Quelle
Erster Abschnitt.
Staat und Religion – bürgerliche und geistliche Verfassung – weltliches und kirchliches Ansehen – diese Stützen des gesellschaftlichen Lebens so gegen einander zu stellen, daß sie sich die Wage halten, daß sie nicht vielmehr Lasten des gesllschaftlichen Lebens werden, und den Grund desselben stärker drücken, als was sie tragen helfen – dieses ist in der Politik eine der schwersten Aufgaben, die man seit Jahrhunderten schon aufzulösen bemühet ist, und hie und da vielleicht glücklicher praktisch beygelegt, als theoretisch aufgelöset hat. Man hat für gut befunden, diese verschiedene Verhältnisse des geselligen Menschen in moralische Wesen abzusondern, und jedem derselben ein eignes Gebiet, besondere Rechte, Pflichten Gewalt und Eigenthum zuzuschreiben. Aber der Bezirk dieser verschiedenen Gebiete, und die Gränzen, die sie trennen, sind noch bis itzt nicht genau bestimmt. Man siehet bald die Kirche das Markmal weit in das Gebiet des Staats hinübertragen, bald den Staat sich Eingriffe erlauben, die den angenommenen Begriffen zufolge, eben so gewaltsam scheinen. Und unermeßlich sind die Uebel, die aus der Mißhelligkeit dieser moralischen Wesen bisher entstanden sind, und noch zu entstehen drohen. Liegen sie gegen einander zu Felde, so ist das menschliche Geschlecht das Opfer ihrer Zwietracht; und vertragen sie sich, so ist es gethan, um das edelste Kleinod der menschlichen Glückseligkeit; denn sie vertragen sich selten anders, als um ein drittes moralisches Wesen, die Freiheit des Gewissens, die von ihrer Uneinigkeit einigen Vortheil zu ziehen weis, aus ihrem Reiche zu verbannen.
Der Despotismus hat den Vorzug, daß er bündig ist. So lästig seine Forderungen auch dem gesunden Menschenverstande sind, so sind sie doch unter sich zusammenhängend und systematisch. Er hat auf jede Frage seine bestimmte Antwort. Ihr dürft euch weiter um die Gränzen nicht bekümmern; denn wer alles hat, fragt nicht weiter, wie viel? – So auch nach römisch-katholischen Grundsätzen die kirchliche Verfassung. Sie ist auf jeden Umstand ausführlich, und gleichsam aus einem Stücke. Räumet ihr alle ihre Forderungen ein; so wisset ihr wenigstens, woran ihr euch zu halten habet. Euer Gebäude ist aufgeführt, und in allen Theilen desselben herrscht vollkommene Ruhe. Freylich nur jene fürchterliche Ruhe, wie Montesquieu sagt, die Abends in einer Festung ist, welche des Nachts mit Sturm übergehen soll. Wer aber Ruhe in Lehr und Leben für Glückseligkeit hält, findet sie dennoch nirgend gesicherter, als unter einem römischkatholischen Despoten; oder weil auch hier die Macht noch zu sehr vertheilt ist, unter der despotischen Herrschaft der Kirche selbst.
So bald aber die Freyheit an diesem systematischen Gebäude etwas zu verrücken wagt, so drohet Zerrüttung von allen Seiten, und man weis am Ende nicht mehr, was davon stehen bleiben kann. Daher die ausserordentliche Verwirrung, die bürgerlichen sowohl als kirchlichen Unruhen in den ersten Zeiten der Reformation, und die auffallende Verlegenheit der Lehrer und Verbesserer selbst, so oft sie in dem Fall waren, in Absicht auf Gerechtsame, das wie weit? fest zu setzen. Nicht nur praktisch war es schwer, den großen, seiner Fessel entbundenen Haufen innerhalb geziemender Schranken zu halten; sondern auch in der Theorie selbst findet man die Schriften jener Zeiten voller unbestimmten und schwankenden Begriffe, so oft von Festsetzung der kirchlichen Gewalt die Rede ist. Der Despotismus der römischen Kirche war aufgehoben, aber – welche andre Form soll an ihrer Stelle eingführt werden? – Noch itzt in unsern aufgeklärten Zeiten haben die Lehrbücher des Kirchenrechts von dieser Unbestimmtheit nicht befreyet werden können. Allen Anspruch auf Verfassung will oder kann die Geistlichkeit nicht aufgeben, und gleichwohl weis niemand recht, worin solche bestehe? Man will Streitigkeiten in der Lehre entscheiden, ohne einen obersten Richter zu erkennen. Man beruft sich noch immer auf eine unabhängige Kirche, ohne zu wissen, wo sie anzutreffen sey. Man macht Anspruch auf Macht und Recht, und kann doch nicht angeben, wer sie handhaben soll?
