aufklärerischen Universalismus sprach er sich auch für eine gemeinsame Humanität und gegen das elitäre Denken des aristokratischen Ancien Régime aus. Viele grundlegende Themen der späteren deutschen und europäischen Romantik sind deutlich erkennbar in diesem Text, der die Geschichte eines jungen Mannes namens Werther erzählt, der sich in Charlotte verliebt, eine geistig talentierte und gefühlvolle Frau, die mit dem rationalistischen Arzt Albert verheiratet ist.

Johann Wolfgang von Goethe, Auszüge aus Die Leiden des jungen Werther (1774)

  • Johann Wolfgang von Goethe

Quelle

Die Leiden des jungen Werther

Erstes Buch

am 4. May.

Wie froh bin ich, daß ich weg bin! Bester Freund, was ist das Herz des Menschen! Dich zu verlassen den ich so liebe, von dem ich unzertrennlich war und froh zu seyn! Ich weiß du verzeihst mir’s. Waren nicht meine übrigen Verbindungen recht ausgesucht vom Schicksal, um ein Herz wie das meinige zu ängstigen? Die arme Leonore! Und doch war ich unschuldig. Konnt’ ich dafür, daß, während die eigensinnigen Reize ihrer Schwester mir eine angenehme Unterhaltung verschafften, daß eine Leidenschaft in dem armen Herzen sich bildete? Und doch – bin ich ganz unschuldig? Hab’ ich nicht ihre Empfindungen genährt? hab’ ich mich nicht an den ganz wahren Ausdrücken der Natur, die uns so oft zu lachen machten, so wenig lächerlich sie waren, selbst ergetzt, hab’ ich nicht – O was ist der Mensch, daß er über sich klagen darf! Ich will, lieber Freund, ich verspreche dir’s, ich will mich bessern, will nicht mehr ein bißchen Übel, das uns das Schicksal vorlegt, wiederkäuen, wie ich’s immer gethan habe; ich will das Gegenwärtige genießen, und das Vergangene soll mir vergangen seyn. Gewiß du hast Recht Bester, der Schmerzen wären minder unter den Menschen, wenn sie nicht – Gott weiß warum sie so gemacht sind! – mit so viel Emsigkeit der Einbildungskraft sich beschäftigten, die Erinnerungen des vergangenen Übels zurück zu rufen, eher als eine gleichgültige Gegenwart zu ertragen.

Du bist so gut, meiner Mutter zu sagen, daß ich ihr Geschäft bestens betreiben und ihr ehstens Nachricht davon geben werde. Ich habe meine Tante gesprochen, und bey weitem das böse Weib nicht gefunden, das man bey uns aus ihr macht. Sie ist eine muntere heftige Frau von dem besten Herzen. Ich erklärte ihr meiner Mutter Beschwerden über den zurückgehaltenen Erbschaftsantheil, sie sagte mir ihre Gründe, Ursachen und die Bedingungen, unter welchen sie bereit wäre alles herauszugeben, und mehr als wir verlangten – Kurz, ich mag jetzt nichts davon schreiben; sage meiner Mutter, es werde alles gut gehen. Und ich habe, mein Lieber, wieder bey diesem kleinen Geschäft gefunden: daß Mißverständnisse und Trägheit vielleicht mehr Irrungen in der Welt machen, als List und Boßheit. Wenigstens sind die beyden letzteren gewiß seltner.

Übrigens befinde ich mich hier gar wohl, die Einsamkeit ist meinem Herzen köstlicher Balsam in dieser paradiesischen Gegend, und diese Jahrszeit der Jugend wärmt mit aller Fülle mein oft schauderndes Herz. Jeder Baum, jede Hecke ist ein Strauß von Blüthen, und man möchte zum Maykäfer werden, um in dem Meer von Wohlgerüchen herumschweben und alle seine Nahrung darin finden zu können.

Die Stadt selbst ist unangenehm, dagegen rings umher eine unaussprechliche Schönheit der Natur. Das bewog den verstorbenen Grafen von M... seinen Garten auf einem der Hügel anzulegen, die mit der schönsten Mannichfaltigkeit sich kreuzen, und die lieblichsten Thäler bilden. Der Garten ist einfach und man fühlt gleich bey dem Eintritte, daß nicht ein wissenschaftlicher Gärtner, sondern ein fühlendes Herz den Plan gezeichnet, das seiner selbst hier genießen wollte. Schon manche Thräne hab’ ich dem Abgeschiedenen in dem verfallenen Cabinetchen geweint, das sein Lieblingsplätzchen war und auch meines ist. Bald werde ich Herr vom Garten seyn; der Gärtner ist mir zugethan, nur seit den paar Tagen, und er wird sich nicht übel dabey befinden.

am 10. May.

Eine wunderbare Heiterkeit hat meine ganze Seele eingenommen, gleich den süßen Frühlingsmorgen, die ich mit ganzem Herzen genieße. Ich bin allein, und freue mich meines Lebens in dieser Gegend die für solche Seelen geschaffen ist wie die meine. Ich bin so glücklich, mein Bester, so ganz in dem Gefühle von ruhigem Daseyn versunken, daß meine Kunst darunter leidet. Ich könnte jetzt nicht zeichnen, nicht einen Strich, und bin nie ein größerer Mahler gewesen als in diesen Augenblicken. Wenn das liebe Thal um mich dampft, und die hohe Sonne an der Oberfläche der undurchdringlichen Finsterniß meines Waldes ruht, und nur einzelne Strahlen sich in das innere Heiligthum stehlen, ich dann im hohen Grase am fallenden Bache liege, und näher an der Erde tausend mannichfaltige Gräschen mir merkwürdig werden; wenn ich das Wimmeln der kleinen Welt zwischen Halmen, die unzähligen, unergründlichen Gestalten der Würmchen, der Mückchen, näher an meinem Herzen fühle, und fühle die Gegenwart des Allmächtigen der uns nach seinem Bilde schuf, das Wehen des Allliebenden, der uns in ewiger Wonne schwebend trägt und erhält; mein Freund! wenn’s dann um meine Augen dämmert, und die Welt um mich her und der Himmel ganz in meiner Seele ruhn wie die Gestalt einer Geliebten; dann sehne ich mich oft und denke: ach könntest du das wieder ausdrücken, könntest dem Papiere das einhauchen, was so voll, so warm in dir lebt, daß es würde der Spiegel deiner Seele, wie deine Seele ist der Spiegel des unendlichen Gottes! – Mein Freund – Aber ich gehe darüber zu Grunde, ich erliege unter der Gewalt der Herrlichkeit dieser Erscheinungen.

am 12. May.

