Quelle
[…] Es bleibt uns also nichts anderes übrig, als das deutsche Reich, wenn man es nach den Regeln der Wissenschaft von der Politik klassifizieren will, einen irregulären und einem Monstrum ähnlichen Körper zu nennen, der sich im Laufe der Zeit durch die fahrlässige Gefälligkeit der Kaiser, durch den Ehrgeiz der Fürsten und durch die Machenschaften der Geistlichen aus einer regulären Monarchie zu einer so disharmonischen Staatsform entwickelt hat, daß es nicht mehr eine beschränkte Monarchie, wenngleich der äußere Schein dafür spricht, aber noch nicht eine Föderation mehrerer Staaten ist, vielmehr ein Mittelding zwischen beiden. Dieser Zustand ist die dauernde Quelle für die tödliche Krankheit und die inneren Umwälzungen des Reiches, da auf der einen Seite der Kaiser nach der Wiederherstellung der monarchischen Herrschaft, auf der anderen die Stände nach völliger Freiheit streben. Es ist aber die Natur aller Degenerationen, daß ein Staat, wenn er sich schon weit vom ursprünglichen Zustand entfernt hat, in schnellem Niedergang wie von selbst sich dem anderen Extrem nähert, während er sich nur mit großer Anstrengung auf seine Urform zurückführen läßt. Wie man einen Felsen, der einmal ins Rollen gekommen ist, sehr leicht vom Berg in die Ebene hinunterbringt, aber nur mit ungeheurer Anstrengung auf den Gipfel hinaufwälzt, so wird man auch Deutschland nicht ohne größte Erschütterungen und ohne totale Verwirrung der Verhältnisse zur monarchischen Staatsform zurückführen können; zum Staatenbund entwickelt es sich dagegen von selbst. Wenn man von der gegenseitigen Renitenz des Kaisers und der Stände absieht, dann ist es schon jetzt eine Föderation von Bundesgenossen ungleichen Rechts, indem die Stände die Hoheit des Kaisers gebührend anzuerkennen und zu ehren haben. Als Beispiel für eine Vereinigung freier Staaten kann das Bündnis zwischen Rom und den Latinern gelten, ehe sie von Rom in ein Untertanenverhältnis gezwungen wurden; ebenso beruhte auf einem Kriegsbündnis die Feldherrnwürde Agamemnons im griechischen Heer während des Trojanischen Krieges. Gewöhnlich tritt freilich der Fall ein, daß der Führer eines Bundes seine Macht so vergrößert, daß er die schwächeren Bundesgenossen mit der Zeit als Untertanen behandelt.
Wir können also den Zustand Deutschlands am besten als einen solchen bezeichnen, der einem Bund mehrerer Staaten sehr nahe kommt, in dem ein Fürst als Führer des Bundes die herausragende Stellung hat und mit dem Anschein königlicher Gewalt umgeben ist. Mit den schweren Krankheiten, von denen dieser Staatskörper heimgesucht wird, werden wir uns im nächsten Kapitel befassen. […]
Die Größe und Stärke des deutschen Reiches könnte, wenn es eine monarchische Verfassung hätte, für ganz Europa bedrohlich sein, aber es ist durch innere Krankheiten und Umwälzungen so geschwächt, daß es kaum sich selbst verteidigen kann. Die Hauptursache des Übels ist der unharmonische und ungeordnete Zusammenhang des Staates. Eine noch so große Menge von Menschen ist nicht stärker als ein einzelner Mensch, solange jeder seinen eigenen Weg geht; alle Macht entsteht aus der Vereinigung. Auch wenn mehrere nicht zu einem natürlichen Körper zusammenwachsen können, so einen sich die Kräfte der Vielen doch, sofern sie von einem einheitlichen Entschluß wie von einer Seele sich lenken lassen. Je fester und geordneter diese Einigung ist, desto stärker ist die Gesellschaft; eine lockere und schlechte Verbindung der Glieder führt notwendig zu Schwäche und Krankheiten. Die vollkommenste und besonders auf Dauer angelegte Einigung sieht man in der gut errichteten Monarchie. Denn die Aristokratien sind, abgesehen davon, daß sie fast nur dort überleben können, wo die wesentlichen Kräfte eines Staates auf eine Stadt konzentriert sind, von Natur aus gebrechlicher als Monarchien. Die erlauchte Republik Venedig ist eine Ausnahme, die man zu den Wundern zählt. Staatenbünde, die durch Bündnisse aus mehreren Staaten zusammengefügt sind, hängen weit loser zusammen und fallen leichter inneren Unruhen oder gar der Auflösung anheim. Sollen die Staatenbünde aber dennoch eine gewisse Festigkeit erreichen, so müssen die verbündeten Staaten dieselbe Staatsform haben, das Machtverhältnis untereinander muß annähernd gleich sein, die Verbindung soll allen gleichen Nutzen bringen, und sie soll schließlich nach reiflicher Überlegung und nach zuvor gut ausgearbeiteten Grundgesetzen eingegangen worden sein. Staaten nämlich, die leichtfertig, spontan und ohne vorher die zukünftige Verfassung sorgfältig bedacht und geordnet zu haben in einen Bund schlittern, können ebensowenig einen harmonischen Körper bilden, wie ein Schneider ein vornehmes Kleid verfertigen kann, wenn er den Stoff zugeschnitten hat, bevor feststand, ob es ein Kleid für einen Mann oder für eine Frau werden sollte. Längst hat man auch gesehen, daß kaum je Monarchien und Freistaaten miteinander Bünde nach Treu und Glauben eingegangen sind, weder auf Zeit, geschweige denn auf Dauer; die Fürsten verabscheuen nämlich die Freiheit des Volkes, und das Volk fürchtet den Stolz der Fürsten. Ja, die menschlichen Anlagen sind so verdorben, daß kaum ein Stärkerer gelassen den Schwächeren als Gleichberechtigten betrachten kann. Und wem nichts oder nur ein winziger Teil der gemeinsamen Vorteile bleibt, der weigert sich auch, die gemeinsamen Lasten zu tragen.