Thomas Hobbes lebte zu einer Zeit, da der Fanatismus, mit einem unordentlichen Gefühle von Freyheit verbunden, keine Schranken mehr kannte, und im Begriffe war, wie ihm auch am Ende gelang, die königliche Gewalt unter den Fuß zu bringen, und die ganze Landesverfassung um zu stürzen. Der bürgerlichen Unruhen überdrüßig, und von Natur zum stillen, spekulativen Leben geneigt, setzte er die höchste Glückseligkeit in Ruhe und Sicherheit, sie mochte kommen, woher sie wollte; und diese fand er nirgend, als in der Einheit und Unzertrennlichkeit der höchsten Gewalt im Staate. Der öffentlichen Wohlfarth, glaubte er also, sey am besten gerathen, wenn alles, sogar unser Urtheil über Recht und Unrecht, der höchsten Gewalt der bürgerlichen Obrigkeit unterworfen würde. Um dieses desto füglicher thun zu können, setzte er zum voraus, der Mensch habe von Natur die Befugniß zu allem, wozu er von ihr das Vermögen erhalten hat. Stand der Natur sey Stand des allgemeinen Aufruhrs, des Krieges aller wider alle, in welchem jeder mag, was er kann; alles Recht ist, wozu man Macht hat. Dieser unglückselige Zustand habe so lange gedauert, bis die Menschen übereingekommen, ihrem Elende ein Ende zu machen, auf Recht und Macht, in so weit es die öffentliche Sicherheit betrift, Verzicht zu thun, solche einer festgesetzten Obrigkeit in die Hände zu liefern, und nunmehr sey dasjenige Recht, was dies Obrigkeit befielt.
Für bürgerliche Freyheit hatte er entweder keinen Sinn, oder wollte er sie lieber vernichtet, als so gemißbraucht sehen. Um sich aber die Freyheit zu denken aus zu sparen, davon er selbst mehr als irgend jemand Gebrauch machte, nam er seine Zuflucht zu einer feinen Wendung. Alles Recht gründet sich, nach seinem System, auf Macht, und alle Verbindlichkeit auf Furcht; da nun Gott der Obrigkeit an Macht unendlich überlegen ist; so sey auch das Recht Gottes unendlich über das Recht der Obrigkeit erhaben, und die Furcht vor Gott verbinde uns zu Pflichten, die keiner Furcht vor der Obrigkeit weichen dürfen. Jedoch sey dieses nur von der innern Religion zu verstehen, um die allein es dem Weltweisen zu thun war. Den äussern Gottesdienst unterwarf er völlig dem Befehle der bürgerlichen Obrigkeit, und jede Neuerung in kirchlichen Sachen, ohne derselben Autorität, sey nicht nur Hochverrath, sondern auch Lästerung. Die Collision, die zwischen dem innern und äusern Gottesdienste entstehen müssen, sucht er durch die feinsten Unterscheidungen zu heben, und obgleich noch so manche Lücken zurückbleiben, die die Schwäche der Vereinigung sichtbar machen; so ist doch der Scharfsinn zu bewundern, mit welchem er sein System hat bündig zu machen gesucht.