Ich weiß nicht, ob täuschende Geister um diese Gegend schweben, oder ob die warme himmlische Phantasie in meinem Herzen ist, die mir alles rings umher so paradiesisch macht. Da ist gleich vor dem Orte ein Brunnen, ein Brunnen, an den ich gebannt bin wie Melusine mit ihren Schwestern. – Du gehst einen kleinen Hügel hinunter, und findest dich vor einem Gewölbe, da wohl zwanzig Stufen hinab gehen, wo unten das klareste Wasser aus Marmorfelsen quillt. Die kleine Mauer die oben umher die Einfassung macht, die hohen Bäume die den Platz ringsumher bedecken, die Kühle des Ortes; das hat alles so was anzügliches, was schauerliches. Es vergeht kein Tag, daß ich nicht eine Stunde da sitze. Da kommen dann die Mädchen aus der Stadt, und hohlen Wasser, das harmloseste Geschäft und das nöthigste, das ehemals die Töchter der Könige selbst verrichteten. Wenn ich da sitze, so lebt die patriarchalische Idee so lebhaft um mich, wie sie alle, die Altväter am Brunnen Bekanntschaft machen und freyen, und wie um die Brunnen und Quellen wohlthätige Geister schweben. O der muß nie nach einer schweren Sommertagswanderung sich an des Brunnens Kühle gelabt haben, der das nicht mitempfinden kann.

am 13. May.

Du fragst, ob du mir meine Bücher schicken sollst? – Lieber, ich bitte dich um Gotteswillen, laß mir sie vom Halse! Ich will nicht mehr geleitet, ermuntert, angefeuret seyn; braust dieses Herz doch genug aus sich selbst; ich brauche Wiegengesang und den habe ich in seiner Fülle gefunden in meinem Homer. Wie oft lull’ ich mein empörtes Blut zur Ruhe, denn so ungleich so unstät hast du nichts gesehen als dieses Herz. Lieber! brauch’ ich dir das zu sagen, der du so oft die Last getragen hast, mich vom Kummer zur Ausschweifung und von süßer Melancholie zur verderblichen Leidenschaft übergehen zu sehen? Auch halte ich mein Herzchen wie ein krankes Kind; jeder Wille wird ihm gestattet. Sage das nicht weiter, es gibt Leute die mir es verübeln würden.

am 15. May.

Die geringen Leute des Ortes kennen mich schon und lieben mich, besonders die Kinder.

Wie ich im Anfange mich zu ihnen gesellte, sie freundschaftlich fragte über dieß und das, glaubten einige, ich wollte ihrer spotten und fertigten mich wohl gar grob ab. Ich ließ mich das nicht verdrießen; nur fühlte ich, was ich schon oft bemerkt habe, auf das lebhafteste: Leute von einigem Stande werden sich immer in kalter Entfernung vom gemeinen Volke halten, als glaubten sie durch Annäherung zu verlieren; und dann gibt’s Flüchtlinge und üble Spaßvögel, die sich herab zu lassen scheinen, um ihren Übermuth dem armen Volke desto empfindlicher zu machen.

Ich weiß wohl daß wir nicht gleich sind, noch seyn können; aber ich halte dafür, daß der, der nöthig zu haben glaubt, vom so genannten Pöbel sich zu entfernen, um den Respect zu erhalten, eben so tadelhaft ist, als ein Feiger, der sich vor seinem Feinde verbirgt weil er zu unterliegen fürchtet.

Letzthin kam ich zum Brunnen, und fand ein junges Dienstmädchen, das ihr Gefäß auf die unterste Treppe gesetzt hatte, und sich umsah, ob keine Kamerädinn kommen wollte, ihr es auf den Kopf zu helfen. Ich stieg hinunter und sah’ sie an. Soll ich Ihr helfen, Jungfer? sagte ich. – Sie ward roth über und über. O mein Herr! sagte sie – Ohne Umstände. – Sie legte ihren Kringen zurecht und ich half ihr. Sie dankte und stieg hinauf.

den 17. May.

Ich habe allerley Bekanntschaft gemacht, Gesellschaft habe ich noch keine gefunden. Ich weiß nicht was ich anzügliches für die Menschen haben muß; es mögen mich ihrer so viele und hängen sich an mich und da thut mir’s weh, wenn unser Weg nur eine kleine Strecke mit einander geht. Wenn du fragst, wie die Leute hier sind? muß ich dir sagen: wie überall! Es ist ein einförmiges Ding um das Menschengeschlecht. Die meisten verarbeiten den größten Theil der Zeit um zu leben, und das Bißchen das ihnen von Freyheit übrig bleibt ängstigt sie so, daß sie alle Mittel aufsuchen um es los zu werden. O Bestimmung des Menschen!

Aber eine recht gute Art Volks! Wenn ich mich manchmal vergesse, manchmal mit ihnen die Freuden genieße, die den Menschen noch gewährt sind, an einem artig besetzten Tisch mit aller Offen- und Treuherzigkeit sich herum zu spaßen, eine Spatzierfahrt, einen Tanz zur rechten Zeit anzuordnen, und dergleichen, das thut eine ganz gute Wirkung auf mich; nur muß mir nicht einfallen, daß noch so viele andere Kräfte in mir ruhen, die alle ungenutzt vermodern und die ich sorgfältig verbergen muß. Ach das engt das ganze Herz so ein. – Und doch! mißverstanden zu werden, ist das Schicksal von unser einem.

Ach daß die Freundinn meiner Jugend dahin ist! ach daß ich sie gekannt habe! – Ich würde sagen, du bist ein Thor, du suchst, was hienieden nicht zu finden ist; aber ich habe sie gehabt, ich habe das Herz gefühlt, die große Seele, in deren Gegenwart ich mir schien, mehr zu seyn als ich war, weil ich alles war was ich seyn konnte. Guter Gott! blieb da eine einzige Kraft meiner Seele ungenutzt? Konnt ich nicht vor ihr das ganze wunderbare Gefühl entwickeln, mit dem mein Herz die Natur umfaßt? War unser Umgang nicht ein ewiges Weben von der feinsten Empfindung, dem schärfsten Witze, dessen Modificationen, bis zur Unart alle mit dem Stempel des Genies bezeichnet waren? Und nun! – Ach ihre Jahre die sie voraus hatte, führten sie früher an’s Grab als mich. Nie werde ich sie vergessen, nie ihren festen Sinn und ihre göttliche Duldung.

