Kurzbeschreibung

Moses Mendelssohn (1729–1786) erlangte Ruhm und Ehre als Vater der jüdischen Haskala oder Aufklärung, die eine Versöhnung des Judentums mit den weitgefassten universalistischen Leitsätzen der europäischen Aufklärung mit sich brachte. Mendelssohn bahnte den Weg für jüdisches Engagement im nicht-jüdischen intellektuellen Leben in Deutschland, ein philosophischer Ansatz, der von Leibniz begonnen und später von Christian Wolff weiterentwickelt wurde. Mendelssohn blieb dem orthodoxen Judentum treu, forderte aber das jüdische Traditionsbewusstsein mit seiner Übersetzung des Pentateuch ins Deutsche heraus, ebenso wie durch seine grundsätzliche Befürwortung der Übernahme des Hochdeutschen und weiterer Formen der kulturellen Anpassung an die deutsche Gesellschaft. Nachdem der Schweizer Kleriker Johann Caspar Lavater (1741–1801) ihn aufgefordert hatte, zum Christentum überzutreten, schrieb er nachfolgende Antwort nieder, die Lavater verstummen ließ und Mendelssohn großen Respekt unter den Intellektuellen der Aufklärung einbrachte. Beachtenswert sind Mendelssohns sehr pointierte Formulierungen die Nachteile betreffend, welche Juden in einer christlichen Gesellschaft erleiden, sowie sein maßvolles Lob für den Grad an Toleranz, welche die kleine jüdische Gemeinde im Preußen Friedrichs II. genoss.

Moses Mendelssohn, Antwort an Johann Caspar Lavater (1769)

  • Johann Caspar Lavater

Quelle

Schreiben an den Herrn Diaconus Lavater zu Zürich von Moses Mendelssohn

Verehrungswerther Menschenfreund!

Sie haben für gut befunden, des Herrn Bonnets Untersuchung der Beweise für das Christenthum, die Sie aus dem Französischen übersetzt, mir zuzueignen, und in der Zuschrift mich vor den Augen des Publikums auf die allerfeyerlichste Weise zu beschwören: „diese Schrift zu widerlegen, wofern ich die wesentlichen Argumentationen, womit die Thatsachen des Christenthums unterstützt sind, nicht richtig finde; Dafern ich aber dieselbe richtig finde, zu thun, was Klugheit, Warheitsliebe und Redlichkeit mich thun heissen, — was ein Sokrates gethan hätte, wenn er diese Schrift gelesen, und unwiderleglich gefunden hätte;“ d. i. die Religion meiner Väter zu verlassen, und mich zu derjenigen zu bekennen, die Hr. B. vertheidiget. Denn sicherlich, wenn ich auch sonst kriechend genug dächte, die Klugheit der Warheitsliebe und Redlichkeit das Gegengewicht halten zu lassen, so würde ich doch hier in diesem Falle alle drey in derselben Schale antreffen.

Ich bin völlig überzeugt, daß Ihre Handlungen aus einer reinen Quelle fließen, und kann Ihnen keine andere, als liebreiche, menschenfreundliche Absichten, zuschreiben. Ich würde keines rechtschaffenen Mannes Achtung würdig seyn, wenn ich die freundschaftliche Zuneigung, die Sie mir in ihrer Zuschrift zu erkennen geben, nicht mit dankbarem Herzen erwiederte. Aber läugnen kann ich es nicht, dieser Schritt von Ihrer Seite hat mich ausserordentlich befremdet. Ich hätte alles eher erwartet, als von einem Lavater eine öffentliche Aufforderung.