Im Grunde liegt in allen Behauptungen des Hobbes viel Wahrheit, und die ungereimten Folgen, zu welchen sie führen, fließen blos aus der Uebertreibung, mit welcher er sie, aus Liebe zur Paradoxie, oder den Bedürfnissen seiner Zeiten gemäß, vorgetragen hat. Zum Theil waren auch die Begriffe des Naturrechts zu seiner Zeit noch nicht aufgeklärt genug, und Hobbes hat das Verdienst um die Moralphilosophie, das Spinoza um die Metaphysik hat. Sein scharfsinniger Irrthum hat Untersuchun veranlasset. Man hat die Ideen von Recht und Pflicht, Macht und Verbindlichkeit besser entwickelt; man hat physisches Vermögen von sittlichem Vermögen, Gewalt von Befugniß richtiger unterscheiden gelernt, und diese Unterscheidungen so innigst mit der Sprache verbunden, daß nunmehr die Widerlegung des hobbesischen Systems schon in dem gesunden Menschenverstande, und so zu sagen, in der Sprache zu liegen scheinet. Dieses ist die Eigenschaft aller sittlichen Wahrheiten. Sobald sie ins Licht gestzt sind, vereinigen sie sich so sehr mit der Sprache des Umgangs und verbinden sich mit den alltäglichen Begriffen der Menschen, daß sie dem gemeinen Menschenverstande einleuchten, und nunmehr wundern wir uns, wie man vormals auf einem so ebnen Wege habe straucheln können. Wir bedenken aber den Aufwand nicht, den es gekostet, diesen Steig durch die Wildniß so zu ebnen.
Hobbes selbst mußte die unstatthaften Folgen auf mehr als eine Weise empfinden, zu welchen seine übertriebenen Sätze unmittelbar führen. Sind die Menschen von Natur an keine Pflicht gebunden, so liegt ihnen auch nicht einmal die Pflicht ob, ihre Verträge zu halten. Findet im Stande der natur keine andre Verbindlichkeit Statt, als die sich auf Furcht und Ohnmacht gründet; so dauert die Gültigkeit der Verträge auch nur so lange, als sie von Furcht und Ohnmacht unterstützt wird; so haben die Menschen durch Verträge keinen Schritt näher zu ihrer Sicherheit gethan, und befinden sich noch immer in ihrem primitiven Zustande des allgemeinen Krieges. Sollten aber Verträge gültig seyn; so muß der Mensch von Natur, ohne Vertrag und Verabredung, an und für sich selbst nicht befugt seyn, wider ein Paktum zu handeln, das er gutwillig eingegangen; das heißt, es muß ihm nicht erlaubt seyn, wenn er auch kann: er muß das sittliche Vermögen nicht haben, wenn er auch das physische dazu hätte. Macht und Recht sind also verschiedene Dinge, und waren auch im Stande der Natur heterogene Begriffe. – Ferner, der höchsten Gewalt im Staate schreibt Hobbes strenge Gesetze vor, nichts zu befehlen, das der Wohlfarth ihrer Untertanen zuwider sey. Wenn sie auch keinem Menschen Rechenschaft zu geben schuldig seyen; so haben sie diese doch vor dem allerhöchsten Richter abzulegen; wenn sie auch nach seinen Grundsätzen keine Furcht vor irgend einer menschlichen Macht binde; so binde sie doch die Furcht vor der Allmacht, die ihren Willen hierüber hinlänglich zu erkennen gegeben. Hobbes ist hierüber sehr ausführlich, und hat im Grunde weit weniger Nachsicht für die Götter der Erde, als man seinem System zutrauen sollte. Allein eben diese Furcht vor der Allmacht, welche die Könige und Fürsten an gewisse Pflichten gegen ihre Unterthanen binden soll, kann doch auch im Stande der Natur für jeden einzelnen Menschen eine Quelle der Obliegenheiten werden, und so hätten wir abermals ein solennes Recht der Natur, das Hobbes doch nicht zugeben will. – Auf solche Weise kan sich in unsern Tagen jeder Schüler des Naturrechts einen Triumph über Thomas Hobbes erwerben, den er im Grunde doch ihm zu verdanken hat.
Locke, der in denselben verwirrungsvollen Zeitläuften lebte, suchte die Gewissensfreyheit auf eine andre Weise zu schirmen. In seinen Briefen über die Toleranz legt er die Definition zum Grunde: Ein Staat sey eine Gesellschaft von Menschen, die sich vereinigen, um ihre zeitliche Wohlfarth gemeinschaftlich zu befördern. Hieraus folgt alsdann ganz natürlich, daß der Staat sich um die Gesinnungen der Bürger, ihre ewige Glückseligkeit betreffend, gar nicht zu bekümmern, sondern jeden zu dulden habe, der sich bürgerlich gut aufführt, das heißt seinen Mitbürgern, in Absicht ihrer zeitlichen Glückseligkeit, nicht hinderlich ist. Der Staat, als Staat, hat auf keine Verschiedenheit der Religionen zu sehen; denn Religion hat an und für sich auf das Zeitliche keinen nothwendigen Einfluß, und stehet blos durch die Willkühr der Menschen mit demselben in Verbindung.