Vor wenig Tagen traf ich einen jungen V... an, einen offnen Jungen mit einer gar glücklichen Gesichtsbildung. Er kommt erst von Akademien, dünkt sich eben nicht weise, aber glaubt doch, er wisse mehr als andere. Auch war er fleißig, wie ich an Allerley spüre, kurz er hat hübsche Kenntnisse. Da er hörte daß ich viel zeichnete und griechisch könnte, (zwey Meteore hier zu Lande,) wandte er sich an mich und kramte viel Wissens aus, von Batteux bis zu Wood, von de Piles zu Winkelmann, und versicherte mich, er habe Sulzers Theorie, den ersten Theil ganz durchgelesen und besitze ein Manuscript von Heynen über das Studium der Antike. Ich ließ das gut seyn.

Noch gar einen braven Mann habe ich kennen lernen, den Fürstl. Amtmann, einen offenen treuherzigen Menschen. Man sagt, es soll eine Seelenfreude seyn, ihn unter seinen Kindern zu sehen, deren er neun hat; besonders macht man viel Wesens von seiner ältesten Tochter. Er hat mich zu sich gebeten, und ich will ihn ehster Tage besuchen. Er wohnt auf einem Fürstlichen Jagdhofe, anderthalb Stunden von hier, wohin er, nach dem Tode seiner Frau, zu ziehen die Erlaubniß erhielt, da ihm der Aufenthalt hier in der Stadt und im Amthause zu weh that.

Sonst sind mir einige verzerrte Originale in den Weg gelaufen, an denen alles unausstehlich ist, am unerträglichsten ihre Freundschaftsbezeigungen.

Leb’ wohl! der Brief wird dir recht seyn, er ist ganz historisch.

am 22. May.

Daß das Leben des Menschen nur ein Traum sey, ist manchen schon so vorgekommen und auch mit mir zieht dieses Gefühl immer herum. Wenn ich die Einschränkung ansehe in welcher die thätigen und forschenden Kräfte des Menschen eingesperrt sind; wenn ich sehe, wie alle Wirksamkeit dahinausläuft, sich die Befriedigung von Bedürfnissen zu verschaffen, die wieder keinen Zweck haben, als unsere arme Existenz zu verlängern, und dann, daß alle Beruhigung über gewisse Puncte des Nachforschens nur eine träumende Resignation ist, da man sich die Wände, zwischen denen man gefangen sitzt mit bunten Gestalten und lichten Aussichten bemahlt – Das alles Wilhelm macht mich stumm. Ich kehre in mich selbst zurück, und finde eine Welt! Wieder mehr in Ahndung und dunkler Begier, als in Darstellung und lebendiger Kraft. Und da schwimmt alles vor meinen Sinnen und ich lächle dann so träumend weiter in die Welt.

Daß die Kinder nicht wissen warum sie wollen, darin sind alle hochgelahrte Schul- und Hofmeister einig; daß aber auch Erwachsene, gleich Kindern, auf diesem Erdboden herumtaumeln, und wie jene nicht wissen woher sie kommen und wohin sie gehen, eben so wenig nach wahren Zwecken handeln, eben so durch Biskuit und Kuchen und Birkenreiser regieret werden: das will niemand gern glauben und mich dünkt man kann es mit Händen greifen.

Ich gestehe dir gern, denn ich weiß was du mir hierauf sagen möchtest, daß diejenigen die glücklichsten sind, die, gleich den Kindern in den Tag hinein leben, ihre Puppen herumschleppen, aus und anziehen, und mit großem Respect um die Schublade umherschleichen, wo Mama das Zuckerbrod hinein geschlossen hat, und wenn sie das gewünschte endlich erhaschen, es mit vollen Backen verzehren und rufen: Mehr! – Das sind glückliche Geschöpfe. Auch denen ist’s wohl, die ihren Lumpenbeschäftigungen oder wohl gar ihren Leidenschaften prächtige Titel geben, und sie dem Menschengeschlechte als Riesenoperationen zu dessen Heil und Wohlfahrt anschreiben; – Wohl dem, der so seyn kann! Wer aber in seiner Demuth erkennt, wo das alles hinausläuft, wer da sieht, wie artig jeder Bürger, dem es wohl ist, sein Gärtchen zum Paradiese zuzustutzen weiß, und wie unverdrossen auch der Unglückliche unter der Bürde seinen Weg fortkeicht, und alle gleich interessirt sind, das Licht dieser Sonne noch eine Minute länger zu sehen; – Ja der ist still, und bildet auch seine Welt aus sich selbst, und ist auch glücklich weil er ein Mensch ist. Und dann, so eingeschränkt er ist, hält er doch immer im Herzen das süße Gefühl der Freyheit, und daß er diesen Kerker verlassen kann wann er will.

am 26. May.

Du kennst von Altersher meine Art, mich anzubauen, mir irgend an einem vertraulichen Ort ein Hüttchen aufzuschlagen, und da mit aller Einschränkung zu herbergen. Auch hier hab ich wieder ein Plätzchen angetroffen, das mich angezogen hat.