Da Sie Sich der vertraulichen Unterredung noch erinnern, die ich das Vergnügen gehabt, mit Ihnen und Ihren würdigen Freunden auf meiner Stube zu halten; so können sie unmöglich vergessen haben, wie oft ich das Gespräch von Religionssachen ab, und auf gleichgültigere Materien zu lenken gesucht habe; wie sehr Sie und Ihre Freunde in mich dringen mußten, bevor ich es wagte, in einer Angelegenheit, die dem Herzen so wichtig ist, meine Gesinnung zu äussern. Wenn ich nicht irre; so sind Versicherungen vorhergegangen, daß von den Worten, die bey der Gelegenheit vorfallen würden, niemals öffentlich Gebrauch gemacht werden sollte. – Jedoch, ich will mich lieber irren, als Ihnen eine Uebertretung dieses Versprechens Schuld geben. – Wenn ich aber auf meiner Stube, unter einer geringen Anzahl würdiger Männer, von deren guten Gesinnungen ich Ursach hatte versichert zu seyn, einer Erklärung so sorgfältig auszuweichen suchte; so war leicht zu erachten, daß eine öffentliche meiner Gemüthsart äusserst zuwider seyn würde, und daß ich in Verlegenheit gerathen mußte, wenn die Stimme, die mich dazu auffordert, mir nicht verächtlich seyn kann. Was hat Sie also bewegen können, mich wider meine Neigung, die Ihnen bekannt war, aus dem Haufen hervorzuziehen, und auf einen öffentlichen Kampfplatz zu führen, den ich so sehr gewünscht, nie betreten zu dürfen? – Und wenn Sie auch meine Zurückhaltung einer bloßen Furchtsamkeit oder Schüchternheit zugeschrieben haben, verdienet eine solche Schwachheit nicht die Nachsicht und die Verschonung eines jeden liebreichen Herzens?

Allein die Bedenklichkeit, mich in Religionsstreitigkeiten einzulassen, ist von meiner Seite nie Furcht oder Blödigkeit gewesen. Ich darf sagen, daß ich meine Religion nicht erst seit gestern zu untersuchen angefangen. Die Pflicht, meine Meinungen und Handlungen zu prüfen, habe ich gar frühzeitig erkannt, und wenn ich, von früher Jugend an, meine Ruh- und Erholungsstunden der Weltweisheit und den schönen Wissenschaften gewiedmet habe; so ist es einzig und allein in der Absicht geschehen, mich zu dieser so nöthigen Prüfung vorzubereiten. Andere Bewegungsgründe konnte ich hierzu nicht gehabt haben. In der Lage, in welcher ich mich befand, durfte ich von den Wissenschaften nicht den mindesten zeitlichen Vortheil erwarten. Ich wußte gar wohl, daß für mich ein glückliches Fortkommen in der Welt auf diesem Wege nicht zu finden sey. Und Vergnügung? – O mein werthgeschätzter Menschenfreund! Der Stand, welcher meinen Glaubensbrüdern im bürgerlichen Leben angewiesen worden, ist so weit von aller freyen Uebung der Geisteskräfte entfernt, daß man seine Zufriedenheit gewis nicht vermehret, wenn man die Rechte der Menschheit von ihrer wahren Seite kennen lernt. – Ich vermeide auch über diesen Punkt eine nähere Erklärung. Wer die Verfassung kennet, in welcher wir uns befinden, und ein menschliches Herz hat, wird hier mehr empfinden, als ich sagen kann.

Wäre nach diesem vieljährigen Forschen die Entscheidung nicht völlig zum Vortheile meiner Religion ausgefallen; so hätte sie nothwendig durch eine öffentliche Handlung bekannt werden müssen. Ich begreiffe nicht, was mich an eine, dem Ansehen nach so überstrenge, so allgemein verachtete Religion fesseln könnte, wenn ich nicht im Herzen von ihrer Warheit überzeugt wäre. Das Resultat meiner Untersuchungen mochte seyn, welches man wollte, so bald ich die Religion meiner Väter nicht für die wahre erkannte; so mußte ich sie verlassen. Wäre ich im Herzen von einer andern überführet; so wäre es die verworfenste Niederträchtigkeit, der innerlichen Ueberzeugung zum Trotz, die Warheit nicht bekennen zu wollen. Und was könnte mich zu dieser Niederträchtigkeit verführen? Ich habe schon bekannt, daß in diesem Falle Klugheit, Warheitsliebe und Redlichkeit mich denselben Weg führen würden.