Sehr wohl! Ließe sich der Zwist durch eine Worterklärung entscheiden; so wüßte ich keine bequemere, und wenn sich die unruhigen Köpfe seiner Zeit hiemit hätten die Intoleranz ausreden lassen; so würde der gute Locke nicht nöthig gehabt haben, so oft ins Elend zu wandern. Allein was hindert uns, fragen jene, daß wir nicht auch unsere ewige Wohlfarth gemeinschaftlich zu befördern suchen sollten? Und in der That, was für Grund haben wir, die Absicht der Gesellschaft blos auf das Zeitliche einzuschränken? Wenn die Menschen ihre ewige Seligkeit durch öffentliche Vorkehrungen befördern können; so ist es ja ihre natürliche Pflicht es zu thun; ihre vernunftmäßige Schuldigkeit, daß sie sich auch in dieser Absicht zusammenthun, und in gesellschaftliche Verbindung treten. Ist aber dieses, und der Staat, als Staat, will sich blos mit dem Zeitlichen abgeben; so entstehet die Frage: wem sollen wir die Sorge für das Ewige antrauen? – Der Kirche? Nun sind wir auf einmal wieder da, wo wir ausgegangen waren. Staat und Kirche. – Sorge für das Zeitliche und Sorge für das Ewige – bürgerliche und kirchliche Autorität. Jene verhält sich zu dieser, wie die Wichtigkeit des Zeitlichen zur Wichtigkeit des Ewigen. Der Staat ist also der Religion untergeordnet; muß weichen, wenn eine Collision entstehet, Nun widerstehe, wer da kann, dem Cardinal Bellarmin, mit dem fürchterlichen Gefolge seiner Argumente, daß das Oberhaupt der Kirche zum Behuf des Ewigen, über alles Zeitliche zu befehlen, und also wenigstens indirecte[1] ein Hoheitsrecht habe, über alle Güter und Gemüther der Welt; daß alle weltliche Reiche indirecte unter der Botmäßigkeit des geistlichen Einzelherren stünden, und von ihm Befehle annehmen müßten, wenn sie ihre Regierungsform verändern, ihre Könige absetzen, und andere an ihrer Stelle einsetzen müßten; weil sehr oft das ewige Heil des Staats auf keine andere Weise erhalten werden könne – und wie die Maximen seines Ordens alle heißen, die Bellarmin in seinem Werke de Romano Pontifice mit so vielem Scharfsinne festsetzet. Alles, was man den Trugschlüssen des Cardinals in sehr weitläuftigen Werken entgegen gesetzt hat, scheint nicht zum Ziel zu treffen, sobald der Staat die Sorge für die Ewigkeit ganz aus den Händen giebt.
Von einer andern Seit ist es im genausten Verstande weder der Wahrheit gemäß, noch dem Besten der Menschen zuträglich, daß man das Zeitliche von dem Ewigen so scharf abschneide. Dem Menschen wird im Grunde nie eine Ewigkeit zu Theile werden: Sein Ewiges ist blos ein unaufhörliches Zeitliche. Sein Zeitliches nimmt nie ein Ende, ist also ein wesentlicher Theil seiner Fortdauer, und mit derselben aus einem Stücke. Man verwirret die Begriffe, wenn man seine zeitliche Wohlfarth der ewigen Glückseligkeit entgegen setzet. Und diese Verwirrung der Begriffe bleibt nicht ohne praktische Folgen. Sie verrückt den Wirkungskreis der menschlichen Fähigkeiten, und spannet seine Kräfte über das Ziel hinaus, das ihm von der Vorsehung mit so vieler Weisheit gestzt worden. „Auf dem dunkeln Pfade, man erlaube, daß ich meine eigenen Worte hier anführe, auf dem dunkeln Pfade, den der Mensch hier zu wandeln hat, ist ihm gerade so viel Licht beschieden, als zu den nächsten Schritten, die er zu thun hat, nöthig ist. Ein mehreres würde ihn nur blenden, und jedes Seitenlicht nur verwirren.