Ohngefähr eine Stunde von der Stadt liegt ein Ort den sie Wahlheim nennen. Die Lage an einem Hügel ist sehr interessant, und wenn man oben auf dem Fußpfade zum Dorf herausgeht, übersieht man auf einmal das ganze Thal. Eine gute Wirthinn, die gefällig und munter in ihrem Alter ist, schenkt Wein, Bier, Caffee; und was über alles geht, sind zwey Linden, die mit ihren ausgebreiteten Ästen, den kleinen Platz vor der Kirche bedecken, der ringsum mit Bauerhäusern, Scheuern und Höfen eingeschlossen ist. So vertraulich, so heimlich hab’ ich nicht leicht ein Plätzchen gefunden, und dahin laß ich mein Tischchen aus dem Wirthshause bringen und meinen Stuhl, trinke meinen Caffee da, und lese meinen Homer. Das erstemal, als ich durch einen Zufall, an einem schönen Nachmittage unter die Linden kam, fand ich das Plätzchen so einsam. Es war alles im Felde, nur ein Knabe von ohngefähr vier Jahren saß an der Erde und hielt ein anderes, etwa halbjähriges, vor ihm zwischen seinen Füßen sitzendes Kind mit beyden Armen wider seine Brust, so daß er ihm zu einer Art von Sessel diente, und ohngeachtet der Munterkeit, womit er aus seinen schwarzen Augen herumschaute, ganz ruhig saß. Mich vergnügte der Anblick: ich setzte mich auf einen Pflug der gegenüber stand und zeichnete die brüderliche Stellung mit vielem Ergetzen. Ich fügte den nächsten Zaun, ein Scheunenthor und einige gebrochene Wagenräder bey, alles wie es hinter einander stand, und fand nach Verlauf einer Stunde, daß ich eine wohlgeordnete sehr interessante Zeichnung verfertiget hatte, ohne das mindeste von dem meinen hinzuzuthun; Das bestärkte mich in meinem Vorsatze, mich künftig allein an die Natur zu halten. Sie allein ist unendlich reich und sie allein bildet den großen Künstler. Man kann zum Vortheile der Regeln viel sagen, ohngefähr was man zum Lobe der bürgerlichen Gesellschaft sagen kann. Ein Mensch, der sich nach ihnen bildet, wird nie etwas abgeschmacktes und schlechtes hervorbringen, wie einer, der sich durch Gesetze und Wohlstand modeln läßt, nie ein unerträglicher Nachbar, nie ein merkwürdiger Bösewicht werden kann; dagegen wird aber auch alle Regel, man rede was man wolle, das wahre Gefühl von Natur und den wahren Ausdruck derselben zerstören! Sag’ du, das ist zu hart! sie schränkt nur ein, beschneidet die geilen Reben etc. – Guter Freund, soll ich dir ein Gleichniß geben? Es ist damit wie mit der Liebe. Ein junges Herz hängt ganz an einem Mädchen, bringt alle Stunden seines Tages bey ihr zu, verschwendet alle seine Kräfte, all sein Vermögen, um ihr jeden Augenblick auszudrücken, daß er sich ganz ihr hingibt. Und da käme ein Philister, ein Mann, der in einem öffentlichen Amte steht, und sagte zu ihm: Feiner junger Herr! lieben ist menschlich, nur müßt ihr menschlich lieben! Theilet eure Stunden ein, die einen zur Arbeit und die Erhohlungsstunden widmet eurem Mädchen. Berechnet euer Vermögen und was euch von eurer Nothdurft übrig bleibt, davon verwehr’ ich euch nicht ihr ein Geschenk, nur nicht zu oft, zu machen, etwa zu ihrem Geburts- und Nahmenstage etc.. – Folgt der Mensch, so gibt’s einen brauchbaren jungen Menschen und ich will selbst jedem Fürsten rathen, ihn in ein Collegium zu setzen; nur mit seiner Liebe ist’s am Ende, und wenn er ein Künstler ist, mit seiner Kunst. O meine Freunde! warum der Strom des Genies so selten ausbricht, so selten in hohen Fluthen hereinbraus’t und eure staunende Seele erschüttert? – Lieben Freunde, da wohnen die gelassenen Herren auf beyden Seiten des Ufers, denen ihre Gartenhäuschen, Tulpenbeete und Krautfelder zu Grunde gehen würden, die daher in Zeiten mit Dämmen und Ableiten der künftig drohenden Gefahr abzuwehren wissen.

am 27. May.

Ich bin, wie ich sehe in Zückungen, Gleichnisse und Declamation verfallen, und habe darüber vergessen, dir auszuerzählen, was mit den Kindern weiter geworden ist. Ich saß, ganz in mahlerische Empfindung vertieft, die dir mein gestriges Blatt sehr zerstückt darlegt, auf meinem Pfluge wohl zwey Stunden. Da kommt gegen Abend eine junge Frau auf die Kinder los, die sich indeß nicht gerührt hatten, mit einem Körbchen am Arm und ruft von weitem: Philipps du bist recht brav. Sie grüßte mich, ich dankte ihr, stand auf, trat näher hin, und fragte sie, ob sie Mutter von den Kindern wäre? Sie bejahte es, und indem sie dem ältesten einen halben Weck gab, nahm sie das kleine auf und küßte es mit aller mütterlichen Liebe. – Ich habe, sagte sie, meinem Philipps das Kleine zu halten gegeben, und bin mit meinem Ältesten in die Stadt gegangen um Weiß-Brod zu hohlen und Zucker, und ein irden Breypfännchen. – Ich sah das alles in dem Korbe, dessen Deckel abgefallen war. – Ich will meinem Hans (das war der Nahme des Jüngsten) ein Süppchen kochen zum Abende; der lose Vogel, der Große, hat mir gestern das Pfännchen zerbrochen, als er sich mit Philippsen um die Scharre des Brey’s zankte. – Ich fragte nach dem Ältsten, und sie hatte mir kaum gesagt, daß er sich auf der Wiese mit ein paar Gänsen herumjage, als er gesprungen kam und dem zweyten eine Haselgerte mitbrachte. Ich unterhielt mich weiter mit dem Weibe und erfuhr, daß sie des Schulmeisters Tochter sey, und daß ihr Mann eine Reise in die Schweiz gemacht habe, um die Erbschaft eines Vetters zu hohlen. – Sie haben ihn drum betrügen wollen, sagte sie, und ihm auf seine Briefe nicht geantwortet; da ist er selbst hinein gegangen. Wenn ihm nur kein Unglück widerfahren ist, ich höre nichts von ihm. – Es ward mir schwer, mich von dem Weibe loszumachen, gab jedem der Kinder einen Kreuzer, und auch für’s jüngste gab ich ihr einen, ihm einen Weck zur Suppe mitzubringen, wenn sie in die Stadt ginge, und so schieden wir von einander.

Ich sage dir, mein Schatz, wenn meine Sinnen gar nicht mehr halten wollen, so lindert all den Tumult der Anblick eines solchen Geschöpfs, das in glücklicher Gelassenheit den engen Kreis seines Daseyns hingeht, von einem Tage zum andern sich durchhilft, die Blätter abfallen sieht, und nichts dabey denkt, als daß der Winter kommt.