Deutschland ist deswegen so schwach, weil bei ihm zwei Übel zusammenkommen: eine schlecht eingerichtete Monarchie und zugleich ein ungeordneter Staatenbund; das Hauptübel ist, daß auf Deutschland keine dieser Staatsformen paßt. Der äußere Schein und die leeren Formen deuten auf eine Monarchie hin. In der Frühzeit war der König tatsächlich, was sein Titel besagte. Nachdem sein Einfluß gesunken und die Macht und Freiheit der Stände gestiegen war, ist kaum ein Schatten der monarchischen Herrschaft geblieben, den man etwa bei den Führern eines Staatenbundes wahrnehmen kann. So wird der Reichskörper durch ein vernichtendes Tauziehen zwischen den Interessen des Kaisers und der Stände erschüttert: jener erstrebt mit allen Mitteln die Wiederherstellung der alten monarchischen Rechte, diese verteidigen standhaft die errungene Machtstellung. Die Folgen sind fortwährend Argwohn, Mißtrauen und verborgene Ränke, um kaiserlichen Machtzuwachs zu verhindern oder ständische Macht zu brechen. Ferner ist das sonst so starke Reich unfähig zu Angriff und Eroberung, weil Neuerwerbungen weder dem Kaiser von den Ständen zugestanden werden noch gleichmäßig unter allen verteilt werden können. Wie monströs ist schon allein dies, daß sich Haupt und Glieder wie zwei Parteien gegenüberstehen.
Außerdem herrschen zwischen den Ständen selbst aus verschiedenen Gründen mannigfache Gegensätze, die Deutschland nicht einmal als geordneten Staatenbund erscheinen lassen. Die Stände haben unterschiedliche, schwer miteinander vereinbare Staatsformen, Freistaaten mengen sich unter die Monarchien. Der Wohlstand der durch den Handel reich gewordenen Städte erregt den Neid der Fürsten, zumal er teilweise aus ihren Ländern den Städten zugeflossen ist und es sich nicht leugnen läßt, daß manche Städte wie Schmarotzer durch Auszehrung der umliegenden Fürstentümer groß geworden sind. Der Adel verachtet die Bürger, die oft nicht weniger stolz auf ihr Geld sind als jener auf seine Ahnen oder verarmten Besitzungen. Einige Fürsten erblicken in den Städten gleichsam einen Vorwurf gegen ihre Herrschaft, und sie finden, daß die Untertanen ihren Status wegen des Vergleichs mit der benachbarten Freiheit widerwilliger ertragen. So entstehen überall Neid, Verachtung, Kränkungen, Argwohn und verborgene Ränke. Noch heftiger und offenkundiger herrscht das alles zwischen den Bischöfen und den Städten, in denen ihre Kathedralkirchen liegen. Selbst auf dem Reichstag zeigen die Fürsten unverhohlen ihre Abneigung gegen das Kollegium der Städte; der Kaiser dagegen ist den Städten gewogen, weil er auf sie einen größeren Einfluß hat als auf die anderen Stände.
Aber auch die geistlichen und die weltlichen Fürsten sind einander nicht wohlgesonnen. Im Fürstenstand hat die Geistlichkeit den höheren Rang wegen der Heiligkeit ihres Amtes und weil sich zweifellos der Geist Gottes reichlicher auf eine Glatze ergießt als auf ungeschorene Häupter. Deshalb hatte sie im barbarischen Mittelalter das größte Ansehen im Staat. Den weltlichen Fürsten aber ist es peinlich, zusehen zu müssen, wie den meist aus dem niederen Adel stammenden Geistlichen so plötzlich eine ebenbürtige oder höhere Würde zukommt und sie sich auf die Gnade Gottes berufen, zumal sie ihre Würde nicht auf ihre Nachkommen vererben können und ihre Familie in ihrem früheren Stand verbleibt. Freilich sorgen auch viele Bischöfe nach dem Vorbild des Heiligen Vaters reichlich für ihre Verwandten durch kirchliche Pfründen und Schenkungen. Andererseits haben auch die geistlichen Fürsten gerechte Gründe für ihren Zorn auf die weltlichen; denn sie nötigten sie, ihren Wanst fester einzuschnüren; darüber unten mehr.