“ Es ist nöthig, daß der Mensch unaufhörlich erinnert werde, mit diesem Leben sey nicht alles aus für ihn; es stehe ihm eine endlose Zukunft bevor, zu welcher sein Leben hienieden eine Vorbereitung sey, so wie in der ganzen Schöpfung jedes Gegenwärtige eine Vorbereitung aufs Künftige ist. Dieses Leben, sagen die Rabbinen, ist ein Vorgemach, in welchem man sich so anschicken muß, wie man im innern Zimmer erscheinen will. Aber nun hütet euch auch, dieses Leben mit der Zukunft weiter in Gegensatz zu bringen, und die Menschen auf die Gedanken zu führen: ihre wahre Wohlfarth in diesem Leben sey nicht einerley mit ihrer ewigen Glückseligkeit in der Zukunft; ein anderes wäre es für ihr zeitliches, ein anderes für ihr ewiges Wohl sorgen, und es sey möglich, eines zu erhalten, und das andre zu vernachläßigen. Dem Blödsichtigen, der auf schmalem Steige wandeln soll, werden durch dergleichen Vorspiegelungen Standpunkt und Gesichtskreis verrückt, und er ist in Gefahr schwindlicht zu werden, und auf ebenem Wege zu stolpern. So mancher getraut sich nicht, die gegenwärtigen Wohlthaten der Vorsehung zu genießen, aus Besorgniß eben so viel von denselben dort zu verlieren, und mancher ist ein schlechter Bürger auf Erden geworden, in Hoffnung dadurch ein desto besserer im Himmel zu werden.
Ich habe mir die Begriffe von Staat und Religion, von ihren Gränzen und wechselweisem Einfluß auf einander, sowohl, als auf die Glückseligkeit des bürgerlichen Lebens, durch folgende Begtrachtungen deutlich zu machen gesucht. So bald der Mensch zur Erkenntnis kömmt, daß er, ausserhalb der Gesellschaft, so wenig die Pflichten gegen sich selbst und gegen den Urheber seines Daseyns, als die Pflichten gegen seinen Nächsten erfüllen, und also ohne Gefühl seines Elends nicht länger in seinem einsamen Zustande bleiben kann; so ist er verbunden, denselben zu verlassen, mit seines gleichen in Gesellschaft zu treten, um durch gegenseitige Hülfe ihre Bedürfnisse zu befriedigen, und durch gemeinsame Vorkehrungen, ihr gemeinsames Beste zu befördern. Ihr gemeinsames Beste aber begreift das Gegenwärtige sowohl als das Zukünftige, das Geistliche sowohl als das Irdische, in sich. Eins ist von dem andern unzertrennlich. Ohne Erfüllung unserer Obliegenheiten ist für uns weder hier noch da; weder auf Erden, noch im Himmel, ein Glück zu erwarten. Nun gehöret zur wahren Erfüllung unserer Pflichen, zweierlei: Handlung und Gesinnung. Durch die Handlung geschieht das, was die Pflicht erfordert, und die Gesinnung macht, daß es aus der wahren Quelle komme, d. i. aus ächten Bewegungsgründen geschehe.
Also Handlungen und Gesinnungen gehören zur Vollkommenheit des Menschen, und die Gesellschaft hat, so viel als möglich, durch gemeinschaftliche Bemühungen für beides zu sorgen; d. i. die Handlungen der Mitglieder zum gemeinschaftlichen Besten zu lenken, und Gesinnungen zu veranlassen, die zu diesen Handlungen führen. Jenes ist die Regierung, dieses die Erziehung des geselligen Menschen. Zu beiden wird der Mensch durch Gründe geleitet, und zwar zu den Handlungen durch Bewegungsgründe, und zu den Gesinnungen durch Wahrheitsgründe. Die Gesellschaft hat also beide durch öffentliche Anstalten so einzurichten, daß sie zum allgemeinen Besten übereinstimmen.