Wäre ich gegen beide Religionen gleichgültig, und verlachte oder verachtete in meinem Sinne alle Offenbarung; so wüßte ich gar wohl, was die Klugheit räth, wenn das Gewissen schweiget. Was könnte mich abhalten? — Furcht für meine Glaubensgenossen? — Ihre weltliche Macht ist allzu geringe, als daß sie mir fürchterlich seyn könnte. — Eigensinn? Trägheit? Anhänglichkeit an gewohnte Begriffe? — Da ich den größten Theil meines Lebens der Untersuchung gewiedmet; so wird man mir Ueberlegung genug zutrauen, solchen Schwachheiten nicht die Früchte meiner Untersuchungen aufzuopfern.

Sie sehen also, daß ohne aufrichtige Ueberzeugung von meiner Religion, der Erfolg meiner Untersuchung sich in einer öffentlichen Thathandlung hätte zeigen müssen. Da sie mich aber in dem bestärkten, was meiner Väter ist; so konnte ich meinen Weg im Stillen fortwandeln, ohne der Welt von meiner Ueberzeugung Rechenschaft ablegen zu dürfen. Ich werde es nicht leugnen, daß ich bey meiner Religion menschliche Zusätze und Misbräuche wargenommen, die leider! ihren Glanz nur zu sehr verdunkeln. Welcher Freund der Warheit kann sich rühmen, seine Religion von schädlichen Menschensatzungen frey gefunden zu haben? Wir erkennen ihn alle, diesen vergiftenden Hauch der Heucheley und des Aberglaubens, so viel unserer sind, die wir die Warheit suchen, und wünschen ihn, ohne Nachtheil des Wahren und Guten, abwischen zu können. Allein von dem Wesentlichen meiner Religion bin ich so fest, so unwiderleglich versichert, als Sie, oder Hr. Bonnet nur immer von der Ihrigen seyn können, und ich bezeuge hiermit vor dem Gott der Warheit, Ihrem und meinem Schöpfer und Erhalter, bey dem Sie mich in Ihrer Zuschrift beschworen haben, daß ich bey meinen Grundsätzen bleiben werde, so lange meine ganze Seele nicht eine andere Natur annimmt. Die Entferntheit von Ihrer Religion, die ich Ihnen und Ihren Freunden zu erkennen gegeben, hat seit der Zeit nichts abgenommen, und die Hochachtung für den moralischen Charakter des Stifters? – Sie hätten die Bedingung nicht verschweigen sollen, die ich ausdrücklich hinzugethan habe; so hätte ich auch diese noch jetzo einräumen können. Man muß gewisse Untersuchungen irgend einmal in seinem Leben geendiget haben, um weiter zu gehen. Ich darf sagen, daß dieses in Absicht auf die Religion schon seit etlichen Jahren von mir geschehen ist. Ich habe gelesen, verglichen, nachgedacht, und Partey ergriffen.

Und gleichwohl hätte meinetwegen das Judenthum in jedem polemischen Lehrbuche zu Boden gestürzt, und in jeder Schulübung im Triumph aufgeführt werden mögen, ohne daß ich mich hierüber jemals in einen Streit eingelassen haben würde. Ohne den mindesten Widerspruch von meiner Seite, hätte jeder Kenner oder Halbkenner des Rabbinischen, aus Schartecken, die kein vernünftiger Jude liest noch kennet, sich und seinen Lesern den lächerlichsten Begriff vom Judenthum machen mögen. Die verächtliche Meinung, die man von einem Juden hat, wünschte ich durch Tugend, und nicht durch Streitschriften widerlegen zu können. Meine Religion, meine Philosophie und mein Stand im bürgerlichen Leben geben mir die wichtigsten Gründe an die Hand, alle Religionsstreitigkeiten zu vermeiden, und in öffentlichen Schriften nur von denen Warheiten zu sprechen, die allen Religionen gleich wichtig seyn müssen.