Seit der Zeit bin ich oft draussen. Die Kinder sind ganz an mich gewöhnt, sie kriegen Zucker wenn ich Caffee trinke und theilen das Butterbrod und die saure Milch mit mir des Abends. Sonntags fehlt ihnen der Kreuzer nie, und wenn ich nicht nach der Bethstunde da bin, so hat die Wirthinn Ordre ihn auszuzahlen.

Sie sind vertraut, erzählen mir allerhand, und besonders ergetze ich mich an ihren Leidenschaften, und simpeln Ausbrüchen des Begehrens, wenn mehr Kinder aus dem Dorfe sich versammlen.

Viel Mühe hat mich’s gekostet der Mutter ihre Besorgniß zu nehmen: Sie möchten den Herrn incommodiren.

am 30. May.

Was ich dir neulich von der Mahlerei sagte, gilt gewiß auch von der Dichtkunst; es ist nur daß man das vortreffliche erkenne und es auszusprechen wage, und das ist freylich mit wenigem viel gesagt. Ich habe heut eine Scene gehabt, die, rein abgeschrieben die schönste Idylle von der Welt gäbe; doch was soll Dichtung, Scene und Idylle? muß es denn immer geboßelt seyn, wenn wir Theil an einer Naturerscheinung nehmen sollen?

Wenn du auf diesen Eingang viel Hohes und Vornehmes erwartest, so bist du wieder übel betrogen; es ist nichts als ein Bauerbursch, der mich zu dieser lebhaften Theilnehmung hingerissen hat – ich werde, wie gewöhnlich, schlecht erzählen, und du wirst mich, wie gewöhnlich, denk ich, übertrieben finden; es ist wieder Wahlheim, und immer Wahlheim das diese Seltenheiten hervorbringt.

Es war eine Gesellschaft draussen unter den Linden Caffee zu trinken. Weil sie mir nicht ganz anstand, so blieb ich unter einem Vorwande zurück.

Ein Bauerbursch kam aus einem benachbarten Hause und beschäftigte sich an dem Pfluge, den ich neulich gezeichnet hatte, etwas zurecht zu machen. Da mir sein Wesen gefiel, redete ich ihn an, fragte nach seinen Umständen, wir waren bald bekannt, und wie mir’s gewöhnlich mit dieser Art Leuten geht, bald vertraut. Er erzählte mir, daß er bey einer Wittwe in Diensten sey und von ihr gar wohl gehalten werde. Er sprach so vieles von ihr und lobte sie dergestalt, daß ich bald merken konnte, er sey ihr mit Leib und Seele zugethan. Sie sey nicht mehr jung, sagte er, sie sey von ihrem ersten Mann übel gehalten worden, wolle nicht mehr heirathen und aus seiner Erzählung leuchtete so merklich hervor, wie schön, wie reizend sie für ihn sey, wie sehr er wünsche, daß sie ihn wählen möchte, um das Andenken der Fehler ihres ersten Mannes auszulöschen, daß ich Wort für Wort wiederhohlen müßte, um dir die reine Neigung, die Liebe und Treue dieses Menschen anschaulich zu machen. Ja, ich müßte die Gabe des größten Dichters besitzen, um dir zugleich den Ausdruck seiner Geberden, die Harmonie seiner Stimme, das heimliche Feuer seiner Blicke lebendig darstellen zu können. Nein, es sprechen keine Worte die Zartheit aus, die in seinem ganzen Wesen und Ausdruck war; es ist alles nur plump, was ich wieder vorbringen könnte. Besonders rührte mich, wie er fürchtete, ich möchte über sein Verhältniß zu ihr ungleich denken und an ihrer guten Aufführung zweifeln. Wie reizend es war, wenn er von ihrer Gestalt, von ihrem Körper sprach, der ihn ohne jugendliche Reize gewaltsam an sich zog und fesselte, kann ich mir nur in meiner innersten Seele wiederhohlen. Ich hab in meinem Leben die dringende Begierde und das heiße sehnliche Verlangen nicht in dieser Reinheit gesehen, ja wohl kann ich sagen, in dieser Reinheit nicht gedacht und geträumt. Schelte mich nicht, wenn ich dir sage, daß bey der Erinnerung dieser Unschuld und Wahrheit mir die innerste Seele glüht und daß mich das Bild dieser Treue und Zärtlichkeit überall verfolgt, und daß ich, wie selbst davon entzündet, lechze und schmachte.

Ich will nun suchen, auch sie ehstens zu sehn, oder vielmehr, wenn ichs recht bedenke, ich wills vermeiden. Es ist besser, ich sehe sie durch die Augen ihres Liebhabers; vielleicht erscheint sie mir vor meinen eignen Augen nicht so, wie sie jetzt vor mir steht, und warum soll ich mir das schöne Bild verderben?

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am 12. Aug.

Gewiß Albert ist der beste Mensch unter dem Himmel. Ich habe gestern eine wunderbare Scene mit ihm gehabt. Ich kam zu ihm um Abschied von ihm zu nehmen; denn mich wandelte die Lust an in’s Gebirge zu reiten, von woher ich dir auch jetzt schreibe und wie ich in der Stube auf und ab gehe, fallen mir seine Pistolen in die Augen. Borge mir die Pistolen, sagte ich, zu meiner Reise. Meinetwegen, sagte er, wenn du dir die Mühe nehmen willst sie zu laden; bey mir hängen sie nur pro forma. Ich nahm eine herunter, und er fuhr fort: Seit mir meine Vorsicht einen so unartigen Streich gespielt hat, mag ich mit dem Zeuge nichts mehr zu thun haben. – Ich war neugierig die Geschichte zu wissen – Ich hielt mich, erzählte er, wohl ein Vierteljahr auf dem Lande bey einem Freunde auf, hatte ein paar Terzerolen ungeladen und schlief ruhig. Einmal an einem regnichten Nachmittage, da ich müßig sitze, weiß ich nicht wie mir einfällt: wir könnten überfallen werden, wir könnten die Terzerolen nöthig haben und könnten – du weißt ja wie das ist – Ich gab sie dem Bedienten sie zu putzen und zu laden; und der dahlt mit den Mädchen, will sie erschrecken, und Gott weiß wie, das Gewehr geht los, da der Ladstock noch drin steckt und schießt den Ladstock einem Mädchen zur Maus herein an der rechten Hand, und zerschlägt ihr den Daumen. Da hatte ich das Lamentiren, und die Cur zu bezahlen oben drein, und seit der Zeit laß ich alles Gewehr ungeladen. Lieber Schatz, was ist Vorsicht? die Gefahr läßt sich nicht auslernen! Zwar – Nun weißt du, daß ich den Menschen sehr lieb habe bis auf seine Zwar; denn versteht sich’s nicht von selbst, daß jeder allgemeine Satz Ausnahmen leidet? Aber so rechtfertig ist der Mensch! wann er glaubt etwas übereiltes, allgemeines, halbwahres gesagt zu haben: so hört er dir nicht auf zu limitiren, zu modificiren und ab und zu zu thun, bis zuletzt gar nichts mehr an der Sache ist. Und bey diesem Anlaß kam er sehr tief in Text: ich hörte endlich gar nicht weiter auf ihn, verfiel in Grillen, und mit einer auffallenden Geberde, druckte ich mir die Mündung der Pistole über’s rechte Aug an die Stirn. – Pfuy! sagte Albert indem er mir die Pistole herabzog, was soll das? – Sie ist nicht geladen, sagte ich. – Und auch so, was soll’s? versetzte er ungeduldig. Ich kann mir nicht vorstellen, wie ein Mensch so thöricht seyn kann sich zu erschießen; der bloße Gedanke erregt mir Widerwillen.