Die Gründe, welche den Menschen zu vernünftigen Handlungen und Gesinnungen leiten, beruhen zum Theil auf Verhältnissen der Menschen gegen einander, zum Theil auf Verhältnissen der Menschen gegen ihren Urheber und Erhalter. Jene gehören für den Staat, diese für die Religion. In so weit die Handlungen und Gesinnungen der Menschen, durch Gründe, die aus ihren Verhältnissen gegen einander fließen, gemeinnützig gemacht werden können, sind sie ein Gegenstand der bürgerlichen Verfassung; in so weit aber die Verhältnisse der Menschen gegen Gott, als Quelle derselben angenommen werden, gehören sie für die Kirche, Synagoge oder Moschee. Man liest in so manchen Lehrbüchern des sogenannten Kirchenrechts ernsthafte Untersuchungen, ob Juden, Ketzer und Irrgläubige eine Kirche haben können. Nach den unermeßlichen Vorrechten, die die sogenannte Kirche sich anzumaßen pflegt, ist die Frage so ungereimt nicht, als sie einem unbefangenen Leser scheinen muß. Mir kömmt es aber, wie leicht zu erachten, auf diesen Unterschied der Benennung nicht an. Oeffentliche Anstalten zu Bildung des Menschen, die sich auf Verhältnisse des Menschen zu Gott beziehen, nenne ich Kirche; – zum Menschen, Staat. Unter Bildung des Menschen verstehe ich die Bemühung, beides, Gesinnungen und Handlungen so einzurichten, daß sie zur Glückseligkeit übereinstimmen; die Menschen erziehen und regieren.
Heil dem Staate, dem es gelinget, das Volk durch die Erziehung selbst zu regieren; das heißt, ihm solche Sitten und Gesinnungen einzuflößen, die von selbst zu gemeinnützigen Handlungen führen, und nicht immer durch den Sporn der Gesetze angetrieben zu werden brauchen. –
Der Mensch im gesellschaftlichen Leben muß auf manches von seinen Rechten zum allgemeinen Besten Verzicht thun; oder wie man es nennen kann, sehr oft seinen eignen Nutzen dem Wohlwollen aufopfern. Nun ist er glücklich, wenn diese Aufopferung eigenes Triebes geschiehet, und er jedes Mal wahrnimmt, daß sie blos zum Behuf des Wohlwollens von ihm geschen sey. Wohhlwollen macht im Grunde glücklicher, als Eigennutz; aber wir müssen uns selbst und die Aesserung unserer Kräfte dabey empfinden. Nicht wie einige Sophisten es auslegen, weil alles am Menschen Eigenliebe ist; sondern weil Wohlwollen kein Wohlwollen mehr ist, weder Werth noch Verdienst für sich führet, wenn es nicht aus freyem Triebe des Wohlwollenden fließet.
Hierdurch kann man vielleicht auf die bekannte Frage: Welche Regierungsform ist die beste? eine befriedigende Antwort geben. Eine Frage auf welche bisher sich widersprechende Antworten, mit gleichem Scheine der Wahrheit, gegeben worden sind. Im Grunde ist sie zu unbestimmt, fast so wie jene medicinische Frage von gleicher Art: Welche Speise ist die gesundeste? Jede Complexion, jedes Clima, jedes Alter, Geschlecht, Lebensart u.s.w. erfordert eine andere Antwort. Eben so verhält es sich mit unserm politischphilosophischen Problem. Für jedes Volk, auf jeder Stufe der Cultur, auf welcher es stehet, ist eine andere Regierungsform die beste. Manche despotisch regierte Nationen würden höchst elend seyn, wenn man sie sich selbst überließe; so elend als manche freygesinnten Republikaner, wenn man sie einem Einzelherrn unterwerfen wollte. Ja manche Nation wird, so wie sich Cultur, Lebensart und Gesinnung abändern, auch mit der Regierungsform ändern, und in einer Folge von Jahrhunderten den ganzen Zirkel der Regierungsformen, von Anarchie bis zum Despotismus, durch alle Schattierungen und Vermischungen durchwandern, die in solchen Umständen für sie die Beste war.