Nach den Grundsätzen meiner Religion soll ich niemand, der nicht nach unserm Gesetze gebohren ist, zu bekehren suchen. Dieser Geist der Bekehrung, dessen Ursprung einige so gern der jüdischen Religion aufbürden möchten, ist derselben gleichwohl schnurstraks zuwider. Alle unsere Rabbinen lehren einmüthig, daß die schriftlichen und mündlichen Gesetze, in welchen unsere geoffenbarte Religion bestehet, nur für unsere Nation verbindlich seyen. Mose hat uns das Gesetz geboten, es ist ein Erbtheil der Gemeinde Jacob Alle übrigen Völker der Erde, glauben wir, seyen von Gott angewiesen worden, sich an das Gesetz der Natur und an die Religion der Patriarchen zu halten. Die ihren Lebenswandel nach den Gesetzen dieser Religion der Natur und der Vernunft einrichten, werden tugendhafte Männer von andern Nationen genennet, und diese sind Kinder der ewigen Seligkeit.

Unsere Rabbinen sind so weit von aller Bekehrungssucht entfernt, daß sie uns sogar vorschreiben, einen jeden, der sich von selbst anbietet, durch ernsthafte Gegenvorstellungen von seinem Vorsatze abzuführen. Wir sollen ihm zu bedenken geben, daß er sich durch diesen Schritt, ohne Noth, einer sehr beschwehrlichen Last unterziehe, daß er in seinem jetzigen Zustande nur die Pflichten der Noachiden zu beobachten habe, um selig zu werden; so bald er aber die Religion der Israeliten annehme; so unterzöge er sich freywillig allen strengen Gesetzen dieses Glaubens, und alsdenn müsse er sie beobachten, oder der Strafen gewärtig seyn, die der Gesetzgeber mit derselben Uebertretung verbunden hat. Endlich sollen wir ihm auch das Elend, die Bedrängniß, und die Verachtung getreulich vorstellen, in welcher die Nation gegenwärtig lebet, um ihn von einem vielleicht übereilten Schritte abzuhalten, den er in Folge bedauern könnte.

Die Religion meiner Väter will also nicht ausgebreitet seyn. Wir sollen nicht Mißionen nach beiden Indien oder nach Grönland senden, um diesen entfernten Völkern unsere Religion zu predigen. Das letztere insbesondere, das nach den Beschreibungen, die man von ihm hat, das Gesetz der Natur, leider! besser beobachtet, als wir, ist, nach unsern Religionslehren, ein beneidenswerthes Volk. Wer nach unserm Gesetze nicht gebohren ist, darf auch nicht nach unserm Gesetze leben. Uns allein halten wir für verbunden, diese Gesetze zu beobachten, und dieses kann unsern Nebenmenschen kein Aergernis geben. Man findet unsere Meinungen ungereimt? Es ist unnöthig, darüber Streit zu erregen. Wir handeln nach unserer Ueberzeugung, und andere mögen die Gültigkeit der Gesetze immer in Zweifel ziehen, die ihnen, nach unserm eigenen Geständnisse, nicht obliegen. Ob jene billig, verträglich, menschenfreundlich handeln, daß sie unsere Gesetze und Gebräuche so sehr verspotten, können wir ihrem eigenen Gewissen anheimstellen. So bald wir andere von unserer Meinung nicht überführen wollen; so ist das Streiten unnütz.

Wenn unter meinen Zeitgenossen ein Confucius oder Solon lebte; so könnte ich, nach den Grundsätzen meiner Religion, den großen Mann lieben und bewundern, ohne auf den lächerlichen Gedanken zu kommen, einen Confucius oder Solon bekehren zu wollen. Bekehren? wozu? Da er nicht zu der Gemeine Jacobs gehöret; so verbinden ihn meine Religionsgesetze nicht, und über die Lehren wollten wir uns bald einverstehen. Ob ich glaubte, daß er seelig werden könnte? — O! mich dünkt, wer in diesem Leben die Menschen zur Tugend anführet, kann in jenem nicht verdammt werden, und ich habe kein ehrwürdiges Collegium zu fürchten, das mich dieser Meinung halber, wie die Sorbonne den rechtschaffenen Marmontel, in Anspruch nehmen könnte.

Ich habe das Glück, so manchen vortreflichen Mann, der nicht meines Glaubens ist, zum Freunde zu haben. Wir lieben uns aufrichtig, ob wir gleich vermuthen, und voraussetzen, daß wir in Glaubenssachen ganz verschiedener Meinungen sind. Ich genieße die Wollust ihres Umganges, der mich bessert und ergötzt. Niemals hat mir mein Herz heimlich zugerufen: Schade für die schöne Seele! Wer da glaubet, daß außerhalb seiner Kirche keine Seeligkeit zu finden sey, dem müssen dergleichen Seufzer gar oft in der Brust aufsteigen.

