Quelle
Berlin, 25. Januar 1918
Am Montag, den 28. Januar, beginnt der Massenstreik!
Arbeiterinnen! Arbeiter!
Auf zum Massenstreik! Auf zum Kampf! Soeben hat das österreichisch-ungarische Proletariat ein mächtiges Wort gesprochen. Fünf Tage lang ruhte die Arbeit in allen Betrieben in Wien, Budapest usw., im ganzen Reiche. In Wien haben die Arbeiter den Straßenbahnverkehr eingestellt, auch der Eisenbahnverkehr wurde zum Teil lahmgelegt, es erschien keine einzige Zeitung. An vielen Orten kam es zu einer offenen Erhebung der Bevölkerung und zum Kampf mit der Regierungsmacht. In Prag und Budapest wurde die Republik proklamiert. In Wien hielten die Arbeiter die Brücken besetzt, um das Eindringen der Polizei in die Arbeiterviertel zu verhindern.
In schlotternder Angst vor der drohenden Revolution war die Zentralregierung gezwungen, den nach Muster der russischen Revolution gewählten Wiener Arbeiterrat anzuerkennen und mit ihm zu verhandeln. Sie beeilte sich, Konzessionen zu machen, um die Bewegung einzudämmen, wobei ihr natürlich die Regierungssozialisten und die Gewerkschaftsführer freiwillig Handlangerdienste leisteten.
Die Aufhebung der Militarisierung der Betriebe, die Aufhebung des Arbeitszwangsgesetzes, die Erfüllung der Arbeiterforderungen in den Ernährungsfragen, gleiches und allgemeines Wahlrecht für Frauen und Männer bei den Gemeindewahlen, Versprechen, bei den Friedensverhandlungen mit Rußland auf alle Annexionsabsichten zu verzichten - dies sind die vorläufigen Zugeständnisse. Die historische Bedeutung des Arbeiteraufstandes in Österreich-Ungarn liegt aber nicht in diesen Zugeständnissen, sondern in der Tatsache der Erhebung selbst. Die Bewegung ist zwar auf halbem Wege stehen geblieben, aber dies ist der erste Schritt, dem andere folgen werden. Die Hilfe der deutschen Arbeiter, unser Massenstreik, wird die Flamme der Revolution der Doppelmonarchie zu neuem, mächtigem Brande entfachen.
Arbeiterinnen und Arbeiter! Was unsere österreichisch-ungarischen Brüder angefangen haben, das müssen wir vollenden!
Die Entscheidung der Friedensfrage liegt bei dem deutschen Proletariat!
Unser Massenstreik soll kein kraftloser „Protest“ und kein von vornherein auf eine bestimmte Frist beschränkter hohler Demonstrationsstreik, sondern ein Machtkampf sein. Wir kämpfen so lange, bis unsere Mindestforderungen unverkürzt verwirklicht worden sind: Aufhebung des Belagerungszustandes, der Zensur, aller Beschränkungen der Koalitions-, Streik-, Vereins- und Versammlungsfreiheit, Freilassung aller politisch Inhaftierten - dies sind die Bedingungen, die uns notwendig sind, um unsern Kampf um die Macht, um die Volksrepublik in Deutschland und einen sofortigen allgemeinen Frieden frei zu entfalten.
Jeder Separatfriede führt nur zur Verlängerung und Verschärfung des Völkermordens. Es gilt um jeden Preis den Separatfrieden in einen allgemeinen Frieden zu verwandeln. Dies ist unser Ziel.
Arbeiter! Bevor wir die Betriebe verlassen, müssen wir uns eine frei gewählte Vertretung nach russischem und österreichischem Muster schaffen mit der Aufgabe, diesen und die weiteren Kämpfe zu leiten. Jeder Betrieb wähle pro tausend beschäftigter Arbeiter je einen Vertrauensmann; Betriebe mit weniger als tausend Arbeiter wählen nur einen Vertreter. Die Vertrauensmänner der Betriebe müssen an jedem Orte sofort zusammentreten und sich als Arbeiterrat konstituieren. Außerdem wird für jeden Betrieb ein leitender Ausschuß gewählt. Sorgt dafür, daß die Gewerkschaftsführer, die Regierungssozialisten und andere „Durchhalter“ unter keinen Umständen in die Vertretung gewählt werden. Heraus mit den Burschen aus den Arbeiterversammlungen! Diese Handlanger und freiwilligen Agenten der Regierung, diese Todfeinde des Massenstreiks haben unter den kämpfenden Arbeitern nichts zu suchen! Während des Massenstreiks im April v. J. haben die Cohen, die Severing, die Körsten, die Scheidemänner und ihre Presse in heimtückischer Weise der Streikbewegung des Genick gebrochen, indem sie die Unklarheit der Masse ausnutzten und den Kampf auf falsche Bahnen lenkten. Lassen wir uns nicht durch die Friedensphrasen und die Maske der angeblichen Sympathie mit unserm Kampf betören, die diese Judasse jetzt nach den österreichischen Vorgängen benutzen werden. Von diesen Wölfen im Schafspelz droht der Bewegung eine viel schlimmere Gefahr, als von der königlich preußischen und anderweitigen Polizei!
Und nun, Arbeiter und Arbeiterinnen, auf zum Kampf! Wir haben eine mächtige Waffe in der Hand, unsere Klassensolidarität! Machen wir Gebrauch von dieser Waffe: Alle für einen, einer für alle! Dann sind wir gegen alle Drohungen, Maßregelungen und Verfolgungen seitens der Gewaltherrscher gefeit!
Ein roher Knecht der Säbeldiktatur, der General Gröner, hat nach dem vorjährigen Aprilstreik jeden streikenden Arbeiter als Hundsfott beschimpft. Zeigen wir der Welt, daß die „Hundsfötter“ in Deutschland noch etwas zu sagen haben!
Mann der Arbeit, aufgewacht!
Und erkenne deine
Macht!
Alle Räder stehen still,
Wenn dein starker Arm es
will.
Nieder mit dem Krieg! Nieder mit der Regierung!
Hoch
der Massenstreik!
Quelle: „Aufruf zum Massenstreik“, in Ernst Meyer, Hrsg., Spartakus im Kriege. Die illegalen Flugblätter des Spartakusbundes im Kriege. Berlin, 1927, S. 183–85; abgedruckt in Wolfdieter Bihl, Deutsche Quellen zur Geschichte des Ersten Weltkrieges. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1991, S. 367–68.