Unter allen Umständen und Bedingungen aber halte ich es für einen untrüglichen Maaßstab von der Güte der Regierungsform, je mehr in derselben durch Sitten und Gesinnungen gewürkt, und also durch die Erziehung selbst regiert wird. Mit andern Worten, je mehr dem Bürger Anlaß gegeben wird, anschauend zu erkennen, daß er auf einige seiner Rechte nur zum allgemeinen Besten Verzicht zu thun, von seinem Eigennutzen nur zum Behuf des Wohlwollens aufzuopfern hat, und also von der einen Seite durch Aeusserung des Wohlwollens eben so viel gewinnet, als er durcht die Aufopferung verliert. Ja, daß er durch die Aufopferung selbst noch an innerer Glückseligkeit wuchere; indem dies das Verdienst und die Würde der wohlthätigen Handlung und also die wahre Vollkommenheit des Wohlwollenden vermehret. Es ist z.B nicht rathsam, daß der Staat alle Pflichten der Menschenliebe, bis auf die Almosenpflege, übernehme, und in öffentliche Anstalten verwandele. Der Mensch fühlt seinen Werth, wenn er Mildthätigkeit ausübt; wenn er anschauend wahrnimmt, wie durch seine Gabe die Noth seines Nebenmenschen erleichtert; wenn er giebt, weil er will. Giebt er aber, weil er muß; so fühlt er nur seine Fesseln.
Eine Hauptbemühung des Staates muß es also seyn, die Menschen durch Sitten und Gesinnungen zu regieren. Nun giebt es kein Mittel, die Gesinnungen, und vermittelst derselben, die Sitten der Menschen zu verbessern, als Ueberzeugung. Gesetze verändern keine Gesinnung, willkürliche Strafen und Belohnung erzeugen keine Grundsätze, veredeln keine Sitten. Furcht und Hoffnung sind keine Kriterien der Wahrheit. Erkenntniß, Vernunftgründe, Ueberzeugung, diese allein bringen Grundsätze hervor, die, durch Ansehen und Beyspiel, in Sitten übergehen können. Und hier ist es, wo die Religion dem Staat zu Hülfe kommen, und die Kirche eine Stütze der bürgerlichen Glückseligkeit werden soll. Ihr kömmt es zu, das Volk auf die nachdrücklichste Weise von der Wahrheit edler Grundsätze und Gesinnungen zu überführen; ihnen zu zeigen, daß die Pflichten gegen Menschen auch Pflichten gegen Gott seyen, die zu übertreten, schon an und für sich höchstes Elend sey; daß dem Staate dienen ein wahrer Gottesdienst, Recht und Gerechtigkeit der Befehl Gottes, und Wohlthun sein allerheiligster Wille sey, und daß wahre Erkenntniß des Schöpfers keinen Menschenhaß in der Seele zurücklassen könne. Dieses zu lehren, ist Amt und Pflicht und Beruf der Religion; dieses zu predigen Amt und Pflicht und Beruf ihrer Diener. Wie hat es den Menschen beykommen können, jene das Gegentheil lehren, diese das Gegentheil predigen zu lassen?
Wenn aber der Charakter der Nation, der Grad der Cultur, auf welchen sie gestiegen, die mit dem Wohlstande der Nation gewachsene Volksmenge, vervielfältigte Verhältnisse und Verbindungen, überhand genommene Ueppigkeit und andere Ursachen es unmöglich machen, die Nation blos durch Gesinnungen zu regieren; so nimmt der Staat seine Zuflucht zu öffentlichen Anstalten, Zwangsgesetzen, Bestrafungen des Verbrechens und Belohnung des Verdienstes. Wenn der Bürger nicht aus innerm Gefühl seiner Schuldigkeit das Vaterland vertheidigen will; so werde er durch Belohnung gelockt, oder durch Gewalt gezwungen. Haben die Menschen keinen Sinn mehr für den innern Werth der Gerechtigkeit, erkennen sie nicht mehr, daß Redlichkeit in Handel und Wandel wahre Glückseligkeit sey; so werde die Ungerechtigkeit gezüchtiget, der Betrug bestraft. Freylich erhält der Staat auf diese Weise den Endzweck der Gesellschaft nur zur Hälfte. Aeußere Bewegungsgründe machen den, auf welchen sie auch wirken, nicht glücklich. Wer aus Liebe zur Rechtschaffenheit den Betrug meidet, ist glücklicher, als der nur die willkührlichen Strafen fürchtet, die der Staat mit dem Betruge verbunden. Allein seinem Nebenmenschen kann es gleichviel gelten, aus welchen Bewegursachen das Unrecht unterbleibt, durch welche Mittel ihm sein Recht und Eigentum gesichert wird. Das Vaterland ist vertheidiget; die Bürger mögen aus Liebe, oder aus Furcht vor positiver Strafe, für dasselbe fechten; obgleich die Vertheidiger selbst in jenem Falle glücklich, in diesem aber unglücklich sind. Wenn innere Glückseligkeit der Gesellschaft nicht völlig zu erhalten stehet; so werde wenigstens äussere Ruhe und Sicherheit allenfalls erzwungen.