Es ist zwar die natürliche Verbindlichkeit eines jeden Sterblichen, Erkenntnis und Tugend unter seinen Nebenmenschen auszubreiten, und die Vorurtheile und Irrthümer derselben nach Vermögen zu vertilgen. In dieser Betrachtung, könnte man glauben, sey es die Schuldigkeit eines jeden Menschen, die Religionsmeinungen, die er für irrig hält, öffentlich zu bestreiten. Allein nicht alle Vorurtheile sind von gleicher Schädlichkeit, und daher müssen auch nicht alle Vorurtheile, die wir bey unsern Nebenmenschen wahrzunehmen glauben, auf einerley Weise behandelt werden. Einige sind der Glückseeligkeit des menschlichen Geschlechts unmittelbar zuwider. Ihr Einfluß auf die Sitten der Menschen ist offenbar verderblich, und man hat auch nicht einmal einen zufälligen Nutzen von ihnen zu erwarten. Diese müssen von jedem Menschenfreunde geradezu angegriffen werden. Der gerade Weg auf sie loszugehen, ist unstreitig der beste, und jede Verzögerung durch Umwege unverantwortlich. Von dieser Art sind alle Irrthümer und Vorurtheile der Menschen, die ihre eigene oder ihrer Nebenmenschen Ruhe und Zufriedenheit stöhren, und jeden Keim des Wahren und Guten in dem Menschen tödten, bevor er zum Ausbruche kommen kann. Von der einen Seite Fanatismus, Menschenhaß, Verfolgungsgeist, und von der andern Seite Leichtsinn, Ueppigkeit, und unsittliche Freygeisterey.

Zuweilen gehören aber die Meinungen meiner Nebenmenschen, die ich nach meiner Ueberzeugung für Irrthümer halte, zu den höhern theoretischen Grundsätzen, die von dem Praktischen zu weit entfernt sind, um unmittelbar schädlich zu seyn; sie machen aber, eben ihrer Allgemeinheit wegen, die Grundlage aus, auf welchem das Volk, welches sie heget, das System seiner Sittenlehre und Geselligkeit aufgeführt hat, und sind also zufälligerweise diesem Theile des menschlichen Geschlechts von großer Wichtigkeit geworden. Solche Lehrsätze öffentlich bestreiten, weil sie uns Vorurtheile dünken, heißt ohne das Gebäude zu unterstützen, den Grund durchwühlen, um zu untersuchen, ob er fest und sicher ist. Wer mehr für das Wohl der Menschen, als für seinen eigenen Ruhm sorget, wird über Vorurtheile von dieser Art seine Meinung zurück halten, sich hüten, sie geradezu, und ohne die größeste Behutsamkeit anzugreifen, um nicht ein ihm verdächtiges Principium der Sittlichkeit umzustossen, bevor seine Nebenmenschen das Wahre angenommen, das er an die Stelle setzen will.

Ich kann also gar wohl bey meinen Mitbürgern Nationalvorurtheile und irrige Religionsmeinungen zu erkennen glauben, und dennoch verbunden seyn, zu schweigen, wenn diese Irrthümer weder die natürliche Religion, noch das natürliche Gesetz unmittelbar zu Grunde richten, und vielmehr zufälligerweise mit der Beförderung des Guten verknüpft sind. Es ist wahr, die Sittlichkeit unserer Handlungen verdienet diesen Namen kaum, wenn sie auf Irrthum gegründet ist, und die Beförderung des Guten muß allezeit von der Wahrheit, wenn sie erkannt wird, weit besser und sicherer erhalten werden können, als von dem Vorurtheil. Allein so lange sie nicht erkannt wird, so lange sie nicht national geworden ist, um auf den großen Haufen so mächtig wirken zu können, als das eingewurzelte Vorurtheil, muß dieses einem jeden Freunde der Tugend beynahe heilig seyn.