Daß ihr Menschen, rief ich aus, um von einer Sache zu reden, gleich sprechen müßt, das ist thöricht, das ist klug, das ist gut, das ist bös! Und was will das alles heissen? Habt ihr deswegen die inneren Verhältnisse einer Handlung erforscht? wißt ihr mit Bestimmtheit die Ursachen zu entwickeln, warum sie geschah, warum sie geschehen mußte. Hättet ihr das, ihr würdet nicht so eilfertig mit euren Urtheilen seyn.

Du wirst mir zugeben, sagte Albert, daß gewisse Handlungen lasterhaft bleiben, sie mögen geschehen aus welchem Beweggrunde sie wollen.

Ich zuckte die Achseln und gab’s ihm zu. Doch, mein Lieber, fuhr ich fort, finden sich auch hier einige Ausnahmen. Es ist wahr, der Diebstahl ist ein Laster: aber der Mensch, der, um sich und die Seinigen vom gegenwertigen Hungertode zu erretten, auf Raub ausgeht, verdient der Mitleiden oder Strafe? Wer hebt den ersten Stein auf gegen den Ehemann, der im gerechten Zorne sein untreues Weib und ihren nichtswürdigen Verführer aufopfert? Gegen das Mädchen das in einer wonnevollen Stunde sich in den unaufhaltsamen Freuden der Liebe verliert? Unsere Gesetze selbst, diese kaltblütige Pedanten lassen sich rühren und halten ihre Strafe zurück.

Das ist ganz was anders, versetzte Albert, weil ein Mensch, den seine Leidenschaften hinreissen, alle Besinnungskraft verliert, und als ein Trunkener, als ein Wahnsinniger angesehen wird.

Ach ihr vernünftigen Leute, rief ich lächelnd aus. Leidenschaft! Trunkenheit! Wahnsinn! Ihr steht so gelassen, so ohne Theilnehmung da, ihr sittlichen Menschen! scheltet den Trinker, verabscheut den Unsinnigen, geht vorbey wie der Priester und dankt Gott wie der Pharisäer, daß er euch nicht gemacht hat wie einen von diesen. Ich bin mehr als einmal trunken gewesen, meine Leidenschaften waren nie weit vom Wahnsinn, und beydes reut mich nicht: denn ich habe in meinem Maße begreifen lernen, wie man alle außerordentliche Menschen, die etwas Großes, etwas Unmöglichscheinendes wirkten, von jeher für Trunkene und Wahnsinnige ausschreyen mußte.

Aber auch im gemeinen Leben ists unerträglich, fast einem jeden bey halbweg einer freyen, edlen, unerwarteten That nachrufen zu hören: der Mensch ist trunken, der ist närrisch! Schämt euch ihr Nüchternen! Schämt euch ihr Weisen!

Das sind nun wieder von deinen Grillen, sagte Albert, du überspannst alles, und hast wenigstens hier gewiß Unrecht, daß du den Selbstmord, wovon jetzt die Rede ist, mit großen Handlungen vergleichst: da man es doch für nichts anders als eine Schwäche halten kann. Denn freylich ist es leichter zu sterben als ein qualvolles Leben standhaft zu ertragen.

Ich war im Begriff abzubrechen; denn kein Argument bringt mich so aus der Fassung, als wenn einer mit einem unbedeutenden Gemeinspruche angezogen kommt, wenn ich aus ganzem Herzen rede. Doch faßte ich mich, weil ich’s schon oft gehört, und mich öfter darüber geärgert hatte, und versetzte ihm mit einiger Lebhaftigkeit: Du nennst das Schwächel ich bitte dich laß dich vom Anscheine nicht verführen. Ein Volk, das unter dem unerträglichen Joch eines Tyrannen seufzt, darfst du das schwach heissen, wenn es endlich aufgährt und seine Ketten zerreißt? Ein Mensch, der über dem Schrecken, daß Feuer sein Haus ergriffen hat, alle Kräfte gespannt fühlt, und mit Leichtigkeit Lasten wegträgt, die er bey ruhigem Sinne kaum bewegen kann; Einer der in der Wuth der Beleidigung es mit sechsen aufnimmt und sie überwältigt, sind die schwach zu nennen? Und mein Guter wenn Anstrengung Stärke ist, warum soll die Überspannung das Gegentheil seyn? –

Albert sah mich an und sagte: Nimm mir’s nicht übel, die Beyspiele die du da gibst, scheinen hieher gar nicht zu gehören. – Es mag seyn, sagte ich, man hat mir schon öfters vorgeworfen, daß meine Combinationsart manchmal an’s Radotage gränze. Laßt uns denn sehen, ob wir uns auf eine andere Weise vorstellen können, wie dem Menschen zu Muthe seyn mag, der sich entschließt, die sonst angenehme Bürde des Lebens abzuwerfen. Denn nur in so fern wir mitempfinden, haben wir Ehre, von einer Sache zu reden.