Der Staat also begnügt sich allenfalls mit todten Handlungen, mit Werken ohne Geist, mit Uebereinstimmung im Thun, ohne Uebereinstimmung in Gedanken. Auch wer nicht an Gesetze glaubt, muß nach dem Gesetze thun, sobald es Sanction erhalten hat. Er kann dem einzelnen Bürger das Recht lassen, über die Gesetze zu urtheilen; aber nicht nach seinem Urtheile zu handeln; denn hierauf hat er als Mitglied der Gesellschaft Verzicht thun müssen, weil ohne diesen Verzicht eine bürgerliche Gesellschaft ein Unding ist. – Nicht also die Religion! Diese kennet keine Handlung ohne Gesinnung, kein Werk ohne Geist, keine Uebereinstimmung im Thun, ohne Uebereinstimmung im Sinne. Religiöse Handlungn, ohne religiöse Gedanken, ist leeres Puppenspiel, kein Gottesdienst. Diese müssen also an und für sich selbst aus dem Geiste kommen, und können weder durch Belohnung erkauft, noch durch Strafen erzwungen werden. Aber auch von bürgerlichen Handlungen ziehet die Religion ihre Hand ab, in so weit sie nicht durch Gesinnung, sondern durch Macht hervorgebracht werden. Der Staat hat sich auch keine Hülfe mehr von der Religion zu versprechen, sobald er blos durch Belohnung und Bestrafung würken kann; denn in so weit dieses geschiehet, kommen die Pflichten gegen Gott weiter in keine Betrachtung, sind die Verhältnisse zwischen dem Menschen und seinem Schöpfer ohne Wirkung. Aller Beystand, den die Religion dem Staate leisten kann, ist Belehren und Trösten; durch ihre göttlichen Lehren dem Bürger gemeinnützige Gesinnungen beybringen, und durch ihre überirdische Trostgründe den Elenden aufrichten, der als ein Opfer für das gemeine Beste zum Tode verurtheilt worden.
Hier zeigt sich also schon ein wesentlicher Unterschied zwischen Staat und Religion. Der Staat gebietet und zwinget; die Religion belehrt und überredet; der Staat ertheilt Gesetze, die Religion Gebote. Der Staat hat physische Gewalt und bedient sich derselben, wo es nöthig ist; die Macht der Religion ist Liebe und Wohlthun. Jener giebt den Ungehorsamen auf, und stößt ihn aus; dieser nimmt ihn in ihren Schoos, und sucht ihn noch in dem letzten Augenblicke seines gegenwärtigen Lebens, nicht ganz ohne Nutzen, zu belehren, oder doch wenigstens zu trösten. Mit einem Worte: die bürgerliche Gesellschaft kann, als moralische Person, Zwangsrechte haben, und hat diese auch durch den gesellschaftlichen Vertrag würklich erhalten. Die religiöse Gesellschaft macht keinen Anspruch auf Zwangsrecht und kann durch alle Verträge in der Welt kein Zwangsrecht erhalten. Der Staat besitzet vollkommene, die Kirche blos unvollkommene Rechte. Um dieses gehörig ins Licht zu setzen, erlaube man mir zu den ersten Begriffen hinaufzusteigen, und den Ursprung der Zwangsrechte und Gültigkeit der Verträge der Menschen etwas genauer zu untersuchen. Ich bin in Gefahr, für manche Leser zu spekulativ zu werden. Allein hat doch jeder die Freyheit das zu überschlagen, was nicht nach seinem Geschmacke ist. Den Freunden des Naturrechts dürfte es nicht unangenehm seyn, zu sehen, wie ich mir die ersten Grundsätze desselben zu erörtern gesucht habe. –
[…]
Anmerkungen
Quelle: Moses Mendelssohn, Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum. Berlin: bey Friedrich Mauerer, 1783, S. 3–29. Online verfügbar unter: https://hdl.handle.net/2027/uc1.31970001089959