Nicht wenig trägt auch zur Spaltung unter den Ständen die große Ungleichheit der Macht bei. Denn nach einem Erbfehler des Menschengeschlechts verachten die Stärkeren die Schwächeren und wollen sie unterwerfen, wohingegen diese zu Verdächtigungen und Klagen neigen und zuweilen schroff die Gleichheit ihrer Libertät betonen. Auch der Vorrang der Kurfürsten ist ein ernster Grund zum Zwiespalt, da die Fürsten ihr Ansehen nur widerwillig anerkennen und manche ihnen die widerrechtliche Aneignung ihrer Würde vorwerfen, während jene eifrig für ihr Recht und Ansehen kämpfen.
Als wenn der Krankheiten noch nicht genug wären, hat die Religion, sonst das stärkste Band der Geister, Deutschland in Parteien zerrissen und in heftige Konflikte gestürzt. Die Gründe dafür liegen nicht allein im Haß wegen der verschiedenen religiösen Ansichten und in der Gewohnheit der Geistlichen, Andersgläubige vom Himmel auszuschließen, sondern darin, daß die Protestanten die katholischen Geistlichen aus einem Großteil ihrer Güter vertrieben haben und diese Tag und Nacht danach streben, sie wiederzugewinnen, während jene es für Feigheit halten, das einmal Gewonnene aufzugeben. Außerdem ist nach der Meinung vieler Leute die allzu große Macht der Geistlichkeit überhaupt für den Staat gefährlich, vor allem wenn Priester und Mönche von einem außerdeutschen Oberhaupt abhängen, das niemals aufrichtige Liebe zu den Deutschen empfindet und das alle Laien dem Untergang gern weihen würde, wenn nur seine Gefolgschaft in glänzenden Verhältnissen lebte. Es ist offenkundig, daß sich auf diese Weise ein besonderer Staat im Staate bildet und der Staat so zwei Häupter hat. Die meisten, die ihr Vaterland mehr lieben als die römische Kirche, halten das für das Schlimmste, was dem Staat zustoßen kann.
Nicht weniger schädlich ist die Befugnis der deutschen Stände, nicht nur untereinander, sondern auch mit dem Ausland Bündnisse eingehen zu können; und dies um so unbekümmerter, als es ihnen im Osnabrücker Frieden ausdrücklich zugestanden wurde. Dadurch teilen sich die deutschen Fürsten in Faktionen, und die verbündeten auswärtigen Mächte erhalten die Möglichkeit, Deutschland nach Belieben in Schach zu halten und bei günstiger Gelegenheit mit Hilfe ihrer Bundesgenossen ihre Macht auf Kosten der Gesamtheit auszudehnen. Denn man sucht solche Bündnisse mit auswärtigen Staaten nicht nur gegen andere Staaten (das könnte man noch dulden), sondern auch gegen Glieder des Reiches selbst.
Aber auch die Spuren der Göttin der Gerechtigkeit sind in Deutschland fast verschwunden. Wenn nämlich ein Streit zwischen Ständen – solche ereignen sich wegen ihrer großen Zahl und wegen der Gemengelage ihrer Territorien oft – vor das Kammergericht gebracht wird, kann man das Ende der Kontroverse erst nach einem Jahrhundert erwarten. Beim Reichshofrat fürchtet man, daß er sich nicht genügend der Gunst und der Bestechung verschließt; und manche haben das Gericht in Verdacht, daß es sich zu sehr durch seinen Sitz am kaiserlichen Hof beeinflussen läßt. Deshalb wird in Deutschland meist das Recht mit den Waffen erstritten; wer die Macht hat, entscheidet auch den Rechtsstreit für sich und fürchtet nicht, auch selbst zur Exekution zu schreiten.
Endlich zeugt von der Schwäche des Reichsverbandes, daß es weder einen gemeinsamen Reichsschatz noch ein Reichsheer gibt, mit dem man fremde Angriffe abwehren oder irgendeine Provinz, aus deren Abgaben man die gemeinsamen Staatsausgaben bestreitet, erwerben kann. Es würde schon genügen, wenn Deutschland seine Söldner, die fast in ganz Europa ihre Haut zu Markte tragen, für seine eigenen Zwecke verwenden könnte. […]
Quelle: Severinus de Monzambano Veronensis,
De statu imperii Germanici ad Laelium
fratrem, dominum Trezolani. Liber unus. Genf 1667. [Der Text
erscheint hier im lateinischen Original.]
Deutsche Übersetzung:
Samuel Pufendorf, Die Verfassung des
deutschen Reiches. Übersetzung, Anmerkung und Nachwort von
Horst Denzer. Stuttgart: P. Reclam, 1976, S. 106 f., 118–22;
abgedruckt in Helmut Neuhaus, Hrsg.
Zeitalter des Absolutismus
1648–1789. Deutsche Geschichte in Quellen und Darstellung,
Hrsg. Rainer A. Müller, Band 5. Stuttgart: P. Reclam, 1997, S.
27–35.