Die menschliche Natur, fuhr ich fort, hat ihre Gränzen: sie kann Freude, Leid, Schmerzen bis auf einen gewissen Grad ertragen, und geht zu Grunde so bald der überstiegen ist. Hier ist also nicht die Frage, ob einer schwach oder stark ist? sondern ob er das Maß seines Leidens ausdauren kann? es mag nun moralisch oder körperlich seyn: und ich finde es eben so wunderbar zu sagen, der Mensch ist feige, der sich das Leben nimmt, als es ungehörig wäre, den einen Feigen zu nennen, der an einem bösartigen Fieber stirbt.

Paradox! sehr paradox! rief Albert aus. – Nicht so sehr als du denkst, versetzte ich. Du gibst mir zu, wir nennen das eine Krankheit zum Tode, wodurch die Natur so angegriffen wird, daß theils ihre Kräfte verzehrt, theils so außer Wirkung gesetzt werden, daß sie sich nicht wieder aufzuhelfen, durch keine glückliche Revolution, den gewöhnlichen Umlauf des Lebens wieder herzustellen fähig ist.

Nun, mein Lieber, laß uns das auf den Geist anwenden. Siehe den Menschen an in seiner Eingeschränktheit, wie Eindrücke auf ihn wirken, Ideen sich bey ihm festsetzen, bis endlich eine wachsende Leidenschaft ihn aller ruhigen Sinneskraft beraubt, und ihn zu Grunde richtet.

Vergebens daß der gelassene vernünftige Mensch, den Zustand eines Unglücklichen übersieht, vergebens daß er ihm zuredet! eben so wie ein Gesunder, der am Bette des Kranken steht, ihm von seinen Kräften nicht das geringste einflößen kann.

Alberten war das zu allgemein gesprochen. Ich erinnerte ihn an ein Mädchen, das man vor weniger Zeit im Wasser todt gefunden und wiederhohlte ihm ihre Geschichte. –

Ein gutes Geschöpf das in dem engen Kreise häuslicher Beschäftigungen, wöchentlicher bestimmter Arbeit, heran gewachsen war, das weiter keine Aussicht von Vergnügen kannte, als etwa Sonntags in einem nach und nach zusammengeschafften Putz mit ihres Gleichen um die Stadt spatzieren zu gehen, vielleicht alle hohe Feste einmal zu tanzen, und übrigens mit aller Lebhaftigkeit des herzlichsten Antheils manche Stunde über den Anlaß eines Gezänkes, einer üblen Nachrede, mit einer Nachbarinn zu verplaudern – Deren feurige Natur fühlt nun endlich innigere Bedürfnisse, die durch die Schmeicheleyen der Männer vermehrt werden; ihre vorige Freuden werden ihr nach und nach unschmackhaft, bis sie endlich einen Menschen antrifft, zu dem ein unbekanntes Gefühl sie unwiderstehlich hinreißt, auf den sie nun alle ihre Hoffnungen wirft, die Welt rings um sich vergißt, nichts hört, nichts sieht, nichts fühlt als ihn, den Einzigen, sich nur sehnt nach ihm, dem Einzigen. Durch die leeren Vergnügen einer unbeständigen Eitelkeit nicht verdorben, zieht ihr Verlangen gerade nach dem Zweck, sie will die Seinige werden, sie will in ewiger Verbindung all das Glück antreffen, das ihr mangelt, die Vereinigung aller Freuden genießen, nach denen sie sich sehnte. Wiederhohltes Versprechen, das ihr die Gewißheit aller Hoffnungen versiegelt, kühne Liebkosungen die ihre Begierden vermehren, umfangen ganz ihre Seele; sie schwebt in einem dumpfen Bewußtseyn, in einem Vorgefühl aller Freuden, sie ist bis auf den höchsten Grad gespannt. Sie streckt endlich ihre Arme aus all’ ihre Wünsche zu umfassen – und ihr Geliebter verläßt sie – Erstarrt, ohne Sinne steht sie vor einem Abgrunde; alles ist Finsterniß um sie her, keine Aussicht, kein Trost, keine Ahndung! denn Der hat sie verlassen, in dem sie allein ihr Daseyn fühlte. Sie sieht nicht die weite Welt die vor ihr liegt, nicht die vielen die ihr den Verlust ersetzen könnten, sie fühlt sich allein, verlassen von der Welt – und blind, in die Enge gepreßt von der entsetzlichen Noth ihres Herzens, stürzt sie sich hinunter, um in einem rings umfangenden Tode alle ihre Qualen zu ersticken. – Sieh Albert, das ist die Geschichte so manches Menschen! und sag’, ist das nicht der Fall der Krankheit? Die Natur findet keinen Ausweg aus dem Labyrinthe der verworrenen und widersprechenden Kräfte, und der Mensch muß sterben.

Wehe dem! der zusehen und sagen könnte: die Thörinn! Hätte sie gewartet, hätte sie die Zeit wirken lassen, die Verzweifelung würde sich schon gelegt, es würde sich schon ein anderer sie zu trösten vorgefunden haben. Das ist eben, als wenn einer sagte: der Thor, stirbt am Fieber! hätte er gewartet bis seine Kräfte sich erhohlt, seine Säfte sich verbessert, der Tumult seines Blutes sich geleget hätten: alles wäre gut gegangen, und er lebte bis auf den heutigen Tag.

Albert, dem die Vergleichung noch nicht anschaulich war, wandte noch einiges ein, und unter andern: ich hätte nur von einem einfältigen Mädchen gesprochen; wie aber ein Mensch von Verstande, der nicht so eingeschränkt sey, der mehr Verhältnisse übersehe, zu entschuldigen seyn möchte, könne er nicht begreifen. – Mein Freund, rief ich aus, der Mensch ist Mensch, und das bißchen Verstand, das einer haben mag, kommt wenig oder nicht in Anschlag, wenn Leidenschaft wüthet und die Gränzen der Menschheit einen drängen. Vielmehr – Ein andermal davon, sagte ich, und griff nach meinem Hute. O mir war das Herz so voll, – und wir gingen aus einander, ohne einander verstanden zu haben. Wie denn auf dieser Welt keiner leicht den andern versteht.

am 15. Aug.