Man ist zu dieser Bescheidenheit um so viel mehr verbunden, wenn die Nation, welche nach unserer Meinung dergleichen Irrthümer heget, sich übrigens durch Tugend und Weisheit verehrenswerth gemacht hat, und eine Menge großer Männer unter sich zählet, die Wohlthäter des menschlichen Geschlechts genennt zu werden verdienen. Ein so edler Theil der Menschheit muß auch da, wo ihm etwas Menschliches begegnet, mit Ehrfurcht verschont werden. Wer darf sich erkühnen, die Vortreflichkeiten einer so erhabenen Nation aus den Augen zu setzen, und sie da anzugreiffen, wo er eine Schwäche bemerkt zu haben glaubet?

Dieses sind die Bewegungsgründe, die mir meine Religion und meine Philosophie an die Hand geben, Religionsstreitigkeiten sorgfältig zu vermeiden. Setzen Sie die häußliche Verfassung hinzu, in welcher ich unter meinen Nebenmenschen lebe; so werden Sie mich vollkommen rechtfertigen. Ich bin ein Mitglied eines unterdrückten Volks, das von dem Wohlwollen der herrschenden Nation Schutz und Schirm erflehen muß, und solchen nicht allenthalben, und nirgend ohne gewisse Einschränkungen erhält. Freyheiten, die jedem andern Menschenkinde nachgelassen werden, versagen sich meine Glaubensgenossen gerne, und sind zufrieden, wenn sie geduldet und geschützt werden. Sie müssen es der Nation, die sie unter erträglichen Bedingungen aufnimmt, für keine geringe Wohlthat anrechnen, da ihnen in manchen Staaten so gar der Aufenthalt versagt wird. Ist es doch nach den Gesetzen Ihrer Vaterstadt, Ihrem beschnittenen Freunde nicht einmal vergönnt, Sie in Zürich zu besuchen? Welche Erkentlichkeit sind meine Glaubensbrüder also nicht der herrschenden Nation schuldig, die sie in der allgemeinen Menschenliebe mit einschließt, und sie ungehindert den Allmächtigen nach ihrer Väter Weise anbeten läßt! Sie genießen in dem Staate, in welchem ich lebe, hierin die anständigste Freyheit, und ihre Mitglieder sollten sich nicht scheuen, die Religion des herrschenden Theils zu bestreiten, das heißt, ihre Beschützer von der Seite anzufallen, die tugendhaften Menschen die empfindlichste seyn muß?

Nach diesen Grundsätzen war ich entschlossen, jederzeit zu handeln, und ihnen zufolge, Religionsstreitigkeiten mit der äussersten Sorgfalt zu vermeiden, wenn nicht eine ausserordentliche Veranlassung mich nöthigen würde, meinen Vorsatz zu ändern. Privataufforderungen von verehrungswürdigen Männern, bin ich kühn genug gewesen, mit Stillschweigen zu übergehen, und die Zunöthigung kleiner Geister, die geglaubt haben, mich meiner Religion halber, öffentlich antasten zu dürfen, habe ich geglaubt verachten zu dürfen. Allein die feyerliche Beschwörung eines Lavaters nöthiget mich wenigstens, meine Gesinnungen öffentlich an den Tag zu legen, damit niemand ein zu weit getriebenes Stillschweigen für Verachtung oder Geständniß halten möge.

Ich habe die Bonnetsche von Ihnen übersetzte Schrift mit Aufmerksamkeit gelesen. Ob ich überzeugt worden sey, ist nach dem, was ich vorhin erklärt habe, wohl die Frage nicht mehr. Aber ich muß gestehen, auch in ihrer Art, als Vertheidigung der Christlichen Religion, hat sie mir den Werth nicht zu haben geschienen, den Sie darauf setzen. Ich kenne Herrn Bonnet aus andern Werken, als einen vortreflichen Schriftsteller, aber ich habe so manche Vertheidigung derselben Religion, ich will nicht sagen von Engländern, von unsern deutschen Landsleuten gelesen, die mir weit gründlicher und philosophischer geschienen, als diese Bonnetsche, die Sie mir zu meiner Bekehrung empfehlen. Wenn ich nicht irre, so sind so gar die mehresten philosophischen Hypothesen dieses Schriftstellers auf deutschem Grund und Boden gewachsen, und der Verfasser des Essai de Psychologie selbst, dem Herr B. so treulich nachfolget, hat deutschen Weltweisen beynahe alles zu verdanken. Wo es auf philosophische Grundsätze ankömmt, darf der Deutsche selten von seinen Nachbarn borgen.