Es ist doch gewiß, daß in der Welt den Menschen nichts nothwendig macht, als die Liebe. Ich fühl’s an Lotten daß sie mich ungerne verlöhre, und die Kinder haben keinen andern Begriff, als daß ich immer morgen wieder kommen würde. Heute war ich hinaus gegangen, Lottens Clavier zu stimmen, denn die Kleinen verfolgten mich um ein Mährchen, und Lotte sagte selbst, ich sollte ihnen den Willen thun. Ich schnitt ihnen das Abendbrod, das sie nun so gern von mir als von Lotten annehmen und erzählte ihnen das Hauptstückchen von der Prinzessinn die von Händen bedient wird. Ich lerne viel dabey das versichre ich dich, und ich bin erstaunt was es auf sie für Eindrücke macht. Weil ich manchmal einen Incidentpunct erfinden muß, den ich beym zweytenmal vergesse, sagen sie gleich, das vorigemal wär’ es anders gewesen, so daß ich mich jetzt übe, sie unveränderlich in einem singenden Sylbenfall an einem Schnürchen weg zu recitiren. Ich habe daraus gelernt wie ein Autor durch eine zweyte veränderte Ausgabe seiner Geschichte, und wenn sie poetisch noch so besser geworden wäre, nothwendig seinem Buche schaden muß. Der erste Eindruck findet uns willig und der Mensch ist gemacht daß man ihn das abentheuerlichste überreden kann; das haftet aber auch gleich so fest, und wehe dem, der es wieder auskratzen und austilgen will!

am 18. Aug.

Mußte denn das so seyn, daß das, was des Menschen Glückseligkeit macht, wieder die Quelle seines Elendes würde?

Das volle warme Gefühl meines Herzens an der lebendigen Natur, das mich mit so vieler Wonne überströmte, das rings umher die Welt mir zu einem Paradiese schuf, wird mir jetzt zu einem unerträglichen Peiniger, zu einem quälenden Geist, der mich auf allen Wegen verfolgt. Wenn ich sonst vom Felsen über den Fluß bis zu jenen Hügeln das fruchtbare Thal überschaute und alles um mich her keimen und quellen sah; wenn ich jene Berge vom Fuße bis zum Gipfel mit hohen dichten Bäumen bekleidet, jene Thäler in ihren mannichfaltigen Krümmungen von den lieblichsten Wäldern beschattet sah, und der sanfte Fluß zwischen den lispelnden Röhren dahin gleitete und die lieben Wolken abspiegelte, die der sanfte Abendwind am Himmel herüber wiegte; wenn ich dann die Vögel um mich den Wald beleben hörte, und die Millionen Mückenschwärme im letzten rothen Strahle der Sonne muthig tanzten, und ihr letzter zuckender Blick den summenden Käfer aus seinem Grase befreyte; und das Schwirren und Weben um mich her mich auf den Boden aufmerksam machte, und das Moos, das meinem harten Felsen seine Nahrung abzwingt, und das Geniste das den dürren Sandhügel hinunter wächst, mir das innere glühende heilige Leben der Natur eröffnete: wie faßte ich das alles in mein warmes Herz, fühlte mich in der überfließenden Fülle wie vergöttert, und die herrlichen Gestalten der unendlichen Welt bewegten sich allbelebend in meiner Seele. Ungeheure Berge umgaben mich, Abgründe lagen vor mir, und Wetterbäche stürzten herunter, die Flüsse strömten unter mir und Wald und Gebirg erklang; und ich sah’ sie wirken und schaffen in einander in den Tiefen der Erde, alle die unergründlichen Kräfte; und nun über der Erde und unter dem Himmel wimmeln die Geschlechter der mannichfaltigen Geschöpfe. Alles, alles bevölkert mit tausendfachen Gestalten; und die Menschen dann sich in Häuslein zusammen sichern, und sich annisten und herrschen in ihrem Sinne über die weite Welt! Armer Thor! der du alles so geringe achtest, weil du so klein bist. – Vom unzugänglichen Gebirge über die Einöde die kein Fuß betrat, bis ans Ende des unbekannten Oceans weht der Geist des Ewigschaffenden, und freut sich jedes Staubes der ihn vernimmt und lebt. – Ach damals, wie oft habe ich mich mit Fittigen eines Kranichs, der über mich hinflog, zu dem Ufer des ungemessenen Meeres gesehnt, aus dem schäumenden Becher des Unendlichen jene schwellende Lebenswonne zu trinken, und nur einen Augenblick, in der eingeschränkten Kraft meines Busens, einen Tropfen der Seligkeit des Wesens zu fühlen, das alles in sich und durch sich hervorbringt.

Bruder, nur die Erinnerung jener Stunden macht mir wohl. Selbst diese Anstrengung, jene unsäglichen Gefühle zurück zu rufen, wieder auszusprechen, hebt meine Seele über sich selbst, und läßt mich dann das Bange des Zustandes doppelt empfinden, der mich jetzt umgibt.

Es hat sich vor meiner Seele wie ein Vorhang weggezogen, und der Schauplatz des unendlichen Lebens verwandelt sich vor mir in den Abgrund des ewigoffenen Grabes. Kannst du sagen: Das ist! da alles vorüber geht? da alles mit der Wetterschnelle vorüber rollt, so selten die ganze Kraft seines Daseyns ausdauert, ach! in den Strom fortgerissen, untergetaucht und an Felsen zerschmettert wird; Da ist kein Augenblick, der nicht dich verzehrte und die Deinigen um dich her, kein Augenblick, da du nicht ein Zerstörer bist, seyn mußt; der harmloseste Spatziergang kostet tausend armen Würmchen das Leben, es zerrüttet Ein Fußtritt die mühseligen Gebäude der Ameisen, und stampft eine kleine Welt in ein schmähliches Grab. Ha! nicht die große seltne Noth der Welt, diese Fluthen diese Erdbeben, die eure Städte verschlingen, rühren mich; mir untergräbt das Herz die verzehrende Kraft die in dem All der Natur verborgen liegt; die nichts gebildet hat, das nicht seinen Nachbar, nicht sich selbst zerstörte. Und so taumle ich beängstigt. Himmel und Erde und ihre webenden Kräfte um mich her: Ich sehe nichts als ein ewig verschlingendes, ewig wiederkäuendes Ungeheuer. []

Quelle: Johann Wolfgang Goethe, Die Leiden des jungen Werther, Die Wahlverwandtschaften, Kleine Prosa, Epen, in Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Hrsg. Waltraud Wiethölter, Band 8. Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag, 1994, S. 11–35, 93–109.