Noch sind die allgemeinen Betrachtungen, die Hr. Bonnet vorausschicket, meiner Einsicht nach, der gründlichste Theil dieses Werks. Denn die Anwendung und der Gebrauch, den er davon zur Vertheidigung seiner Religion machet, hat mir so unstatthaft, so willkührlich geschienen, daß ich einen Bonnet beynahe ganz darinnen verkannt habe. Es ist mir unangenehm, daß mein Urtheil von dem Ihrigen so sehr verschieden ausfallen muß. Mir kömmt es vor, als wenn die innere Ueberzeugung des Hr. B. und ein löblicher Eifer für seine Religion den Beweisgründen Gewicht zugelegt hätte, das ein anderer nicht darinn finden kann. Seine mehresten Schlußsätze scheinen mir so wenig aus den Vordersätzen zu folgen, daß ich mich getrauen wollte, welche Religion man will, mit denselben Gründen zu vertheidigen. Dem Verfasser selbst ist dieses vielleicht nicht zur Last zu legen. Er kann nur für solche Leser geschrieben haben, die, wie er, überzeugt sind, und nur lesen, um sich in ihrem Glauben zu bestärken. Wenn Schriftsteller und Leser erst über das Resultat einig sind; so vertragen sie sich gar bald über die Gründe. Aber auf Sie, mein Herr! fällt billig meine Bewunderung, daß Sie diese Schrift für hinlänglich halten, einen Menschen zu überführen, der seinen Grundsätzen nach, vom Gegentheile eingenommen seyn muß. Sie können sich unmöglich in die Gedanken eines solchen versetzt haben, der die Ueberzeugung nicht mitbringet, sondern in diesem Werke erst suchen soll. Haben Sie aber dieses gethan, und glauben dennoch, wie Sie zu verstehen geben, daß ein Sokrates selbst die Beweisgründe des Hr. Bonnet unwiderleglich finden müsse; so ist einer von uns sicherlich ein merkwürdiges Beyspiel, von der Gewalt der Vorurtheile und der Erziehung, selbst über solche, die mit aufrichtigem Herzen die Warheit suchen.

Ich habe Ihnen nunmehr die Gründe angezeigt, warum ich so sehr wünsche, niemals über Religionssachen zu streiten; ich habe Ihnen aber auch zu erkennen gegeben, daß ich gar wohl glaube, der Bonnetschen Schrift etwas entgegensetzen zu können. Wenn darauf gedrungen wird; so muß ich die Bedenklichkeiten aus den Augen setzen, und mich entschließen, in Gegenbetrachtungen meine Gedanken über des Hrn. Bonnet Schrift und die von ihm vertheidigte Sache öffentlich bekannt zu machen. Ich hoffe aber, daß Sie mich dieses unangenehmen Schritts überheben, und lieber zugeben werden, daß ich in die friedsame Lage zurückkehre, die mir so natürlich ist. Wenn Sie Sich an meine Stelle setzen, und die Umstände nicht aus Ihrem Gesichtspunkte, sondern aus dem Meinigen betrachten, so werden Sie meiner Neigung Gerechtigkeit widerfahren lassen. Ich möchte nicht gerne in Versuchung kommen, aus den Schranken zu treten, die ich mir mit so gutem Vorbedachte selbst gesetzt habe.

Ich bin mit der vollkommensten Hochachtung

Berlin,
den 12. December
1769.

Ihr
aufrichtiger Verehrer,
Moses Mendelssohn.

Quelle: Moses Mendelsohn, Gesammelte Schriften, Jubiläumsausgabe, Bd. 7, Hrsg. I. Elbogen, J. Guttmann und E. Mittwoch. Berlin: Akademie-Verlag, 1930, S. 7–17.